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Kapitel 1
Hamburg, April 1919
»Ich mache mich jetzt auf den Weg. Ist im Geschäft alles in Ordnung?«
Greta hörte die melodische Stimme ihres Vaters und lief die enge Wendeltreppe hinunter, die die Wohnung mit den Geschäftsräumen verband. »Ja, Papa. Geh ruhig. Ich nehme mir schon mal die Buchhaltung vor, solange kein Kunde im Laden ist«, erklärte sie lächelnd.
Er war ein stattlicher Mann von dreiundfünfzig Jahren. Etwas klein vielleicht, Greta war fast genauso groß wie er, aber gutaussehend mit dem gedrehten Schnauzbart, der immer ein wenig kitzelte, wenn er ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn gab. Er war schlank und drahtig, gut in Form, würde er über sich selbst sagen, und einer der wenigen, die unversehrt waren. Das Hamburger Stadtbild war von verletzten Männern geprägt, die im Krieg gekämpft und einen Teil von sich dort gelassen hatten. Nicht immer war es ein Bein, ein Arm oder das Augenlicht. Oft war es der Verstand, der nicht mehr tadellos arbeitete, weil das Grauen in den Köpfen der Männer diesen Platz eingenommen hatte. Levi Rosenthal war Österreicher, daher war die Einberufung an ihm vorbeigegangen. Er war kein Mann des Krieges. Doch wer war das schon?
»Ich bleibe nicht zu lange weg.« Er zog an den weißen Manschetten seines Hemds, die unter dem Frack hervorlugten, nahm seinen Zylinder und Gehstock zur Hand.
»Amüsier dich gut«, rief Greta hinter ihm her und winkte zum Abschied.
Ihr Vater besuchte zweimal in der Woche einen exklusiven Herrenklub. Diese Abende waren ihm wichtig, das wusste Greta. Seit er vor mehr als fünfundzwanzig Jahren aus Wien nach Hamburg gezogen war, um Gretas Mutter zu heiraten, und den Gemischtwarenladen eröffnet hatte, hatte sich einiges getan, was seine Stellung in der Hamburger Gesellschaft anging. Damals hatte er niemanden gekannt, was es ihm sehr erschwert hatte, hier Fuß zu fassen. Während des Krieges hatte er viele Familien mit Nahrung versorgen können, das hatte ihm zahlreiche Freunde eingebracht, besonders in der jüdischen Gemeinde. Schließlich hatte ein Großhändler, mit dem er Geschäfte machte, ihn im Klub eingeführt und dafür gesorgt, dass er dort Mitglied wurde. Dafür standen diese Klubbesuche für Levi Rosenthal: angekommen zu sein, akzeptiert zu werden. Ja, mittlerweile war er ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft. Er hatte sich seinen guten Ruf als fairer Händler hart erarbeitet.
Sein Laden auf der Paulstraße, nahe der St. Petri Kirche, war bereits zweimal vergrößert worden, damit das Sortiment erweitert werden konnte. Neben Kurzwaren gab es Haushalts- und Schreibwaren, Putzmittel, Lebensmittel, Getränke, Bedarf für die tägliche Hygiene sowie Obst und Gemüse. Natürlich fehlte es nicht an Süßigkeiten für die Kinder - ein großes Sammelsurium an den unterschiedlichsten Produkten, die es zu kaufen gab. Hinter einem langen Verkaufstresen standen hohe Holzregale. Für diese benötigte Greta eine Leiter, um ganz nach oben zu kommen. Dort lagerten die Waren, die nicht so häufig verlangt wurden, wie Töpfe, Geschirr, Bestecke, Striegel, Bürsten, Aufnehmer und dergleichen. Zusätzlich gab es zwei Tische, auf denen zahlreiche Produkte für den alltäglichen Bedarf ausgestellt waren. In den Auslagen der Schaufenster wurden die neusten Haushaltshelfer bestaunt, und auf dem Gehsteig vor den Fenstern wurde tagfrisches Gemüse und Obst angeboten, meist aus dem Alten Land. Viele Stammkundinnen kamen täglich zu einem Einkauf vorbei. Besondere Kunden wurden direkt nach Hause beliefert.
»Bis später, mein Mädchen.«
Als die Tür des Gemischtwarenladens geöffnet und wieder geschlossen wurde, bimmelte die Türglocke, und Greta nahm hinter dem Schreibtisch in dem kleinen Büro Platz. Ihr Vater war ein hervorragender Verkäufer, aber leider ein schlechter Buchhalter. Er konnte einfach keine Ordnung halten. Ein Glück, dass Greta Freude daran fand, die Belege sorgfältig abzuheften und in das Journal einzutragen. So hatte sie einen guten Überblick über die Einnahmen und Ausgaben des jeweiligen Monats und Quartals. Die Buchungen tätigte sie auf T-Konten, deren Blätter sie in die Schreibmaschine einspannen konnte, das erleichterte die Übersicht. Sie war ausgezeichnet im Kopfrechnen, war eine fleißige Schülerin gewesen, und ihr Vater war froh, dass sie ihm hilfreich zur Seite stand. Den Besuch eines Mädchenpensionats hatte sie strikt abgelehnt. Kochen und Bügeln konnte ihr auch Lore beibringen, die Köchin des Haushalts der Rosenthals. Tadellose Manieren besaß sie bereits, was sollte sie also dort? Wie man Buch führte, hatte ihr Vater ihr gezeigt, so gut es ging, und Greta hatte sich eine Menge angelesen.
Sie würde den Laden eines Tages weiterführen, das war klar, denn es gab keine weiteren männlichen Angehörigen, die in das Geschäft einsteigen konnten, wenn Vater einmal nicht mehr in der Lage dazu sein würde. Greta hoffte natürlich, dass es bis dahin noch einige Zeit hin war. Vielleicht würde sie ja einen Ehemann mit Geschäftssinn finden, um sie dabei zu unterstützen. Und wenn nicht, wäre das auch keine Katastrophe. Sie würde schon alleine zurechtkommen.
Das laute ungeduldige Räuspern einer Frauenstimme ließ sie erschrocken zusammenfahren. Es hatte wohl jemand den Laden betreten, als Levi gegangen war, und Greta war es unbemerkt geblieben. Oder hatte sie bei ihrer Begeisterung für die Buchführung die Türglocke überhört? Das kam öfter vor, als ihr lieb war. Wenn sie sich mit Zahlen beschäftigte, sah und hörte sie nichts. Schnell sprang sie auf die Beine und durchquerte den kleinen Flur, der in den Verkaufsraum führte.
»Gnädige Frau! Was kann ich für Sie tun?«, fragte Greta freundlich, als sie eine Kundin vor dem Tresen stehen sah.
»Ich hätte gerne vier gleiche Knöpfe, wenn Sie so etwas überhaupt führen.« Die Dame sah sich neugierig im Laden um. »Ich weiß nicht, was die Lütten mit ihren Hosen anstellen. Ständig verlieren sie die Knöpfe an den Buxen.« Sie verdrehte die Augen. Die Kundin war gut gekleidet, vermutlich die Frau eines Lehrers oder eines Mitarbeiters, der in einem der Hamburger Zollkontoren tätig war. Sie wirkte gehetzt und in Zeitnot.
»Ja, so sind Jungs, immer wild und unberechenbar.« Greta lächelte, zog eine Schublade auf, in der die Utensilien nach Farbe und Größe sortiert lagen, und hob die Lade auf den Tresen. »Bitte suchen Sie sich etwas Passendes aus.«
»Sie haben noch keine Kinder?«
»Nein, dafür bin ich wohl noch zu jung.« Greta schmunzelte verlegen.
»Als ob Sie nicht den jungen Kerlen hinterherschauen würden.« Die Kundin blickte sie lächelnd an, als erinnerte sie sich daran, wie es war, als sie jung gewesen war. »Früher hat man zu Hause die Handarbeit erledigt und sich um den Haushalt gekümmert, heute steht man hinterm Tresen. Das hätte es früher nicht gegeben.« Sie schüttelte den Kopf. »Zum Glück ist dieser sinnlose Krieg endlich vorbei.«
»Ich ziehe es vor, einen Beruf zu erlernen, um mir meine Unabhängigkeit zu sichern«, erklärte Greta liebenswürdig, woraufhin die Kundin sie verwundert anblickte.
»Und das duldet Ihr Herr Vater? Wo soll uns das noch hinführen?«
Greta deutete auf das Schubfach. »Welche dürfen es denn nun sein?«
Das Gesuchte war schnell gefunden, Greta gab die vier Knöpfe in eine kleine Papiertüte und reichte sie der Dame. »Das macht fünfzig Pfennig.«
Die Kundin zahlte und verstaute die Ware in ihrer Tasche. Dann nickte sie Greta missbilligend zu und verließ den Laden ohne einen Abschiedsgruß.
»Vielen Dank und einen schönen Tag noch«, rief Greta hinter ihr her. Sie schüttelte den Kopf. Man konnte sich die Kundinnen eben nicht aussuchen. Die Menschen hatten es nach dem verlorenen Krieg nicht leicht, da die Wirtschaft am Boden lag und sich nur langsam von dem Tiefpunkt erholte. Es gab unzählige Arbeitslose und Kriegsversehrte, die hungerten, denn Brot war rar, das erhielt man nur mit Lebensmittelkarten. Einige ließen ihren Groll an denen aus, die vermeintlich mehr hatten. Was diese dafür opferten oder wie viel sie arbeiteten, danach wurde nicht gefragt. Dennoch konnte Greta die Menschen verstehen. Das Leben war nicht leicht in diesen Zeiten, und sie übte Nachsicht, denn sie gehörte zu den wenigen, denen es besser ging als vielen anderen. Sie hatte auch keinen Verlust zu beklagen. Niemand ihrer Verwandten war im Krieg geblieben, hatte sein Leben für die Freiheit verloren. Dafür musste man dankbar sein.
Greta drückte die Tasten der Registrierkasse, drehte an der Kurbel und legte das Geld in die dafür vorgesehenen Fächer. Das Geräusch, das die Kasse beim Öffnen machte, war für sie einer der schönsten Laute der Welt. Er zeugte davon, dass sie etwas verkauft hatte, dass sie gut in dem war, was sie tat. Nichts war schlimmer als eine Kasse, die unberührt blieb, was bedeutete, dass man auf...
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