Schweitzer Fachinformationen
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Niemand würde heute noch glauben, dass Wantschos Schädel einst das Vorbild für eine Büste von Karl Marx gewesen ist.
Es war im Frühjahr 1962 in Ost-Berlin. Die Mauer stand seit einigen Monaten und Wantscho war zufällig auf eine Künstlerfete bei Rüdiger Kalmhäuser, einem Bildhauer, geraten. Mein Vater war einunddreißig Jahre alt und arbeitete als Psychiater und Neurologe in der Nervenklinik in Bernhausen an der Saale. Seit gut zwei Jahren lebte er in Deutschland. Ihn plagte das Heimweh nach Bulgarien. Er hatte dichtes welliges Haar, von solch tiefer Schwärze, dass es bläulich schimmerte. Er bürstete es sich sorgfältig aus der Stirn. Stets war er elegant gekleidet, immer trug er Anzug und Krawatte. Da er hinkte, benutzte er beim Gehen einen Stock. Ihn begleitete eine junge Frau, ein Mädchen noch, gerade zwanzig geworden: Rose. Mein Vater hatte sein Herz an ein deutsches Mädchen aus Sachsen-Anhalt verloren, eines mit hellblondem Haar und strahlend blauen Augen. Und dieses Mädchen hatte sich bis über beide Ohren in den dunklen melancholischen Bulgaren vom Balkan verliebt, der Arzt war, eine eigene Wohnung mit Telefon und Fernseher besaß und dazu noch einen Škoda, Baujahr 1957. Eine für die damalige Zeit unvorstellbare Anhäufung von Luxusgütern!
Der Bildhauer Rüdiger Kalmhäuser wurde von allen »Rosché« gerufen. Er lehrte an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee. Rosché war ein gut aussehender, großer Mann mit schulterlangen Haaren, dicken Koteletten und wildem Blick. Er trank gern irischen Whisky, den er sich über irgendwelche Kanäle aus dem Westen beschaffte. Er war ein Schwerenöter, ein verrückter Künstler.
»Schürzenjäger!«, nannte Rose ihn, »Frauenfänger!«, und in ihren Augen lag ein Glanz, der allerdings nicht Rosché, sondern Wantscho galt. Der lachte nur. Rosché war mit Christine zusammen, die er nur »Christín« rief. Christín war ein anmutiges Wesen, duldsam, sanft und belastbar bis zur Selbstaufgabe. Eine Muse mit einem langen geflochtenen Zopf, den sie seitlich trug und der ihr bis zur schmalen Taille reichte. Rosché und Christín hatten zwei Kinder und wohnten in einem Häuschen im Grünen, im Norden von Pankow. Doch die meiste Zeit verbrachte Rosché in seinem Atelier in Prenzlauer Berg. Hier arbeitete er bis tief in die Nacht, tagsüber schlief er auf der Couch. Auch mit anderen Frauen. Irgendwann hat er Christín und die Kinder sitzen lassen und ist in den Westen abgehau’n. Er soll heute in der Nähe von Dublin leben. Wegen des Whiskys. Aber das ist vermutlich Unsinn.
Damals jedenfalls, an jenem Abend, an dem Wantscho und Rose bei Rosché und Christín zu Besuch waren, wurde wie immer bei solchen Feten gesoffen, geraucht und lauthals diskutiert, über das Leben, die Liebe und vor allem über die Politik. Als sie die erste Flasche Whisky ausgetrunken hatten, stand Christín auf und schloss das Fenster. Als die Männer die zweite Flasche Whisky zur Hälfte geleert hatten, die Frauen waren bereits auf Kaffee umgestiegen (Westkaffee!), sagte Rosché zu Wantscho: »Genosse Nikolow, ich brauche deinen Kopf!«
Wantscho sah ihn fragend an.
»Du musst mir Modell sitzen!«
»Du machst Witze.«
»Ich soll eine Büste von Marx hauen. Für ein Hochhaus am Alex. Parteiauftrag!«
»Parteiauftrag?« Wantscho runzelte die Stirn. »Was für ein Hochhaus?«
»›Haus des Lehrers‹. H – d – L! Wird gerade gebaut. Von Henselmann.«
»Du bist ja völlig besoffen«, sagte Wantscho.
»Nein, nein«, rief Rosché, »die Büste soll im Foyer stehen, wenn das Haus eingeweiht wird.« Er sprang auf, wankte hinaus, ein kurzes Poltern war zu hören – und kam mit dem großen Flurspiegel zurück. »Du hast den idealen Kopf dafür. Groß und rund. Sieh her, wie mächtig dein Schädel ist!« Er hielt Wantscho den Spiegel vor. »Genau so brauche ich es.«
»Du hast wirklich einen Quadratschädel«, sagte Rose und zerwuschelte zärtlich Wantschos sorgfältig gebürstete Haare.
»Schaut mal, jetzt sieht er tatsächlich aus wie Karl Marx«, rief Christín und alle lachten. Alle außer Rose. Christín stand auf und holte eine neue Schachtel F6. Rosché öffnete eine Flasche Rotwein, der Whisky war alle.
»Was hast du denn, Rosi?«, fragte Rosché. Er sagte absichtlich »Rosi« zu Rose, weil er sie damit zu reizen hoffte.
»Hör mir bloß auf mit Marx und dem ganzen Mist!«
»So schlecht war der gute Karl doch gar nicht«, sagte Wantscho, der damals Mitglied der Kommunistischen Partei Bulgariens war und noch an die Sache glaubte. Doch Rose konnte er nicht überzeugen. Rose mochte keine Genossen und alles, was mit Sozialismus, Kommunismus und dem ganzen politischen Kram zu tun hatte, war ihr zuwider.
»Aber Modell sitzen darf mir der Wantscho schon?«, schmeichelte Rosché. »Auch wenn es um den Kopf von Marx geht?«
Und so kam es. Mein Vater saß Modell für Rosché. Der goss zunächst die Urform der Plastik in Gips, um anschließend aus einem riesigen weißen Alabaster-Block nach dem Vorbild von meines Vaters Schädel eine mächtige Karl-Marx-Büste zu hauen. Und die stand ganze fünfunddreißig Jahre lang im »Haus des Lehrers« am Alexanderplatz in Berlin-Mitte.
Anfang der Achtzigerjahre war ich mal dort und habe sie mir angesehen. Mit einem Tagesvisum besuchte ich Ost-Berlin. Niemand hinderte mich daran, das kastenförmige Hochhaus mit dem umlaufenden Fries zu betreten. Die Büste stand im Foyer, auf einem Sockel, links vom Eingang. Sie wirkte monströs und düster zugleich. Ich ging um sie herum. Stellte mich nah vor sie hin. Ich berührte den Mund, er glich dem meines Vaters. Ich strich über die Augenbrauen, es waren die seinen. Ich befühlte das steinerne Haar. Es war dicht, wellig und aus der Stirn gekämmt. Aber die Stirn? Die war viel zu hoch. Papas Stirn ist flach. Wie die seiner Mutter. Wie meine. Wie die meines ältesten Sohnes. Ich sah Karl Marx ins Gesicht, sein Blick war starr auf etwas in weiter Ferne gerichtet. Und mir fiel wieder ein, wie mein Vater einmal, am 1. Mai 1977, auf der Ehrentribüne gestanden hatte. Wir lebten damals noch in Nordroda in Thüringen und ich, der zwölfjährige Thälmann-Pionier, marschierte mit meinen Schulkameraden an der Tribüne vorbei. Als ich meinen Vater entdeckte, hüpfte ich in die Höhe, rief nach ihm und schwenkte die Winkelemente, die ich zu tragen hatte. Doch mein Vater sah mich nicht, stand reglos und starr auf der Tribüne wie jetzt die Büste hier auf ihrem Sockel.
Ich hatte meine Kamera in der Tasche, doch traute ich mich nicht, ein Foto von der Büste zu machen. Auf einem Schild, das am Sockel angebracht war, stand: »Rüdiger Kalmhäuser (1963)«.
Was ist aus der Büste geworden? Wurde sie nach der Wende zerstört, wie so viele Denkmäler und Symbole der Diktatur? Oder hat sie jemand gerettet? Lagert sie vielleicht irgendwo in einer Scheune, in einem Keller, in einem Garten? Um irgendwann wieder hervorgeholt zu werden? Für Filmarbeiten vielleicht? Oder im Zuge einer Nostalgiewelle?
In meiner Erinnerung erscheint mir die Büste riesig, monumental und kraftvoll. Ich werde sie suchen.
Ich will dich finden, Papa!
Deine Finger umfassen noch immer meine Hand. Du atmest ruhig und gleichmäßig. Ein und aus und ein und aus. »Das Wichtigste ist, dass du Luft holst«, hattest du mir erklärt, als ich klein war und große Angst vorm tiefen Wasser hatte. »Sieh mal, so!« Und dann bist du losgeschwommen. Wie sehr hast du das Schwimmen geliebt. Und das Meer. Weil du im Wasser schwerelos warst, beweglich wie ein Fisch. Und nicht versehrt. Im Wasser war es egal, ob dein linkes Bein gesund und kräftig war oder schmächtig und verkürzt. Du warst ein hervorragender Schwimmer. Oft habe ich dich dabei beobachtet, wie du aufs offene Meer hinausgekrault bist. Gleichmäßig hast du die Arme durchs Wasser gezogen, immer viermal und dann den Kopf nach rechts gedreht, um Luft zu holen. Nichts konnte diesen Rhythmus unterbrechen. Mama und ich blieben am Strand zurück. Du schwammst so weit hinaus, dass dein Kopf bald nur noch ein kleiner schwarzer Punkt am Horizont war. Ich saß aufrecht auf dem Handtuch und guckte. Nach einer Ewigkeit kamst du zurück. Abgekämpft, aber zufrieden.
Ich kann mich an meine Gefühle kaum mehr erinnern. Habe aber noch das Bild vor Augen: Papa humpelt lächelnd auf uns zu und schüttelt seinen Schopf wie ein Hund, der das Wasser loswerden will. Sein Körpergewicht lagert auf dem gesunden rechten Bein, in der Hüfte bildet sich ein Knick, eine Hautfalte. Richtig verwegen sieht mein Vater aus. Glücklich. Ich bin stolz auf ihn. Er hat einen so wohlgeformten Oberkörper und ein so schönes rechtes Bein.
Geschwommen ist Papa nur im Sommer. Im Urlaub. Und Urlaub bedeutet für mich bis heute: Ans Meer fahren! Jeden Sommer meiner Kindheit verbrachten meine Eltern und ich am Schwarzen Meer, in Bulgarien. Dafür mussten wir zweitausend Kilometer überwinden. Von unserer Heimatstadt Nordroda, in Ostdeutschland, bis nach Lom an der Donau, wo meine Großmutter und mein Großvater, Baba Sneza und Djado Christo, wohnten. Überwinden ist das richtige Wort! Die Strecke fuhren wir mit dem Auto. Wir brauchten dafür drei Tage. In den Sechzigerjahren saßen wir in einem weißen Škoda, in den Siebzigern in einem gelben Wartburg. Ohne besonderen Fahrkomfort. Anfangs gab es noch keine Anschnallgurte, keine Nackenstützen und eine Klimaanlage schon gar nicht. Wenigstens hatte der Wartburg dann ein Radio. Immer stank es nach Benzin und nach den Zigaretten, die meine Eltern rauchten. Mir wurde oft schlecht. Die Hitze war unerträglich. Die Fenster durften beim Fahren nicht geöffnet werden, weil Papa Angst hatte,...
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