Schweitzer Fachinformationen
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Für viele gehört es zur Wissenschaft, dass sie langweilig daherkommt, in der tristen grauen Prosa des Jargons, und nach dem Staub von Bibliotheken riecht. Für mich liegt der Wert eines Textes in seiner Lebendigkeit, seiner Ausgewogenheit und Präzision. Es wird mir gewiss nicht gelingen, Heidegger wieder zum Leben zu erwecken, so weit reicht die Macht des Wortes nicht. Ich möchte aber den Eindruck vermitteln, dass er tatsächlich gelebt, gefühlt und gedacht hat, dass er wie andere auch vom Strudel der Geschichte erfasst wurde. Meine Einbildungskraft wird nur auf dem Pfad, den das historische Denken vorzeichnet, freien Lauf bekommen. Aber ich werde gerne auf seriöse Kleidung verzichten, den Mantel des Malers anziehen und zum Pinsel greifen, denn eine Biographie zeigt uns, so historisch sie auch angelegt sein mag, das Porträt eines Menschen.
Es ist das wechselnde Porträt eines Menschen in physischer wie in geistiger Hinsicht. Heidegger wuchs heran, ohne jemals groß von Gestalt zu werden, und sein Körperbau wurde im Laufe der Jahre zunehmend gedrungener. Sein Gesicht näherte sich immer mehr dem Oval seiner Mutter an und seine Nase wurde länger, sein Blick war durchdringend und doch auch ausweichend. Er ließ sich einen Schnurrbart wachsen, den er auf ein Quadrat zusammenstutzte, als der Führer das Mode werden ließ. Sein Porträt weist im Lauf der Zeit widersprüchliche Züge auf, seine Persönlichkeit ist keineswegs einheitlich: Erst glaubte er, die katholische Wahrheit zu besitzen, wurde dann aber immer mehr zum Feind Roms; der Freund und Geliebte von Juden und Jüdinnen wollte gegen die "Verjudung" Deutschlands ankämpfen. Manchmal trägt das Porträt rührende Züge, etwa wenn der Mesnersohn mit seinem Bruder die Glocken seiner Geburtsstadt läutet; oft ist es freilich zweideutig: Er war ein aufmerksamer Leser und ein geschickter Redner, der es auch verstand, seinen Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass er sich für ihn interessierte, ihn bewunderte, ja Freundschaft oder gar Liebe für ihn empfand, und dann war er wieder voller Verachtung, verlogen und egozentrisch. So viel er las und Kontakte pflegte, so wenig neigte er zum Handeln. Im Wesentlichen verbrachte er sein Leben damit, zu reden oder zu schreiben, Vorlesungen zu halten und unterschiedliche philosophische Texte zu verfassen sowie zahllose Briefe. Er fuhr Ski, trieb Wassersport und wanderte gerne. Für seine Söhne hatte er nur wenig Zeit übrig, dafür war seine Liebe zu Frauen umso größer, sehr zum Leidwesen der eigenen. Hegel fand, die Biographie rühre an das Universelle mit Ausnahme dessen, was an ihr nur affektiv, "gemütlich" 1, ist, wobei es freilich schwierig, wenn nicht ausgeschlossen ist, reinem Affekt zu begegnen; jedes Gefühl erhält seinen Sinn durch eine geistige Konstruktion, die aus einer bestimmten Zeit, einem gesellschaftlichen Umfeld und dem mehr oder weniger einmaligen Bewusstsein eines Individuums hervorgegangen ist. Dies wird sich auch am Beispiel Heideggers zeigen lassen, bis hin zu seiner Sexualität. So führt die Biographie zurück zur Geschichte; sie tut das auf verschlungenen Wegen, die man nicht einfach abschneiden kann, sondern denen es zu folgen gilt.
Die Geschichte ist nirgends festgeschrieben. Sie wird es erst durch den Historiker, der seine Fragen stellt, seine Quellen befragt, seine Methoden anwendet und, indem er sich einer ernsthaften Textproduktion widmet, seine Vorstellungskraft in die engen Mauern des Gewesenen und dessen, was die Spuren der Vergangenheit ihm zu schreiben erlauben, zwängt. Wenn er sich vorstellt, was hätte sein können, so tut er das nur, um das tatsächlich Geschehene besser zu verstehen. Jedes neue Dokument erweitert den engen Raum, in dem er sich bewegt. Jede originelle Fragestellung eröffnet einen bis dahin unvorstellbaren Ausblick auf das, was er sieht. Der Historiker hängt ab von einem Rohmaterial, das er nicht einfach erfinden kann, das er aber mit den Werkzeugen seiner Zeit bearbeitet. Er muss sich damit abfinden, dass sein Werk nur eine mehr oder weniger kurzlebige Momentaufnahme einer ständigen und von einer Vielzahl von Autoren immer wieder neu begonnenen Bemühung ist, der Menschheit ihre Vergangenheit als ein anderes Präsens darzustellen, als Präsens, dessen weiteres Werden ungewiss und das doch bereits vergangen ist. Über Martin Heidegger zu schreiben, zwingt in ganz besonderer Weise zur Bescheidenheit. Dafür gibt es viele unterschiedliche Gründe. Da ist zum einen seine schwierige Sprache, zum anderen der Umfang seiner veröffentlichten Schriften, zu denen ständig neue hinzukommen, die immer neue Aspekte seines Denkens, seines Tuns und seiner Persönlichkeit enthüllen. Zu ihnen zählen etwa die Schwarzen Hefte, die seit einiger Zeit für Aufregung sorgen. Der Halbschatten, in dem der Philosoph bleiben wollte, um so die Rezeption seines Werks steuern zu können, weicht langsam zurück. Er wird nur so lange vorherrschen, wie noch Personen am Leben sind, die ein unmittelbares Interesse an seinem Fortbestehen haben; vielleicht werden seine Erben nach dem Generationenwechsel es wagen, allen Forschern den Zugang zu den Archiven in Marbach zu gewähren, in denen noch als kompromittierend geltende Dokumente lagern.
Ein Buch stiftet oft eine trügerische Kohärenz. Ein Manuskript voller Streichungen und tiefgreifenden Änderungen wirkt plötzlich wie aus einem Guss geformt und in einem Zug hingeschrieben und für das vorliegende gilt das in besonderem Maße. Dieser nunmehr geordnete, umgestaltete und von seinen Ungereimtheiten befreite Palimpsest enthält meine sukzessiven Fragestellungen im Hinblick auf den badischen Philosophen, die seit zwölf Jahren aufeinander folgten, und mit ihnen die Bilder, die wechselten, während das Werk insgesamt voranging. Am Anfang stand meine Verwunderung, dass man sich in den Philosophie-Vorlesungen, die ich in Versailles und mehr noch an der Sorbonne besucht hatte, die nationalistische Geschichtsbetrachtung Martin Heideggers zu eigen machte. Dieser wies seinem Volk, dem "metaphysischen Volk"2, dem "Volk des Dichtens und Denkens"3, die Aufgabe zu, nach dem lateinischen Mittelalter die griechische Philosophie zu neuem Leben zu erwecken. Dieser Gedanke wurde nie in den völkischen Kontext gestellt, dem er angehörte, den des Dritten Reichs, dessen Führer seinerseits vom "Volk der Sänger, Dichter und Denker"4 sprach. Zwar erschien es mir unwahrscheinlich, dass sich in der Heidegger'schen Geschichtsauffassung ganz platt das NS-Regime ausdrücken würde, für noch fraglicher hielt ich es aber, dass es überhaupt keine Verbindung geben sollte. Diese Verbindung aufzuspüren war ein ebenso spannendes wie behutsam anzugehendes Unterfangen, das eine gleichermaßen historische wie philosophische Herangehensweise verlangte. Die Frage nach Heideggers nationaler Zugehörigkeit und Patriotismus interessierte mich auch deswegen, weil sie in meinem Fall einem tiefen Bedürfnis nach Verstehen entsprang, das mit unserer Zeit und meiner Familiengeschichte verbunden ist. Während ein patriotisches Bewusstsein in Frankreich und in Westeuropa heutzutage nichts Selbstverständliches mehr ist, musste ich verstehen, auf welche Weise es in früherer Zeit das heroische Engagement gewöhnlicher Menschen wie etwa meines Großvaters auslöste, der sich als Jugendlicher zur Zeit der deutschen Besatzung dem Widerstand anschloss. Diese schwerwiegende Entscheidung begründete er später mit ein paar Worten von rätselhafter Einfachheit: "Die Deutschen waren in mein Frankreich eingefallen, da konnte ich nicht untätig bleiben." Die Beschäftigung mit dem Patriotismus eines Philosophen wie Heidegger hatte demgegenüber einen großen Vorteil. Sie lieferte eine Unmenge an Quellenmaterial, sodass der hartnäckige oder verwegene Historiker hoffen konnte, hier solidere Ergebnisse zu erzielen als im Fall eines einfachen Mannes, der nur wenig Schriftliches hinterlassen hatte.
Im Laufe meiner Forschungen gewannen meine Auffassungen an Genauigkeit und Tiefe. Schnell kam ich darauf, dass das Engagement einherging mit dem Patriotismus und dem Nationalismus. Zugleich war es durchaus paradox, denn abgesehen von der kurzen Zeit des Rektorats war Heideggers Bezug zur Politik von Distanz und Verachtung geprägt, es war der eines deutschen Hochschullehrers, der glaubte, eine höhere politische Wahrheit zu besitzen, eine wesentlichere als diejenige, die das tägliche Funktionieren eines modernen Staates bestimmte. Diese Wahrheit wollte er durch Wort und Schrift wirksam werden lassen. Diese drei Arten des Bezugs zum Politischen fasse und denke ich unter dem biographischen Gesichtspunkt zusammen. Und angeregt von meinem Untersuchungsgegenstand selbst, entschied ich mich dafür, das, was ich zu verstehen und nachzuzeichnen versuchte, "politische Existenz" zu nennen: Heideggers bewusste und unbewusste, seine rationale und zugleich von Affekten, Bildern, Leben erfüllte, kurz seine existentielle Art zu leben, zu handeln und sich seine polis vorzustellen, also seinen Staat, sein Volk, sein Gebiet, den Platz jedes Einzelnen innerhalb dieser politischen Gemeinschaft, und zugleich seinen Blick auf das, was über diesen Rahmen hinausgeht: die anderen Staaten, Europa, die Welt, die...
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