PROLOG
NEW YORK 1900
»Ob sie verrückt ist?«, flüsterte Fanny Lubrano ihrem Vater zu. Er kam gerade von der alten Dame zurück, der er in einen Sitz im Bug des Kahns geholfen hatte.
Es war ein grauer Märztag, stürmische Böen wehten geradewegs vom Atlantik in den Hafen, und sogar im Schutz der Steuerkabine war es sehr kalt.
»Sie muss es sein, wenn sie mir hundert Dollar anbietet«, antwortete Giuseppe. Auf seinem wettergegerbten Gesicht zeichnete sich Verwirrung ab. »Nur klingt sie überhaupt nicht verrückt!«
Bevor sie sich fertig machten, den Hafen zu verlassen, schauten sie durch die Fenster der Steuerkabine zu der alten Dame hinüber. Gehüllt in ihren Pelzmantel, auf dem Kopf den passenden Hut, hatte sie den Stil und die Selbstsicherheit reicher Frauen von der Fifth Avenue. Doch war es recht unwahrscheinlich, dass eine solche Dame mit einem alten Kahn durch die New Yorker Bucht schippern wollte.
Fanny fand, die Dame war für ihr fortgeschrittenes Alter viel zu modisch gekleidet, und ihre zierlichen, seitlich geknöpften Schuhe waren für eine Bootsfahrt wohl auch nicht ganz angemessen. Giuseppe sorgte sich eher, weil sie ganz allein unterwegs war, und fand auch ihre angespannte Haltung und die Art, wie ihre Blicke das Wasser fixierten, äußerst seltsam.
»Was ist, wenn sie wirklich verrückt ist, Pa, und ihre Verwandten sie schon suchen?«, fragte Fanny plötzlich. »Ich habe zwar gesehen, wie sie aus einem schicken Wagen ausgestiegen ist, und gehört, wie der Fahrer zu ihr gesagt hat, er würde auf sie warten, aber wenn sie sich erkältet, gibt man sicher uns die Schuld.«
Giuseppe schob seine Kappe zurück und kratzte sich die Stirn. »Wenn wir sie nicht mitnehmen, wird es ein anderer tun und sie vielleicht auch noch ausrauben. Außerdem scheint sie genau zu wissen, was sie will, und kennt sich auch mit der Bootsfahrt aus. Fragte mich, wie lange ich schon im Hafen arbeite, wollte auch was über dich wissen und wo wir wohnen. Verdammt, Fanny, wir sollten ihren Wunsch erfüllen! Sie war ja auch sehr freundlich, aber vielleicht hätte ich ihr Geld besser nicht genommen. Hundert Dollar sind viel zu viel.«
Fanny musste lächeln. Zwar wirkte ihr Vater etwas schroff, aber er hatte ein gütiges Herz. Alte Leute, Kinder und Menschen in Not gingen ihm immer nahe. Sie hielt schon lange nicht mehr nach, wie viel Geld er an seine Brüder und Schwestern verlieh, das dann ohnehin nie zurückgezahlt wurde. Dies war einer der Gründe, warum sie beide immer noch in einem überbesetzten Mietshaus in der East Side wohnten.
»Der Pelz hat sicher mehr gekostet, als wir in ein paar Jahren verdienen können.« Fanny zuckte mit den Schultern. »Wir haben sie ja nicht um so viel Geld gebeten, oder? Sie hat es selbst angeboten. Deshalb setzen wir jetzt besser ein fröhliches Gesicht auf und legen ab, bevor sie es sich anders überlegt.«
Als der Kahn am geschäftigen Kai entlangtuckerte, atmete die alte Dame tief die rauchige, nach Fisch riechende Luft ein, die so lebendige Erinnerungen in ihr weckte. Achtundfünfzig Jahre waren vergangen, seit sie als Siebzehnjährige hier angekommen war. Zwei Jahre war sie geblieben, bevor es sie weitergezogen hatte, und seit damals hatte sich die Stadt dramatisch verändert. In ihrer Zeit war die South Street mit eleganten Segelschiffen angefüllt gewesen, deren Bugspriet halb über den gepflasterten Weg reichte, und trocknende Segel hatten im Wind geflattert und geraschelt. Die Warenhäuser, Lebensmittelläden, Gasthäuser und Unterkünfte für Seefahrer waren damals größtenteils wacklige Holzgebäude gewesen, die kreuz und quer gestanden hatten. Heute wurden die Schiffe hauptsächlich mit Dampf betrieben, die Gebäude aus gutem, stabilem Backstein gefertigt - nur der Geruch, die Geräusche der rollenden Wagen, das Rufen der Seemänner und Stauer hatten sich nicht verändert.
Überall in Manhattan zeigte sich der Wohlstand. Auf Flächen, die sie noch als Ackerland kannte, reihte sich jetzt Straße an Straße mit eleganten Backsteinhäusern. Es gab Gebäude, die so hoch waren, dass sie einen steifen Hals vom Hochschauen bekam. Bürgersteige waren jetzt befestigt und die Wege gepflastert. Die Leute fuhren mit Bahnen durch die Straßen, und man sprach sogar davon, eine Untergrundbahn zu bauen. Es gab hohe Gebäude mit Geschäften, die man nun Kaufhäuser nannte und die alles vom Pelzmantel über Teppiche bis zu einer Länge Gummiband oder einem Satz Knöpfe verkauften.
In ihrer Zeit war der Central Park sumpfiges Ödland gewesen, und die ärmsten der irischen Arbeiter, die das Croton Aqueduct gebaut hatten - dieses Wunder, das geklärtes Wasser in die Stadt brachte -, hatten dort in elenden Hütten mit ihren Schweinen und Ziegen gehaust. Sie fand den Park wundervoll und war froh, dass die Städter etwas wirklich Schönes hatten, wohin sie flüchten konnten, aber die neue Brooklyn Bridge fand sie noch herrlicher. Während der Park ein reines Wunder der Natur war, war die Brücke von Menschen geschaffen worden. Bauplanung und Kunst hatten Hand in Hand gearbeitet, um etwas wirklich Wunderschönes, zerbrechlich Scheinendes entstehen zu lassen. Dennoch widerstand die Brücke den Elementen und dem starken Verkehr. Sie war nicht traurig, dass die Stadt nicht mehr derjenigen ähnelte, in der sie vor über einem halben Jahrhundert angekommen war. Schließlich war auch sie nicht mehr das aufgeregte, neugierige Mädchen, das sich in den ehrlichen, aufdringlichen und dreisten Überfluss der Stadt verliebt hatte.
Sie schaute zur Steuerkabine hinüber, als sie schallendes Gelächter von dort vernahm. Es freute sie, den Bootsbesitzer so fröhlich mit seiner Tochter arbeiten zu sehen. Vielleicht lachten die beiden über sie, aber selbst der Gedanke störte sie nicht.
Sie hatte dieses spezielle Boot aus reiner Sentimentalität für ihre Reise gewählt. Wie ihr eigener Vater, der Fährmann auf der Themse gewesen war, war auch Giuseppe Witwer und arbeitete mit seiner Tochter zusammen. Als sie die freundlichen, offenen Gesichter der beiden gesehen hatte, hatte sie die Summe des Geldes, das sie ursprünglich hatte zahlen wollen, verdoppelt. Das Geld würde ihnen eine zusätzliche Mahlzeit bescheren, und vielleicht konnte sich das Mädchen ein neues Kleid kaufen. Sie konnte sich nur zu gut erinnern, wie sehr sich junge Mädchen nach etwas Luxus sehnten.
Als sie in die Stadt gekommen war, hatte es hier noch nicht so viele Italiener gegeben. Die meisten Immigranten waren Engländer, Iren und Deutsche gewesen. Nach achtzehnhundertfünfundvierzig allerdings waren Italiener, Polen, Russen, Juden und Angehörige vieler anderer Nationalitäten zu tausenden in die Stadt geströmt. Jede Nationalität hatte ihre eigene Besonderheit beigesteuert und den Charakter der überfüllten Stadt geprägt.
Allerdings sprach Giuseppe nicht mit italienischem Akzent, er musste also hier geboren sein, und vielleicht war seine Mutter Holländerin oder Deutsche. Dies würde seine blauen Augen und sein helles Haar erklären. Seine Tochter, er sagte, sie heiße Fanny, erinnerte sie an sie selbst als Siebzehnjährige: volles blondes Haar, Augen so blau wie Vergissmeinnicht und ein ähnlich standhafter Blick, der dem Gegenüber jeglichen Unfug austrieb. Es war ein wenig seltsam, dass sie Männerkleidung trug, aber sie vermutete, ein langer Rock sei auf einem Boot wohl eher unpraktisch. Außerdem hatte sie selbst früher hin und wieder Männerhosen getragen. Im Jahre achtzehnhundertneunundvierzig war es in einer Stadt im Westen, wo trunksüchtige Goldsucher ihr Glück suchten, wenig ratsam gewesen, besonders weiblich auszusehen.
Als das Boot sich der Staten Island Ferry näherte, begann ihr Herz schneller zu schlagen, denn unmittelbar dahinter lag die State Street, wo sie gewohnt hatte, nachdem sie hierher gekommen war. Traurigerweise hatten die schiefen kleinen Holzbauten und einige Häuser der Gründerzeit den neuen Kaufhäusern und Büros weichen müssen. Nur wenige Menschen lebten heute noch in diesem Viertel, die meisten waren weiter ins Innere der Stadt gezogen. Die Wall Street war jetzt eine Straße der Banken und Finanzinstitutionen. Die Trinity Church, an die sie so viele Erinnerungen hatte, lag mittendrin und war eines der wenigen übrig gebliebenen alten Gebäude. Sie fand es schade, dass der elegante Turm der Kirche bald von den riesigen Gebäuden überragt werden würde, welche die New Yorker offenbar so liebten. Aber Amerikaner schienen grundsätzlich nicht sentimental mit historischen Plätzen verbunden zu sein.
Castle Clinton sah jedoch immer noch ziemlich wie früher aus, obwohl es zu ihrer Zeit eine Insel gewesen war, die vom Land aus über eine Brücke zu erreichen gewesen war. Man hatte schon vor Jahren der See einiges an Land abgerungen, indem man sie tonnenweise mit Schutt und Geröll angefüllt und anschließend begrünt hatte. So war damals der Battery Park entstanden. Zwischenzeitlich war Castle Clinton die Ankunftsstation für Immigranten gewesen, heute beherbergte es ein Aquarium. Achtzehnhundertzweiundvierzig jedoch war es eine Konzerthalle gewesen, umgeben von einem kleinen Park, und dort hatte sie Flynn O'Reilly das erste Mal getroffen.
Sie schloss ihre Augen für einen Moment und dachte an seinen ersten Kuss. Seltsamerweise spürte sie nach all den Jahren immer noch genau seine Magie und erinnerte sich an die emotionalen Turbulenzen, die er damals ausgelöst hatte.
»Ich frage mich, was wohl geschehen wäre.« Sie hatte laut gedacht.
»Wem wäre was geschehen, Ma'am?«
Sie war erschrocken, als sie das junge Mädchen wahrnahm, das neben ihr saß und sie fragend anschaute. Aber sie schämte sich nicht. Sie empfand es als...