Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Für Terrence Malick
Am dreizehnten März erschien ein Militärkurier an unserer Haustür in Trogir. Meine Mutter hatte ihren Kaffee gerade zur Hälfte getrunken. Sie öffnete, und er übergab ihr einen weißen Zettel mit Siegel. Damit begann für mich die Verteidigung der Heimat.
Der Zeitpunkt war denkbar schlecht. Für so etwas wie die Mobilisierung gibt es natürlich keinen wirklich günstigen Zeitpunkt, doch in meinem Fall kam die Einberufung im absolut falschen Moment. Denn an diesem Morgen, als der Kurier meine Mutter beim Kaffeetrinken unterbrach, war es fünf Jahre her, dass ich in Kasteli den Kiosk eröffnet hatte, einen kleinen bescheidenen Laden, in dem ich Eis, Zeitungen und Strandbedarf verkaufte. Kurz zuvor hatte ich noch größere Ladenräume angemietet, etwas weiter unten an der Uferpromenade. Ich hoffte, mit dem Verkauf von Keramikfliesen die erste Million zu verdienen. Die Pakete mit den italienischen Fliesen warteten schon beim Zoll, als der Zettel ins Haus flatterte.
Ich erinnere mich noch gut an diesen Morgen. Seit acht in der Früh hatte ich die Wände des neuen Ladens gestrichen. Als die Zweiuhrnachrichten begannen, machte ich Pause, wusch Pinsel und Rollen aus und ging nach Hause zum Mittagessen. Mutter zeigte mir den Zettel gleich an der Tür, und noch dort dachte ich: ein wirklich ungünstiger Zeitpunkt.
Um halb acht zeigten sie in den NAchrichten das brennende Sibenik, in Zadar und Zupanja waren alle vor dem Granatenbeschuss in die Luftschutzbunker geflüchtet. In Bosnien schien der Krieg kurz vor dem Ausbruch zu stehen. Ich jedoch dachte nicht daran, was ich der Heimat schuldete, dachte nicht an unsere Trikolore, meine Heimat, unsere Schöne. Ich dachte daran, dass ich die ganze Zeit die Miete für beide Ladenräume bezahlen musste, und die an der Uferpromenade war verdammt hoch. Ich dachte, dass die kleine Zeljka, die nachmittags im Kiosk arbeitete, in die eigene Tasche wirtschaftete und ich sie noch immer nicht erwischt hatte. Ich dachte daran, dass die Fliesen bleiben würden, wo sie waren, beim Zoll. Die Einberufung kam im ungünstigsten Moment, und bei uns ist es nicht wie in der Großstadt. Wenn du hier der Einberufung nicht folgst, spricht sich das herum, die Leute reden und zeigen mit dem Finger auf dich.
Auf der Einberufung stand, ich müsste mich in Split im Mobilisierungszentrum einfinden. Es stand keine Uhrzeit dabei, nur ein drohendes SOFORT und ich solle nicht mit dem eigenen Auto kommen. Mutter bat meinen Onkel, mich nach Split zu fahren.
Eine Viertelstunde später fuhr mein Onkel in seinem Stojadin vor. Ich hatte in der Zwischenzeit gepackt, hatte Rasierapparat, Zahnbürste, Taschenmesser, Dosenöffner und ein Mortadellasandwich in die Tasche gestopft. In der anderen Hand trug ich den Schlafsack und legte alles in den Kofferraum des Stojadin. Er müffelte nach Terpentin und Öl.
Das Gebäude in der Sukosanska hatte eine große, von Granatsplittern durchlöcherte Toreinfahrt. Der Onkel machte vor der Einfahrt den Motor aus und legte mir die Hand auf die Schulter. Ich schaute ihn an, dann das Tor, schließlich verabschiedete ich mich und stieg aus. Ich musste allein weiter, ab hier konnte der Onkel nichts mehr tun.
*
Der Korridor der Kaserne war voller nervöser junger Kerle. Sie waren leicht als Jungs aus der Stadt zu erkennen: mit Ohrringen, gefärbten Haaren und T-Shirts von Diesel. Sie machten weiter einen auf großer Macker und schienen doch aufgewühlt wie Seelen im Fegefeuer. Gestern noch hatten sie Nachrichten geschaut und getönt, sie würden denen auf der anderen Seite auf ihre serbische Mutter scheißen. Jetzt war alles anders, jetzt ging es um sie.
»Ein Waffenstillstand käme jetzt gut«, sagte der Typ neben mir und bot mir einen Kaugummi an. Er war hübsch, auf dem Kopf eine gelbe, wuschelige Mähne. Ich nahm den Kaugummi nicht, sonst hätte ich sofort gekotzt.
»Ich bin Edi«, sagte der Gelbschopf.
»Dino«, sagte ich und gab ihm die Hand.
Ein Schreiberling sammelte die Einberufungsbefehle ein und schrieb unsere Namen in ein Buch. Man führtte uns in einen Raum, der wie ein großes Klassenzimmer aussah. Nach einer elendig langen Zeit, betrat ein Offizier den Raum und das Gemurmel erstarb.
Die Rangabzeichen auf seinen Schultern waren ein dichtes Gestrüpp goldener Sternchen, das ich nicht deuten konnte. Die nagelneue Uniform, in die er sich gezwängt hatte, verbarg seinen dicken Bauch. Er begrüßte uns und wir glotzten ihn schweigend an.
»Damit wir uns verstehen«, sagte er. »Das hier ist keine militärische Übung. Kein Manöver und auch keine Reserveübung. Das ist der Krieg.«
Das sagte er und ein heißer Schmerz durchfuhr meinen Bauch, als zöge jemand einen Draht durch meinen Blinddarm.
»Ihr wollt wissen, wohin es geht«, sagte er. »Es geht ein ganzes Stück nach Süden, in die Nähe von Dubrovnik. Der Ort heißt Hutovo, sucht ihn nicht auf der Karte, ihr werdet ihn nicht finden. Draußen stehen Busse, die bringen euch hin. Mehr habe ich euch nicht zu sagen.«
Dann ergänzte er: »Viel Glück. Denkt dran, einige von euch werden nicht zurückkommen, aber die meisten schon.«
Ich blickte durch den Raum. Alle hatten die Hosen gestrichen voll. Der Dicke hatte zu uns gesprochen, als wären wir erbitterte Konkurrenten - um einen gutbezahlten Job oder bei einer Aufnahmeprüfung.
Vor dem Gebäude standen tatsächlich Busse. Es wimmelte vor Männern in Uniform - Offiziere, Militärpolizisten. Ein unrasierter Fahrer stand neben seinem Jeep und rauchte. Edi trat zu ihm.
»Wir sollen in irgend so ein Hutovo. Wie ist es dort? Schlimm?«, fragte er. Der Unrasierte zertrat seine Kippe.
»Alles die gleiche Scheiße«, sagte er, »genau die gleiche Scheiße.«
Wir stiegen in die Busse. Sie waren alt und bunt, weiß Gott, in welchem bankrotten Unternehmen sie beschlagnahmt worden waren. Ich saß auf meinem Sitz und blickte auf Edis gelben Scheitel.
Ich erinnerte mich, was der Dicke gesagt hatte. Einige von euch werden nicht zurückkommen, aber die meisten schon.
Ich dachte die ganze Zeit daran. Die einzig wichtige und letzte Frage war: Auf welcher Seite würde ich stehen, wenn die Linie gezogen wurde?
Wir übernachteten in einem Dorf an der Neretva, schliefen in einer Schule am Flussufer, umspült von schlammigem Wasser. Wie die Schule war das ganze Dorf umgeben von Tümpeln und Flussarmen, feucht und schmutzig. Um uns herum vermoderten Flussboote, Stechmücken stiegen am Abend in Schwärmen auf, und das Wasser wurde zäh und dunkel wie flüssiges Pech.
In der Dämmerung brachten sie uns mit Pinzgauern ins Dorf. Die Kinder umringten uns und starrten uns an: Soldaten oder Zivilisten? Soldaten, doch ohne Uniform. Die Kinder stanken nach Morast. Sie waren überzogen von einer porösen Schicht getrockneter gelber Erde. Später sahen wir die Erwachsenen. Sie hatten die gleiche Haut, schmutzig gelb unter dicken Schichten von getrocknetem Schlamm.
Wir schliefen in den Unterrichtsräumen auf dem Parkett. Ich wählte einen Platz unter einer Landkarte Asiens und öffnete meinen Schlafsack. Edi legte sich neben mich.
»Sieh mal, was ich hier habe«, sagte er und zog Karten hervor. Es war ein italienisches Blatt und wir spielten Briskula. Er spielte besser und schlug mich vier zu null. Ich hatte zweimal einen Trumpf übersehen.
Noch vor dem Morgengrauen weckte mich die Kälte. Der Unterrichtsraum roch nach schimmeligem und angesengtem Parkett. Draußen war es noch dunkel. Bei der Kälte hatte ich keine Lust, den Schlafsack zu verlassen. Ich starrte an die Decke und lauschte dem Atmen, Schnarchen und Pfeifen von dreißig Männern. Um vier Uhr vierzig hörte man draußen Motorengeräusche und Stimmen. Dann wurde es wieder still.
Nicht lange. Die Tür des Unterrichtsraums ging auf und jemand schaltete das Licht ein. Uniformierte kamen herein. »Guten Morgen«, sagte einer. Er trug einen Bart und eine Brille mit runden Gläsern. Er sah aus wie ein Bücherwurm, ein Philosophieprofessor.
»Steht auf«, sagte er, »nebenan gibt es Milchkaffee und Frühstück. Danach verteilen wir die Ausrüstung.«
Edi hatte einen unglaublichen Appetit. Er verdrückte drei Konserven Geflügelleberwurst und einen Viertellaib Brot. Ich trank nur Milchkaffee (in Wahrheit eine Brühe aus Kaffeeersatz mit Milch) und würgte einen Bissen Brotrinde hinunter. Als ich das Gebäude verließ, umwehte mich der Geruch von Morast. Ich spuckte die zerkaute Brotrinde aus und ging meine Ausrüstung holen.
Sie übergaben uns Uniformen, Gürtelzeug und Stiefel. Die Kleider rochen nach Autositzbezügen, und die Stiefel nach Leder. Danach bekamen wir Waffen.
Sie verteilten sie im Unterrichtsraum. Die automatischen Gewehre lagen harmlos auf einem mit Filz bezogenen Tisch. Wir trugen uns in ein Buch ein und nahmen jeder ein Gewehr. Als die Zeremonie vorüber war, standen wir eine Weile wie Trottel herum und hantierten ungeschickt mit dem neuen Spielzeug. Ich erinnerte mich, wie wir als Kinder Krieg gespielt hatten und mit Lorbeer- oder Maulbeerstöcken über den Hof...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.