Schweitzer Fachinformationen
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Da war es also, das neue Jahr.
Hamburggrau, aber verheißungsvoll drückte es von außen gegen die großen Fenster. Ehe sie es offiziell herein- und sich mit ihm einließ, hatte Tilda sämtliche Zimmer ihrer Altbauwohnung gründlich gereinigt und mit weißem Salbei ausgeräuchert. Bis auf das Zimmer ihres Sohnes Jon.
»Denk nicht mal daran! RAUS«, hatte der Sechzehnjährige vom Bett aus gerufen, als sie vorsichtig mit dem qualmenden Kräuterbündel in der Hand die Tür zu seiner Höhle geöffnet hatte, die er in den Ferien eigentlich nur verließ, um im Kühlschrank nach Essen und Getränken zu stöbern. Tilda zog sich schulterzuckend zurück. Jons Zimmer war so ein ungemütliches Chaos, da würden die paar Geister vom letzten Jahr wohl selbst zusehen, dass sie wegkämen, sobald das Fenster geöffnet würde.
Ihre gerade volljährige Tochter Liv war mit einer Gruppe von Freunden über Silvester in ein Ferienhaus nach Dänemark gefahren und hatte entsetzt die Augen verdreht, als Tilda noch einmal winkend aus dem Haus gerannt war, dem mit Menschen, Taschen und Jacken vollgestopften und abfahrbereiten Auto auf das Dach gehauen und, in letzter Minute »Für alle! Habt viel Spaß!« rufend, strahlend eine große Tüte hineingereicht hatte.
»Danke .« Livs Freund hatte in der Hoffnung auf Proviant gierig hineingegriffen und stattdessen eine bunte Mischung von Kondomen in allen Geschmacksrichtungen, Farben und Ausführungen hervorgeholt. Die Menge hätte locker für den Jahresvorrat eines Swingerclubs gereicht. Liv war fast gestorben vor Scham. Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, ihre Mutter wäre nicht mit Leib und Seele eine der bekanntesten Sexologinnen Hamburgs. Sondern einfach eine dieser typisch hanseatischen Hausfrauen mit fifty Shades of weißen, blauen und weißblau gestreiften Blusen im Schrank und blond gesträhntem Bob. Stattdessen war sie mit dieser ein Meter achtzig großen Wikingerin mit Riesenbrüsten, einer wilden goldbraunen Haarmähne und mit einem waffenscheinpflichtig lauten Lachen gestraft, die einfach überall auffiel. Und die zudem permanent peinliche Sachen machte und sagte.
»Komm, deine Mom ist doch ganz cool«, sagte Livs Freund Ben amüsiert und kramte in der Tüte.
»Meinst du, diese Fruchtgeschmack-Gummis kann man auch essen?«
Liv schüttelte nur verzweifelt den Kopf.
»Du hast ja keine Ahnung, wie es war, wenn ich mit ihr und meinem kleinen Bruder beim Abendessen saß und wir den grünen Bio-Gurken erst mal übungsweise Kondome überziehen mussten. Ich hasse Gurken bis heute.«
Doch außer Tildas beiden Kindern gab es kaum Menschen, die nicht schnell das dringende Bedürfnis fühlten, mit Matilda Johnsson über SEX zu reden: über ihren eigenen Körper, über die Körper von anderen, über Partner und Ex-Partner, über orgasmustaugliche Stellungen, Anatomie, geheime Fantasien und Ängste, Komplexe und verkorkste Erfahrungen, über unerreichbare Schönheitsideale, Atemarbeit, Dampfbäder, Selbstbefriedigung, Sexspielzeuge und Fetische, orale, vaginale und anale Praktiken. Es gab kein Problem, für das sie nicht Lösungen anzubieten hatte - oder zumindest eine Überdosis Anteilnahme.
Bei allem war und blieb Tilda immer das freigeistig und leicht verwildert aufgewachsene Kind einer norddeutschen Mutter und eines schwedischen Vaters, die sich einst bei einem FKK-Urlaub am Strand kennen- und lieben gelernt hatten, um sich ein paar Monate und eine Tochter später wieder zu trennen. Auch als erwachsene und erfahrene Frau blieb sie neugierig auf Menschen und ihre Geschichten. Nichts klang für sie zu irre, zu abstoßend oder aussichtslos und nichts und niemand zu uninteressant. Sie hörte unvoreingenommen zu, fragte aufmerksam nach. In Rekordzeit machten sich ihre Gesprächspartnerinnen locker, und aus schamhaftem Schweigen erwuchsen hemmungslose Gespräche, die ganz neue Wege und Möglichkeiten eröffneten. So hatte sie daraus schließlich einen Beruf gemacht, der ihre Berufung wurde.
»Man kann und sollte über alles reden.« Das war ihr Credo - zum Leidwesen ihrer Kinder. Tilda hatte eine Mission: Diese Welt brauchte dringend nicht nur viel mehr Ehrlichkeit, Umarmungen und Liebe - sondern auch viel mehr erfüllenden, beglückenden Sex! Gerade für Frauen war das eine Art ganzkörperliche wie mentale Gesundheitsvorsorge.
Doch an diesem Neujahrstag saß Tilda nun allein und leicht verkatert an ihrem großen alten Holztisch und versuchte, sich all die wunderbaren Ereignisse und Dinge, die sie sich für die Zukunft erträumte, detailliert vorzustellen. Dann würde sie Bilder und Symbole dafür finden und alles als Collage auf ihrem »Vision-Board« arrangieren - was weniger erleuchtete Menschen einfach nur für eine olle Pinnwand aus Kork gehalten hätten. Vor ihr lag also die noch unbekannte Zukunft - 365 neue Chancen, der schönste Tag ihres Lebens zu werden. Links von ihr hing die übervoll behängte Pinnwand vom letzten Jahr. Was davon war in Erfüllung gegangen, was in Erinnerung geblieben? Was hatte sich erledigt? Und was wartete auf seine Wiedervorlage?
Mittig hatte sie den Flyer ihres damaligen Erfolgsseminars angepinnt.
»Sex für Wiedereinsteiger - Schöner Kommen in der zweiten Lebenshälfte«
Darunter ging es weiter im Text:
Du hast dich aufgerieben zwischen Beruf, Ehealltag und Kindern? Deinen Körper begreifst du mittlerweile als eine Art Haushaltsmaschine? Du kennst dich in ihm gar nicht (mehr) aus? Und Seidenmalerei befriedigt dich nicht? Du fühlst dich angesprochen - bereit für AAH und OOooh? Lieben und lieben lassen? Dann komm! Erst mal jeden zweiten Dienstag um 18.00 Uhr in die Volkshochschule Sternschanze. Zusammen machen wir uns auf die Suche nach dem erloschenen Feuer.
Tilda lächelte in Erinnerung daran. Sie hatte gerufen - und etliche Frauen waren gekommen. In mehrfacher Hinsicht! Das war ein toller Erfolg gewesen und für alle eine äußerst aufregende, anregende und erkenntnisreiche Zeit. Sogar für sie selbst. Die Teilnehmerinnen waren sich bei aller Unterschiedlichkeit bald nahegekommen und einige echte Freundinnen geworden. Sogar eine Affäre hatte sich zwischen zweien ergeben. Für ihr Geld hatte jede ein Upgrade ihrer sexuellen Erfüllung erlebt. Tilda hatte alle Namen zur Erinnerung mit einem dicken goldenen Lackstift strahlenförmig auf den roten Flyer geschrieben:
Wie viele der Frauen dieses Jahr tatsächlich auch an dem Fortgeschrittenenkurs teilnehmen würden? Versprochen hatten es eigentlich alle, aber man wusste ja nie, was so dazwischenkommen konnte - und vielleicht hatten sie ja auch bereits genug gelernt? Wie sich wohl das Leben jeder Einzelnen in dem Zeitraum von knapp einem Jahr entwickelt hatte? Tilda interessierte sich nicht nur aus persönlichen Gründen, sie wollte schließlich auch ein Praxis-Buch mit Fallbeispielen über die langfristigen Auswirkungen von sexueller Aufklärung, Anleitung und Übung schreiben.
Sie schnitt also aus einer der vielen Zeitschriften vor ihr das Foto eines Buchstapels aus, schrieb mit dem goldenen Lackstift »Bestseller« darauf und pinnte es auf die Manifestationswand für das neue Jahr - direkt neben ihren kunstvollen Werbe-Flyer für »Sex für Fortgeschrittene«. Eine aus Papier gefaltete und aufklappbare Origami-Vulva in Zartrosa. Zufrieden strich sie ihre widerspenstigen Haare hinter die Ohren. So. Was wollte sie noch alles manifestieren?
Tilda zögerte, gestand sich dann aber ein: Sie wünschte sich für das kommende Jahr, dass ihr langjähriger Liebhaber, Tantra-Körpertherapeut, Autor und seit Spätsommer letzten Jahres tatsächlich auch Ehemann - eine der vielen überraschenden Aus- und Nebenwirkungen des letzten Kurses - endlich seine eigene Wohnung aufgab und zu ihr zog. Sich voll zu ihr und zum WIR bekannte. Bisher lebten sie und Kamadeva - benannt nach dem indischen Liebesgott, bürgerlich Alexander Baum - weiterhin in ihren eigenen Wohnungen und Welten, in verschiedenen Stadtteilen. Früher fanden beide das auch gut so, brauchten ihren Eigenraum. Die Hochzeit in Dänemark hatte aber für Tilda gefühlsmäßig etwas verändert, für Deva anscheinend nicht. Wie konnte sie ihren Wunsch nach mehr Nähe deutlich visualisieren?
Tilda blätterte suchend herum. Sie schnitt ein großes Boxspringbett aus und pinnte es zusammen mit einem kleinen Foto von ihrem Hochzeitskuss an die Wunschwand für das kommende Jahr. Dann versuchte sie intensiv zu fühlen, Deva wäre bereits hier eingezogen, ihrer beider Namen würden auf dem Türschild stehen und sie einfach harmonisch zusammenleben und -arbeiten. Es fühlte sich gut an.
Sie hörte ihren Sohn erst türschlagend sein Zimmer verlassen, dann klodeckelschlagend aus dem Badezimmer kommen und in die Küche gehen. Topfdeckel klapperten.
»Mama? Was kocht denn hier?«, rief er durch den langen Altbauflur. »Kann man das essen?«
»Nein«, rief sie zurück, »nicht anfassen, das ist Mandelöl, daraus wird neue Yoni-Pflegecreme, da muss ich gleich noch Rosenöl, Frauenmantel und Ringelblume einrühren!«
»O Gott, MAMA!«, rief er genervt.
»Ich koche uns aber heute Abend noch was Richtiges, Lasagne!«, rief Tilda zur Beschwichtigung zurück. »Deva kommt dann nachher auch zum Essen!«
»Du kochst echt immer nur noch, wenn Deva da ist. Und ich kann froh sein, wenn ich was abkriege«, brüllte ihr Sohn.
»Kannst du bitte nicht immer so schreien und...
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