Schweitzer Fachinformationen
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»Bonjour, Madame.« Es ist einer der Morgenkellner, in Hemd und Krawatte und mit fest gebundener Schürze.
»Bonjour, Julien. Comment ça va?«
Julien zuckt mit den Schultern; er ist Fatalist. »Café crème?« Er fragt jedes Mal, eine stehende Einladung für Kate, ihre Meinung zu ändern, etwas anderes zu bestellen. Aber sie tut es nie.
Hier auf dem Boulevard Saint-Germain ist kellnern keine Warteschleife, kein Job für junge Leute, die eigentlich versuchen, etwas anderes zu machen oder herausfinden möchten, was sie wollen, oder für Mütter, die morgens zu Hause sein müssen, oder Arbeitslose, kurz: für alle, die auf etwas Besseres hoffen. In diesem Café ist der Kellnerberuf eine Karriere, eine Bestimmung.
»Hast du alles bekommen, was du brauchtest?« Dexter zeigt auf den ausgebeulten Stoffeinkaufsbeutel, den Kate, wenn er leer ist, zu einem kleinen Paket gefaltet unten in ihrer Handtasche aufbewahrt.
»Nicht ganz. Könntest du noch Cocktailservietten besorgen?«
»Cocktailservietten?«
»Du weißt schon. So kleine quadratische Dinger.«
»Wo soll ich die denn finden?«
»Bestimmt in diesem Laden in der Rue Jacob.«
»Welcher Laden?«
»Der mit den ganzen Papierservietten im Schaufenster.«
Kate weiß, wo sie Dinge findet, wie sie Dinge tun muss, Leute kennenlernt, ein Leben hat. Hier in Paris hat sie alles versucht, um dazuzugehören. Damals in Luxemburg hatte ein Grund ihrer Unzufriedenheit darin bestanden, dass es dort nicht so war. Sie blieb auf Distanz, und nicht nur das - sie stellte sich über die Menschen, fühlte sich den ganzen anderen Hausfrauen überlegen, ihrer aggressiven Erziehung, ihrem fanatischen Nestbau, dem Konkurrenzkampf im Ausrichten von Festen. Sie hatte damals kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie all das ablehnte.
Aber diesmal nicht. Daher der Tennisclub, die Milchkaffees im Bistro neben der Schule, herumsitzen, nichts erreichen als irgendwo hinzugehen, nur, um irgendwo hinzugehen. Eine abgestimmte Kampagne, um Freundschaften zu schließen, Verbindungen aufzubauen, Ressourcen. Ein erfüllter Mensch zu sein, komplett mit allen Komponenten eines erfüllten Lebens.
Früher hat sie Leute zum Frühstück eingeladen - schnell, billig, kompatibel mit ihrem spät beginnenden Arbeitstag -, bis ihr klar wurde, dass Frühstück in Paris kein sozialer Anlass ist; die einzige vertretbare Frühstückseinladung ist tatsächlich eine, die man ausspricht, um in der Nacht vorher Sex zu haben. Also hat sie damit aufgehört.
Aber trotz ihrer größten Bemühungen musste Kate irgendwann zugeben, dass sie kein Elternteil sein wollte, das zu Hause blieb. Das machte sie wahnsinnig.
Vielleicht waren zwei Jahre nicht genug, um die folgenschweren Anpassungen, die umfassenden Neubestimmungen vorzunehmen. Vielleicht war sie in den zwei Jahren nicht geduldig genug, engagiert genug, flexibel genug gewesen. Wenn sie durchgehalten hätte - noch ein Jahr? Zwei? -, hätte sie vielleicht mehr Erfüllung und Freude, weniger Frust und Groll empfunden. Vielleicht hätte sie glücklich sein können als Vollzeitmutter, wenn sie es nur mehr und länger versucht hätte.
Das hat sie nicht. Stattdessen hat sie einen Teilzeitjob gefunden, so wie viele Frauen in ihrer Situation, Grafikdesignerin, Beraterin für soziale Medien, die Art von Position, die unerwartete Besuche beim Kinderarzt, regelmäßig am frühen Nachmittag endende Arbeitstage, lange, mit den Schulferien korrespondierende Urlaubszeiten und großzügig entschädigte Ehemänner ermöglicht.
Kates Arbeit ist allerdings anders. Wenn sie arbeitet, dann tut sie das manchmal außerhalb der Stadt, vierundzwanzig Stunden am Tag, und hin und wieder versuchen Leute, sie zu töten. Und es ist bergab gegangen, seit ihr Boss zu einer Mission nach Amerika aufgebrochen und verschwunden ist. Vermutlich tot, wie viele glauben.
Aber nicht Kate.
*
Als sie in die Arbeitswelt zurückgekehrt war, konnte Kate sich nicht mehr länger den Luxus von dreistündigen Mittagessen und Schlussverkaufsexpeditionen zu den grands magasins zur Entspannung leisten. Sie war in ihrem Milieu eine Seltenheit geworden: eine arbeitende Mutter, mit einem arbeitenden Ehemann. Ein Zwei-Karrieren-Haushalt.
Aber sie wollte sich auch nicht komplett zurückziehen. Die Gemeinschaft hatte ihr Befriedigung verschafft, eine normale Frau, die ihre Kinder zur Schule bringt, zu Abendessen einlädt, ihren Ehemann im Café trifft, genau das, was sie auch heute tut, ein regelmäßiges Leben führen, das Leben, das sie will, das alle wollen.
Kates Telefon brummt: eine Nachricht in einem Gruppenchat, das Hin- und Herschieben von Verantwortlichkeiten für eine Schulveranstaltung nächste Woche. Wie immer organisiert von Hashtag-Mutti. Kate kann nicht anders als sich zu fragen, ob die Popularität dieser Frau - hoffentlich - nur Einbildung ist, nichts anderes als die Projektion ihrer eigenen sozialen Ambitionen, ihre selbstverherrlichenden Posts gespickt mit einem Trommelfeuer von drei oder vier und manchmal bis zu zehn Referenzen, als wenn diese Frau eine Handgranate in ein Fass voller Hashtags geworfen hätte, das dann explodiert und wild durcheinander #Paris, #Herbst, #Samstage, #GesegnetesLeftBankLeben, #matin, #Mode ausspuckt, endend - immer - mit #Expat-Mutter.
Kate muss sich immer mal wieder selbst daran erinnern, dass Hashtag-Mutti nicht der richtige Name der Frau ist.
Es sind nicht wirklich die Hashtags, die Kate zermürben. Sie sind nur ein Symptom. Die Krankheit heißt überlegene Elternschaft - falsche Bescheidenheit und Name-Dropping und herablassende Ratschläge, die alle diesen Sturm von positiver Bestärkung durch Hashtag-Muttis sogenannte Freundinnen auslösen, hohle Bestätigungen und Bewertungen: Oh mein Gott, wie hübsch! Und: Du bist die allerbeste Mama!! Und: Stimme absolut zu!!!
Diese Beiträge beschuldigen Kate selbst, eine inadäquate #Expat-Mutter zu sein. Weil sie nicht alles dort ausbreitet, die Liebe zu ihren Kindern, ihren Stolz auf Kids und Ehemann, ihre gemieteten Villen, aufgepolsterten Stühle und Abenteuersafaris.
Kate ist nicht immun dagegen, eine perfekte Mutter sein zu wollen - ist irgendjemand das? Und diese ganzen Jahrgangsbestenreden-Hashtags erinnern sie daran, dass sie es nicht ist. Aber Kate sagt sich, dass das ja nicht Hashtag-Muttis Schuld ist. Außerdem sind Kates eigene Prioritäten weit folgenreicher als Likes in sozialen Medien.
Ihr Telefon brummt wieder: Weiß irgendwer, was die ganze Polizei soll????!!!!
Es sind nicht nur Hashtags, die Hashtag-Mutti mit draufgängerischer Großzügigkeit verwendet.
»Merci«, sagt sie zu Julien, als der ihren Kaffee bringt.
»Je vous en prie.«
Die Kellner hier kennen jeden aus der Familie, deren Lieblingskaffees oder bevorzugte Getränke am Abend. Sie sind Stammkunden, genau wie es einst Sartre und Camus waren, de Beauvoir und Brecht, Picasso, Joyce, Baldwin, Wright und Julia Child. Und jetzt Ben, Jake, Dexter und Kate, die Moores. Diese Kellner haben die Kinder wachsen und flüssig Französisch sprechen lernen sehen, Jake korrigiert nun Kates Aussprache - »Nein, Mami, es heißt rrhhhobbb-eh«, ein kehliger r-Laut, tief aus dem Hals, ein Geräusch, das Kate nie ganz hinkriegen wird.
Sie waren nach Paris gekommen, um ihre Wunden zu lecken, hatten irgendwie das Desaster in Luxemburg überlebt und waren sogar noch stärker daraus hervorgegangen. Oder vielleicht haben sie nur beschlossen, es vor sich selbst und einander so hinzudrehen. Wenn schon vor keinem anderen. Sie werden es nie schaffen, etwas davon zu erklären, niemandem. Es gab zu viele illegale Aspekte, geheime Operationen, die CIA, das FBI, Interpol, ein einziges Chaos.
Und vielleicht ist die Geschichte, die sie sich selbst erzählen, auch eine Lüge; vielleicht sind sie gar nicht stärker. Vielleicht tun sie nur so, weil es eben das ist, was man tut, so funktioniert Ehe, Leben: Du tust so, als wäre alles gut. Selbst im Angesicht überwältigender Beweise für das Gegenteil, einer Übermacht von Beweisen. Aber du verurteilst nur, wenn die Beweise alle vernünftigen Zweifel überwiegen. Die Last des Strafgerichts, nicht des Zivilgerichts.
Es ist immer noch möglich - es wird immer möglich sein -, dass Dexters Vergangenheit sich plötzlich anschleichen und ihn angreifen wird. Oder Kates.
Aber das ist nicht passiert, noch nicht. Ihr Leben ist friedlich. Also kommt Kate mit ihrem Mann in das Café und schaut Paris dabei zu, wie es vorbeispaziert, les hommes d'affaires in ihren schmal geschnittenen Anzügen und spitzen Schuhen und mit ihren Sieben-Tage-Bärten, die Frauen in ihren maßgeschneiderten Röcken und den geschickt geknoteten Halstüchern. Kate selbst trägt auch eins, gebunden nach Art der Pariser Frauen, etwas, das sie lernen musste.
Ihrer touristischen Liebe für die Stadt ist Kate inzwischen entwachsen, sieht nun klarer, was hier nicht stimmt. Sie liebt Paris noch immer, aber nun ist es eine reife Liebe, scharfsichtig, ohne Illusionen, ohne Fehlvorstellungen. Auch kein Mangel an Enttäuschungen, Groll und Kummer.
Ihrer Ehe nicht unähnlich. Jeder Ehe nicht unähnlich.
Noch eine Kolonne Polizeiautos kommt den Boulevard entlanggeschossen, und für ein paar Sekunden sehen alle ihnen...
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