Schweitzer Fachinformationen
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Noris Luna wurde gezeugt, weil an einem Sonntag im April auf dem Rio Turbio eine Fähre ausfiel. Nur noch die uralte Julia fuhr schwerfällig von Ufer zu Ufer. Sie brauchte zwanzig Minuten zur Überquerung des Flusses und eine halbe Stunde, bis sie entladen und neu geladen hatte. Die Strömung machte ihr zu schaffen, denn das Wasser im Fluß stand hoch. An beiden Ufern stauten sich Reiter und Eseltreiber, Pferdefuhrwerke und Wagen, umschwärmt von Stechmücken und Straßenverkäufern. Über dem Fluß flimmerte die Luft vor Hitze.
Ein junger Geschäftsmann aus der Hauptstadt, ein gewisser Guido Soto Cascabel, mit einer blonden Strähne im Haar, weil seine Großmutter eine Deutsche gewesen war, starrte finster auf das andere Ufer, auf dem die große Stadt Providencia lag. Sie lag zum Greifen nahe, aber er wußte, daß er mit seinem Wagen noch zwei Stunden auf die Überfahrt warten mußte. Staubverkrustet, durstig und verschwitzt lümmelte er hinter dem Steuer und wedelte sich die Fliegen aus dem Gesicht. Er haßte dieses Küstengebiet, dieses unwegsame Tiefland, diesen Backofen. Es war ihm unbegreiflich, wie hier jemand auf die Dauer leben konnte. Und es war ihm vor allem unbegreiflich, wie der Mann, der neben ihm saß, in aller Ruhe schlafen, ja laut schnarchen konnte, ohne sich die Mücken aus dem Gesicht zu scheuchen. Nun ja, der war ein armer Teufel und an Mücken gewöhnt.
Schmutzige Kinder liefen hin und her und boten Wasser, Limonade und Bier an. Don Guido kaufte einen Eimer voll Wasser - es war trübes Flußwasser -, kletterte aus dem Wagen und schüttete es sich über den Kopf. Er triefte. Ein paar Zuschauer lachten. Andere machten es ihm nach.
Zu beiden Seiten der Straße, auf der eine hohe Staubschicht alle Spuren begrub, standen Bretterhütten Wand an Wand: buntgestrichene, aber verwitterte Hütten mit weit vorgezogenen Dächern, die Schatten warfen. In diesen Schatten tummelten sich Hunde, nackte Kinder und schwarzborstige Schweine, wiegten sich Männer in Schaukelstühlen, buken Frauen über offenem Feuer Maisgebäck, das ihre Kinder in Blechschüsseln oder flachen Körben den Wartenden mit schrillem Geschrei anboten.
Vor den Hütten wuchs kein Baum, kein Strauch, kein einziger grüner Halm, aber hinter ihnen wucherte feuchtes Dickicht, in dem es quakte und zirpte und in das die Mücken ihre Eier legten.
Don Guido blieb nicht lange naß. Je mehr er trocknete, um so mehr quälte ihn wieder die Hitze. Sein Wagen war erst bis zur fünften Hütte vorgerückt. Bis zum Ufer standen auf der rechten Straßenseite noch einundzwanzig, auf der linken noch sechsundzwanzig Hütten. Er zählte die Mücken, die er binnen einer Viertelstunde zu erlegen imstande war. Dann kaufte er drei Glas Limonade, obwohl er wußte, daß sie mit schmutzigen Händen und aus Flußwasser zubereitet worden war. Als sein Wagen die neunte Hütte erreicht hatte, stieß er eine Reihe von Flüchen aus, die er nicht von seinen Eltern gelernt hatte. Zwischen der zehnten und der zwölften Hütte war er damit beschäftigt auszurechnen, ob er mit der nächsten oder erst mit der übernächsten Ladung auf die Fähre käme, und kam zu dem Resultat, daß er noch Glück haben müsse, mit der übernächsten Ladung mitzukommen. Darauf trank er zwei Flaschen Bier.
Das hatte zur Folge, daß ihm die Negerin auffiel, die vor der zwölften Hütte Arepa buk. Sie war kein Kind mehr, aber noch schlank. Er kaufte ihr eine Arepa ab, an der er sich die Finger verbrannte. Sie reichte ihm ein Stück Zeitungspapier, das ihn vor dem heißen Fett schützen sollte, und lächelte ihn hintergründig an - so, daß sie sich nichts vergab, und doch so, daß er ihr sofort mit einer kleinen Geste antwortete, zu der sie nickte. Während sie in einem rostigen Kübel die Hände wusch und dann aus der Hütte eine alte Frau herbeirief, die weiterbuk, warf Don Guido schnell einen Blick auf die endlose Reihe der Wartenden. Die Julia legte eben ab. Es würde also noch eine Stunde dauern, bis sie wieder da war. Er trank noch schnell eine dritte Flasche Bier, um Abstand zu dem Schmutz zu bekommen, dem er begegnen würde, dann folgte er dem Wink der Negerin.
Hinter der Hütte in einem Verschlag, in den die Wildnis hineinwucherte, liebten sie sich auf dem bloßen Lehmboden, der wunderbar kühl war. Wohl stand da eine Art Bett mit ein paar zerrissenen Decken. Aber der Mann ekelte sich vor ihnen und zog die Frau deshalb hinunter auf den gestampften Lehm.
Sie zierte sich nicht. Sie begegnete ihm mit der größten Selbstverständlichkeit, und er merkte, daß sie nicht vom Arepabacken allein lebte. Ihre Kleider waren schmutzig, auch ihre bloßen Füße, aber sie schwitzte nicht. Sie roch nach frischer Arepa. Es ekelte ihn nicht vor ihr. Daß ihr vor ihm ekelte, verriet sie mit keiner Miene. Sie tat ihr Bestes. Er fragte nicht nach ihrem Namen und sie nicht nach seinem. Er sprach kein einziges Wort mit ihr. Nicht einmal bei dem Kauf der Arepa war ein Wort zwischen ihnen gefallen. Er hatte nur den Daumen hochgereckt: eine Arepa! Die bezahlte er zusammen mit dem Aufenthalt in dem Verschlag, mit einem Geldschein, der ihm reichlich genug für beides erschien. In angeheitertem Zustand pflegte er großzügig zu sein.
Er zahlte gleich, nachdem er Noris gezeugt hatte. Dann streckte er sich auf dem Lehmboden aus und schlief ein. Hier gab es nicht einmal Mücken. Nichts störte ihn. Die Negerin, höchst zufrieden mit der Entlohnung, zog sich an und ging wieder vor die Hütte, um Arepas zu backen. Was kümmerte es sie, daß Don Guidos Gefährte, der nun hinter dem Steuer saß, nervös umherschaute und hupte? Was kümmerte es sie, daß die Fähre kam, entlud und lud, und daß Don Guidos Wagen aus der vorrückenden Schlange ausscheren mußte, weil Don Guido nicht erschien? Die Fähre fuhr ab, Don Guidos Mann lief aufgeregt an der Häuserreihe entlang und fragte. Erst kurz bevor die Fähre zurückkehrte, sah sie Don Guido aus dem Schatten ihrer Hütte herausstürzen und nach seinem Wagen suchen. Dann verlor sie ihn aus den Augen und vergaß ihn, denn der Maisteig war ihr ausgegangen, und gerade an diesem Nachmittag florierte der Arepaverkauf wie selten. Und so borgte sie sich bei ihren Nachbarinnen Zutaten zusammen und knetete sie zu neuem Teig.
An diesem Abend summierte sie stolz die Einnahmen des Tages: Ihre beiden Söhne, zwei und drei Jahre alt, brauchten eine Sonntagshose, denn sie waren schon zu groß, um auch an den heiligen Sonn- und Feiertagen nackt herumzulaufen. Die kleine Tochter, ein Jahr alt, mußte getauft werden. Nun konnte sie die Taufgebühren bezahlen. Und vielleicht, wenn die zweite Fähre lange genug außer Betrieb blieb - hoffentlich noch eine ganze Woche! - konnte sie es schaffen, sich auch noch das feuerrote Kleid zu kaufen, das ihr eine Nachbarin billig angeboten und eine Woche für sie zurückgelegt hatte. Freilich, es war nicht mehr ganz neu, dieses Kleid, aber noch gut erhalten, und man sah ihm an, daß es nicht aus einem armen Haus gestohlen worden war. Es roch vornehm und hatte die Nähte sorgfältig umstochen. Und es paßte ihr genau!
Wenn nur eine einzige Fähre in Betrieb ist, dachte sie, bekomme ich vielleicht noch diesen oder jenen reichen Mann in meinen Verschlag. Wenn ich erst das feuerrote Kleid habe, wird das viel leichter sein. Ich werde schon von weitem auffallen und aussehen, als ob ich etwas Besseres sei.
Sie hatte Glück: Erst nach sechs Tagen fuhren wieder beide Fähren. Sie konnte sich das feuerrote Kleid am Abend des sechsten Tages kaufen. Sie schwamm in Freude, denn das Geld reichte auch noch für eine Madonnenfigur, auf der ihre Mutter bestand. Denn die Gipsmadonna, die früher auf dem Altärchen in der einen Ecke der Hütte gestanden hatte, war herabgefallen und in Stücke zersprungen, und die Alte fürchtete um das himmlische Wohlwollen.
Die junge Negerin konnte das feuerrote Kleid aber vorerst nur knappe fünf Monate tragen. Dann begann es in den Nähten zu krachen.
"Schon wieder!" schimpfte ihre Mutter, die krumme Alte. "Glaubst du etwa, ich habe sieben Leben wie eine Katze? Merkst du nicht, daß mir schon die drei zu viel sind? Den ganzen Tag soll ich sie versorgen, während du Arepa bäckst. Dabei brauchte ich jemand, der mich selbst versorgt! Kannst du nicht besser aufpassen?"
"Ich muß sie nehmen, wann sie kommen", antwortete die Tochter, "denn ich brauche sie. Man muß für das Alter vorsorgen, das weißt du genauso gut wie ich. Man muß damit rechnen, daß die meisten sterben, bevor sie so alt sind, daß sie einen erhalten können. Wenn ich nur drei hätte, bliebe mir also vielleicht nur eines, und wer weiß, ob es imstande wäre, mich zu ernähren. Das ist mir zu unsicher. Je mehr ich habe, um so sorgloser kann ich alt werden."
"Gott schlage dich mit vielen Enkeln, die du von morgens bis abends versorgen mußt", keifte die Alte, während sie das kleine dunkelhäutige Mädchen zärtlich auf ihren Armen wiegte.
Die junge Negerin buk bis kurz vor der Entbindung Arepas. Als sie fürchten mußte, das Kind neben der glühenden Asche und zwischen den herumstreunenden Hunden und Schweinen zu verlieren, hieß sie ihren ältesten Sohn die Glut mit Flußwasser löschen und wankte in die Hütte. Die Alte jagte die Kinder hinaus und scheuchte die Fliegen von den zwei Eimern voll Flußwasser, die sie für die Entbindung bereithielt.
Und da war es auch schon, ein kleines Mädchen, das die Mutter Noris nannte, nach der Alten, um sie versöhnlich zu stimmen. Denn wie konnte sie den ganzen Tag Arepas backen, wenn ihr die Mutter nicht die Kinder versorgte?
Zu ihrem Erstaunen war Noris sehr hell ausgefallen. Zwar nicht gerade weiß, aber doch so, daß sie von der...
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