Schweitzer Fachinformationen
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Juni 1992, östliche Herzegowina
Auf allen Vieren robbte Kreso vorsichtig über die Steine.
Das Tal lag im Dunkeln. Kein Mond beschien die Karstfelsen und Felder. Einzig das Feuer auf dem Veliki Lisac leuchtete durch die schwarze Nacht. Granaten hatten den Berg in Brand gesetzt. Flammen verzehrten das Gebüsch und die wenigen Bäume und verschonten nur das klamme Gras. Gebremst durch die Frühlingsfeuchtigkeit, aber ungelöscht würde das Feuer noch wochenlang schwelen, brannte es doch bereits den fünften Tag. Die glimmenden Wiesen warfen von oben ein zitterndes Licht ins Tal, als liege die ganze Gegend vor einem Kamin wie in der Weinbrandwerbung.
Nur ein warmer, rötlicher Schimmer beleuchtete die stockdunkle Nacht. Im Halbdunkel tastete sich Kreso vorsichtig voran, prüfte die Steine, über die er sich bewegte, und hielt alle paar Meter inne, um sich seines Standorts zu vergewissern. Er bewegte sich durch ein Minenfeld, sechs Reihen Tretminen, umgeben von zwei Reihen Springminen und, weiter den Hang hinunter, noch einige Stockminen, die über Stolperdrähte ausgelöst wurden.
Vor vier Wochen hatte er die Minen selbst gelegt, als es ihnen zum ersten Mal gelungen war, die Montenegriner von den hiesigen Steilhängen zu vertreiben. Die Lage der Sprengkörper wusste er auswendig und hatte sie zusätzlich auf einem ziemlich unordentlichen Zettel notiert. Den trug er bei sich, aber während er mit den Händen behutsam über die Steinmauer zwischen den Feldern strich, nutzte er ihm herzlich wenig.
Er blickte sich nach den anderen um. Mürrisch wie immer folgte ihm Slave, den Blick fest auf Kresos Fersen geheftet. Sie durchquerten ein Minenfeld, und der sicherste Weg zu überleben war der, in die Fußstapfen des Vordermanns zu treten - selbst wenn dieser nicht wusste, wo er hintrat. Auf Slave folgte, halbnackt und beladen mit einer Panzerfaust, der plumpe, schnaufende Gojo, dahinter der kleine Vinko, das Schlusslicht bildete Slaves Bruder Luka. Luka verwischte ihre Spuren, legte Steine aus den Trockenmauern wieder an ihren Platz und Grassoden auf Felsen und andere landschaftliche Besonderheiten, die als Orientierungspunkte hätten dienen können.
Die Landschaft war so verflucht eintönig. Immer dieselben eiförmigen Steilhänge mit vereinzelten Buchen und Eichen, zugewucherte Trockenmauern, Steine und Disteln. Kreso hatte die Orientierung verloren. Steinhaufen und Bäume, die er für unverwechselbare Anhaltspunkte gehalten hatte, unterschieden sich kaum voneinander. Übermüdet wie er war, bildete er sich mehrfach ein, Gestalten mit ausgestreckten Armen vor sich zu sehen, die sich dann als Bäume entpuppten. Schon bei Tag wirkte die Gegend wie ein schlechter Witz, hier zu leben war eine Strafe Gottes. Sie schien ihm wüst, unbarmherzig und hinterhältig, als wolle sie die Welt und die Menschen verhöhnen, ein böswilliges, nutzloses Geschenk Gottes. In dieser Landschaft hatte er Minen verlegt. Und jetzt, mitten in dieser Juninacht, warf eben diese Landschaft lange, schwarze Schatten und machte ihm das Leben schwer.
Es war noch nicht einmal Mitternacht. Mit einer hastigen Bewegung stützte Kreso sich ab und trat auf einen scheinbar fest im Boden sitzenden Stein. Da passierte es.
*
Das Flüssigkristall in Marko Gazdes Digitaluhr verteilte sich auf vier Stäbchen: 11:11. Er freute sich nicht besonders über diese Information, seine Wache dauerte noch fast eine Stunde. Noch fünfzig Minuten musste er neben Mobil- und Feldtelefon in einem der letzten unzerstörten Häuser im Tal von Stolovi ausharren. Dann würde er den Nächsten wecken, ihm warmen Tee anbieten, ihn neben die Telefone verfrachten und sich selbst mit dem Schlafsack ins ehemalige Kinderzimmer zurückziehen. Die Nacht war so ruhig, dass man den Krieg für kurze Zeit hätte vergessen können. Draußen war nur die schwarze herzegowinische Nacht. Der Krieg war im Raum. Überall, wohin Marko Gazde den Blick richtete. Er sah ihn neben Kreuzworträtseln und Westernheftchen auf seinem Tisch, im Feldtelefon, dessen Drähte sich durch den Schutt schlängelten und im Mobiltelefon, neben dem eine in Plastik verschweißte Nummernliste lag. Er sah ihn im ganzen Raum: ordentlich aufgehängte Tarnjacken, kistenweise Handgranaten unterm Bett, an die Wand gelehnte Kalaschnikows und die regungslosen, ruhenden Körper der Soldaten in den Schlafsäcken. Aber immerhin saßen sie in einem Haus, und draußen regte sich nichts. Hier drinnen brannte ein Feuer, in einem Zehnlitertopf simmerte Tee, und die Stille der Nacht füllte einen Raum, der früher als Keller oder, den verrußten Betonwänden nach zu schließen, als Räucherkammer gedient hatte.
Der Hauptmann beschloss, in zwanzig Minuten den kleinen Seselj zu wecken, der dann für den Rest der Nacht für die Telefone zuständig wäre. Es gab nicht viel zu übergeben. Die Nacht war mustergültig ruhig. Die Artillerie schwieg seit Einbruch der Dunkelheit und würde erst nach dem Frühstück wieder einsetzen. Aus den Stellungen am Hang hatte sich erwartungsgemäß keiner gemeldet. Gegen vier Uhr morgens würde Seselj die Jungs wecken, die die Mannschaften in den Stellungen auf den drei Hügeln, die sie hielten, ablösen sollten. Slave und Kreso ließen auch nichts von sich hören, das war auch besser so. Zur eigenen Sicherheit hatten sie die Funkgeräte gegen sieben Uhr abends ausgeschaltet, nachdem sie die vordersten Linien überschritten hatten. Gegen acht hatten sie die kroatischen Schützengräben hinter sich gelassen, hoffentlich unbemerkt von den Montenegrinern. Wenn alles wie geplant gelaufen war, hatten sie gegen neun den gegnerischen Panzer auf dem Roten Berg erreicht und das Gefährt aus nächster Nähe vernichtet, solange niemand darinsaß. Und jetzt konnte nur noch Gott ihnen helfen: Der Rückzug durch die feindlichen Linien konnte unmöglich im Voraus geplant werden. Sie würden gegen eins zurück sein, wenn sie es schafften.
Marko Gazde rekelte sich im Sessel, als in der Ferne ein dumpfer Knall ertönte, wie das Platzen eines Autoreifens. Der Hauptmann stand auf und trat vor das Haus. Draußen war es still.
Er überlegte, ob er Seselj sofort wecken sollte, wollte jedoch nicht, dass ihn der jüngere und rangniedrigere Soldat grundlos verängstigt erlebte. Stattdessen würde er die Stellung anrufen. Er wollte gerade den Hörer abheben, als das Telefon klingelte. »Einheit Schnurre«, meldete sich der Vorposten, ein dürrer Muslim, der noch nicht lange in Markos Zug war und dessen komplizierten Namen er vergessen hatte. Marko fand diesen Übereifer lachhaft. »Schnurre« war zwar wirklich der Deckname, aber das verkabelte Feldtelefon abhörsicher.
»Hast du es auch gehört?«
»Unterhalb von uns, auf der Wiese. Vielleicht ist ein Fuchs auf eine Mine getreten.«
»Halt die Augen offen und schau nach, ob deine Leute wach sind. Melde dich.«
Bevor er auflegte, hörte Marko einen neuen Knall, nicht näher, aber heftiger. Die Stimme am anderen Ende der Leitung überschlug sich.
»Das ist näher, näher und viel stärker. Mensch, so eine Scheiße! Das ist hundert Meter vor uns. Gib Alarm.«
Der Hauptmann weckte Seselj und die anderen. Sie hatten noch nicht einmal die Stiefel angezogen, da hörten sie über Funk, was sie auf keinen Fall hatten hören wollen.
Kreso würde diesen Film bis zum Ende seiner Tage noch viele Male abspulen. Sabotageaktionen konnten zwar gründlich danebengehen, aber nicht einen Moment hätte er gedacht, dass sich diese Nacht in sein Gedächtnis einbrennen würde, dass er die einschneidendste Erfahrung seines Lebens machen würde. Keinerlei Vorahnungen oder schlechte Vorzeichen, kein sechster Sinn. Nahezu übermütig war er zu dem abendlichen Ausfall aufgebrochen, das Adrenalin hatte seinen Kreislauf angeregt wie ein Glas Wein. Selbst wenn er ein Missgeschick in Erwägung gezogen hätte, der Pessimismus wäre bald verflogen, weil alles so reibungslos begann. Vom Abschalten der Telefone bis zum Roten Berg kamen sie ohne jeden Zwischenfall voran. Es war trocken, der Abend lange hell, und sie erreichten die montenegrinische Stellung innerhalb einer Dreiviertelstunde. Die Linien überquerten sie quasi im Spaziergang, zwischen zwei breit angelegten Unterständen, sauber und schnell. Nach Einbruch der Dunkelheit passierten sie ein niedergebranntes bosnisches Dorf und stiegen auf den Berg. Das Problem war nur, dass der Panzer nicht mehr an der erwarteten Stelle stand. Der T-84 feuerte seine Granaten aus ständig veränderten Positionen und wurde abends eingegraben, immer an derselben Stelle. Heute wollten sie ihn zerstören, aber er war weg.
Da begann die Scheiße und begrub ihn unter sich wie eine Lawine. Zuerst verknackste sich Vinko beim Rückzug den Knöchel und schleppte sich mehr schlecht als recht den Berg hinunter. Bis sich die Dinge unwiderruflich zum Schlechten wendeten, waren alle bereits völlig entnervt. Nachdem sie die Talsohle erreicht hatten, übertrug sich Kresos Unsicherheit auf die anderen; er fand die unverminte Schneise nicht.
»Wir sitzen in der Falle. Keine Ahnung, wo wir sind. Wir müssen weiter durch das Minenfeld. Das ist wirklich ganz große Kacke«, sagte...
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