Schweitzer Fachinformationen
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Eigentlich sollte die PATRIA schon am vierzehnten Januar von Santa Elena abgefahren sein, aber noch am sechzehnten Januar lag sie ein Stück außerhalb der Stadt, flußaufwärts, und lud Vieh: ein hölzerner Raddampfer, dessen Jungfernfahrt in der frühen Kindheit der ältesten noch lebenden Bürger Santa Elenas stattgefunden hatte - ein überaus schwerfälliges Monstrum, und doch für einen Raddampfer so lächerlich klein, daß einmal ein Nordamerikaner, der seine Jugend an den Ufern des Mississippi verbracht hatte, bei seinem Anblick in Gelächter ausgebrochen war.
Die PATRIA fuhr, soweit der Wasserstand des Rio Pardo es erlaubte, etwa zweimal im Monat zwischen den beiden fast gleich großen Städtchen Santa Elena und Boca Grande hin und her. Innerhalb der Landesgrenzen waren diese zwei Orte die größten Ansiedlungen an den Ufern des Flusses, der sich träge durch die Urwälder des Tieflands schlängelt, bevor er, sich dem großen Amazonas nähernd, in den Rio Andrade mündet.
Flußabwärts dauerte eine Fahrt drei, flußaufwärts vier Tage. Das gewaltige Heckrad beherrschte die PATRIA: bemoost, algenbehangen, von Muscheln und Schnecken behaftet, bewegt von der Dampfkraft aus dem Kessel, der sich auf dem Unterdeck hinter der Kombüse befand. Dieser Kessel wurde mit Holz geheizt. Das Schiff mußte mindestens dreimal am Tag an bestimmten Uferstellen anlegen, wo indianische Holzfäller Holzkloben zu stapeln pflegten, die sie dann, jedesmal unter zähem Feilschen, an die PATRIA verkauften. Neben dem Kessel wurden die Kloben aufgeschichtet. Umschichtig waren vier Heizer damit beschäftigt, den Kessel Tag und Nacht unter Feuer zu halten: Indios alle vier, angeblich Brüder - zähe, struppige, schmutzige Kerle, armselig bezahlt.
Vor dem Kessel, bugwärts, lagen Wand an Wand die halbdunkle Kombüse und die Kammer, in der die Reissäcke und das Trockenfleisch aufbewahrt wurden. Darüber, auf dem Oberdeck, klebte die nach vorn ausgebuchtete Brücke, die so winzig war, daß sich Kapitän und Zahlmeister gegenseitig behinderten, wenn sie sich zufällig darin trafen. An ihrer Rückfront, über den Kesselanlagen, hatte der Kapitän seine Kajüte. Sie wurde fast ganz ausgefüllt von einem riesigen Schreibtisch, über dem in vergoldetem Rahmen ein mit Fliegendreck besprenkeltes Bild des Staatspräsidenten in Galauniform hing. Nachts schlief der Kapitän in einer liebevoll bequasteten Hängematte, die, an mächtigen Haken befestigt, diagonal über dem Schreibtisch schaukelte.
Das Steuerrad befand sich vor der Brücke im Freien, weithin sichtbar, unter dem vorgezogenen Sonnendach.
Das Oberdeck war für die Passagiere der Ersten Klasse reserviert. In seinem Heck lagen zweimal je vier Kabinen, alle acht ausgerüstet mit einem Spind, einem Wandklapptisch, einem Spucknapf, Kleider- und Hängemattenhaken sowie einem übergroßen Spiegel. Die Hängematten mußten die Passagiere selbst stellen. Die Kabinen waren sehr schmal, aber so lang und hoch, daß drei Hängematten übereinander bequem anzubringen waren. Hinter den Kabinen gab es zwei Waschräume und zwei nach Geschlechtern getrennte Aborte.
Diese Aborte hingen rechts und links vom Schaufelrad. Sie waren unter der Sitzfläche offen: Was fiel, versank im Fluß. Somit erledigte sich die schwierige Frage der Wasserspülung von selbst. Allerdings konnte es bei ungünstiger Windrichtung geschehen, daß die Passagiere der Dritten Klasse im schadhaften Unterdeck-Abort trotz eines Schutzdachs aus Blech von oben benäßt oder beschmutzt wurden. Aber bei freundlicher Witterung verlief alles reibungslos, und stets folgte dem Dampfer unter dem Schweif grauen Qualms ein Schwarm von Fischen, die alles, was die PATRIA abwarf, gierig verschlangen.
Für die Besatzung gab es keine Kajüten. Sie schlief, wo sich gerade Platz fand. Tagsüber zogen sich jene, die nachts Dienst getan hatten, gern in die Trockenfleischkammer zurück. Dort störte sie niemand außer dem Koch. Oder sie krochen in den Stauraum hinab und schliefen zwischen der Fracht. Meistens aber, besonders nachts, knüpften sie ihre Hängematten vor Kombüse und Trockenfleischkammer an die hölzernen Säulen, die das Oberdeck trugen, und genossen, sanft über der Reling schaukelnd, die frische Brise.
Die PATRIA transportierte alles nur mögliche: Waren, Vieh und Passagiere. Die Waren wurden größtenteils im flachen Schiffsrumpf verstaut, in dem es von Ratten wimmelte. Auf dem Unterdeck hinter den Kesselanlagen drängten sich die Passagiere Dritter Klasse und das Vieh zusammen, gleichgültig, wieviel Vieh geladen wurde, denn das Vieh brachte mehr ein und hatte deshalb Vorrang.
In dunkelblauen Buchstaben prangte auf dem schmutzigweißen Bug der Name des Schiffes: PATRIA. Unter diesen Buchstaben konnte man noch deutlich den früheren Namen erkennen: LA GAVIOTA. Hätte man ihn weggekratzt, so wäre ein noch älterer Name zum Vorschein gekommen: VALENCIA. Aber nur die allerältesten Leute konnten sich erinnern, daß das Schiff bei seiner Jungfernfahrt einem Spanier gehört und VALENCIA geheißen hatte.
Am Vormittag des sechzehnten Januar lag die PATRIA vor dem Verladecorral von Santa Elena und lud Rinder aus dem Besitz des allmächtigen Arturo Troncoso. Das kam einem Volksfest gleich. Die Buben des Ortes hockten auf den Latten der Spalierzäune, die einen schmalen Gang vom spitz zulaufenden Pferch bis auf die Verladerampe bildeten. Rind um Rind mußte durch dieses Nadelöhr getrieben werden: sechs Zuchtbullen und sechzehn Kühe, die Zierde der Troncososchen Weiden, auserwählt für die landwirtschaftliche Ausstellung in Boca Grande, die als sehenswert galt und sogar viele Landwirte aus Brasilien herüberlockte.
Die Buben johlten und schlugen mit Stöcken und Zweigen auf die störrischen Zebus ein, die überallhin, nur nicht vorwärtsstrebten. Der Lärm hallte bis zum Stadthafen: das verzweifelte Muhen des Viehs, das Kindergeschrei, die Flüche der Viehtreiber hinter der Herde, das Geschnatter der fliegenden Händler und auf der PATRIA die schallenden Gesänge des Zahlmeisters.
Ein paar fliegende Händler hatten für ein paar Stunden den Hafen verlassen und waren mit Karren, Koffern, Bündeln und Bauchläden die kleine Viertelstunde am Flußufer aufwärts gewandert, obwohl es außer der halben Besatzung und den Viehtreibern weit und breit rings um die Verladerampe niemand gab, der ihnen etwas hätte abkaufen können. Aber was tat das schon. Es war unterhaltsam zuzusehen, wie sich die Zebus sträubten. Sie schnaubten und rammten ihre Hörner gegen die Zäune und stemmten sich gegen die anderen, die von hinten nachdrängten. Aber es half nichts: Die Schläge, die auf sie einprasselten, zwangen sie schließlich doch zu dem letzten Sprung auf die Planken des Unterdecks, wo sie sogleich von Lassos gebändigt und eng nebeneinander an die Säulen gekettet wurden.
Ach ja, es war schon ein Fest zuzuschauen, wie auch andere geschlagen, getrieben und gefesselt wurden! Und der Höhepunkt kündigte sich an, als ein starker Bulle am Ende des Ganges mit einer wuchtigen Kopfbewegung den Zaun durchbrach. Eine ganze Reihe Buben, die eng nebeneinander auf der obersten Latte gesessen hatten, purzelten kopfüber herunter. Zwei von ihnen fielen in den Gang und wurden von einem Melonenverkäufer im letzten Augenblick herausgezogen, bevor die nächsten Rinder nachdrängten.
Der Bulle rollte, von seinem eigenen Gewicht und Ungestüm überwältigt, den Hang hinab in das brackige Wasser zwischen Ufer und Schiffsrumpf. Es gelang ihm, schwimmend den offenen Fluß zu erreichen, bevor ihn jemand mit einem Lasso einfangen konnte. Halbnackte Kinder stürzten sich ins Wasser und umschwärmten ihn kreischend. Die Viehtreiber fluchten ihm nach, suchten verstört nach Booten. Die Matrosen johlten und pfiffen, die fliegenden Händler barsten vor Lachen. Der Bulle schwamm dem anderen Ufer zu. Die Kinder mußten von ihm ablassen, wenn sie nicht in die Strömung geraten wollten. Seelenruhig erklomm er die jenseitige Böschung, begann zu grasen und verschwand im Urwald.
Ein paar Viehtreiber setzten ihm, unter spöttisch-ermunternden Zurufen der fliegenden Händler, in einem Boot nach und verschwanden ebenfalls im Schilf und Gestrüpp des jenseitigen Ufers. Sie hatten allen Grund sich zu bemühen, den Bullen wieder einzufangen, denn er war sozusagen Troncosos Herzblatt, und außerdem war Troncoso wegen seiner Wutausbrüche berüchtigt. Erst im vergangenen Herbst hatte er einen seiner Hirten über den Haufen geschossen.
Die übrigen Viehtreiber lagerten sich nun, weiter landeinwärts, zwischen den Zäunen des Corrals. Ein Verbindungsmann blieb am Ufer sitzen mit der Weisung, beim Auftauchen des Bullen und seiner Bändiger Alarm zu schlagen. Aber er ließ sich nach hinten sinken und schlief ein in der Gewißheit, die Rückkehr des Bullen werde genug Lärm auslösen, um ihn zu wecken.
Als bis auf den entflohenen Bullen alle Rinder wohlvertäut an Bord waren, gab es auch für die Matrosen vorerst nichts mehr zu tun. Sie zogen sich in ihre Hängematten am Bug des Unterdecks zurück, wo auch schon die Heizer hingen und schnarchten. Die übrigen Besatzungsmitglieder hatten frei und waren in die Stadt gegangen. Der Zahlmeister, der zugleich so etwas wie Erster und einziger Offizier und somit Stellvertreter des Kapitäns war, hörte auf zu singen, übergab das Kommando dem ältesten Matrosen und schlenderte auch in Richtung Hafen davon. Die fliegenden Händler zerstreuten sich, die Kinder warteten noch eine Weile auf den entwichenen Bullen, aber als sich am anderen Ufer nichts rührte, trollten sie sich.
Stille und Schlaf umfingen jetzt die alte...
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