Schweitzer Fachinformationen
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Manchmal wünscht man sich nichts sehnlicher, als all den Anforderungen des Alltags für eine Zeitlang zu entkommen, Hektik und Stress weit, weit hinter sich zu lassen und wieder zu sich selbst zu finden. In solchen Momenten schnappt man sich am besten ein Buch und beginnt zu lesen - ein Buch wie dieses hier, dessen Geschichten und Gedichte vom großen Erlebnis der Stille erzählen, vom Glück, das in der Ruhe liegt, und von den schönen kleinen Auszeiten, aus denen man bereichert und gestärkt zurückkehrt.Wie man zur Ruhe kommt, achtsamer mit sich umgeht und sich selber etwas Gutes tut - davon erzählen Peter Bichsel, Lily Brett, Italo Calvino, Teju Cole, Umberto Eco, Max Frisch, Axel Hacke, Hermann Hesse, Tom Hodgkinson, Amos Oz, Erling Kagge, Cees Nooteboom, Rainer Maria Rilke, Wilhelm Schmid, Wislawa Szymborska und viele andere. »Stille, du bist das BesteVon allem, das ich je gehört.« Boris Pasternak
Andrzej Stasiuk
Zu jener Zeit gab es auf dem Dorf keine Mülltonnen. Auch Müll gab es nicht.
Man kaufte verschiedene Dinge, aber es blieb nicht viel von ihnen übrig. Von Zucker blieben Papiertüten, die man im Ofen verbrennen oder noch einmal verwenden konnte. Essig-, Öl- und Wodkaflaschen konnte man im Laden mit beträchtlichem Gewinn verkaufen. Man konnte sie auch dazu benutzen, selbstgemachten Kirsch- oder Himbeersaft aufzubewahren. Limonade- oder Bierflaschen mit Patentverschluss aus Porzellan und Draht benutzte man zum Aufbewahren von Erfrischungsgetränken, die zu Hause mit Hilfe von Hefe und Zucker hergestellt wurden. Plastik gab es praktisch nicht, es gab keine Alufolie und keinen mit Aluminium überzogenen Karton. Vom Essen blieb nichts übrig.
Ein Tier wurde geschlachtet und aufgegessen. Die Knochen bekam der Hund. Das Fell konnte man verkaufen. Fell war teuer damals. Genau wie Wolle. Der Mensch ließ nicht viel übrig. Die Reste konnte man verbrennen oder den Tieren geben. Hunden, wie gesagt, oder Schweinen, die alles fraßen. Es gab keine Mülltonnen. Es gab keinen Müll. Das weiß ich noch.
Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre verbrachte ich die Ferien fast immer bei meinen Großeltern. Von Warschau aus waren es etwa drei Stunden mit dem Bus. Man fuhr Richtung Osten. Im Bus roch es ländlich. Es war der Geruch der Sauberkeit vor der Zeit der Deodorants: Seife, frisch gewaschene Kleider, Naphthalin und menschlicher Schweiß. Die Frauen kehrten von den Märkten nach Hause zurück. Sie hatten ihren Käse, ihre Sahne und ihre Hühner verkauft; jetzt rochen ihre Körper nach all diesen Dingen, nach Stärke und nach etwas ländlich Feierlichem. Vom vorderen Teil des Busses, vom Platz des Fahrers, wehte der Geruch von dunklem Tabak nach hinten, denn damals durften die Fahrer rauchen. Niemand verbot es ihnen. Nur reden durften sie nicht. So stand es in schwarzen Buchstaben auf weißem Schild: »Nicht mit dem Fahrer sprechen.« Unter diesem Schild nahm immer wieder jemand Platz, ein Bekannter, Kumpel, Verwandter, Kollege, Nachbar, und dann wurde gequasselt wie bescheuert. Der andere saß auf der Motorhaube, die aussah wie eine umgedrehte Wanne, und begann ebenfalls zu rauchen. Sie rauchten und plauderten. Ich war damals zehn oder zwölf und träumte davon, mich dort hinzusetzen. Das war der beste Platz im ganzen Bus: unbequem, heiß, eng, die Füße zur Seite, das Genick eingezogen, und man musste sich ständig an einer Stange oder einem Griff festhalten, um nicht herunterzurutschen.
Ich war zehn Jahre alt und ein Stadtkind.
Das Haus der Großeltern stand abseits. Zum nächsten Nachbarn waren es einige hundert Meter. Ins Dorf mehr als ein Kilometer. Die Großeltern waren oft mit der Arbeit auf dem Feld beschäftigt. Ich verbrachte viele Stunden allein. Das Haus stand in einem alten Obstgarten. Es war ein düsteres Haus. Unbekannte Gerüche erfüllten es. Die Holzböden knarrten. Ich ging auf Zehenspitzen, aber das Knarren folgte mir von Zimmer zu Zimmer. Ich war allein, aber dieses Alleinsein leistete mir in gewisser Weise Gesellschaft. An den Wänden hingen Heiligenbilder und ein Hochzeitsfoto der Großeltern, alles in soliden Rahmen. Auf diese Weise vermischte sich das Heilige mit dem Vergänglichen. Die Großeltern wurden ein wenig unirdisch, die Muttergottes ein wenig menschlicher. Das Haus wirkte groß, obwohl es nur aus zwei Zimmern und einer Küche bestand. Jenseits der dunklen Diele befand sich die »Fruchtstube«, wo Großvater das Getreide aufbewahrte. In einem Bretterverschlag lagerten goldfarbener Weizen und gelbgrauer Roggen. Die Körner waren kühl und glatt. Ich tauchte die Arme bis zu den Ellbogen ein. Mir fielen Geschichten von Menschen ein, die im Getreide versunken waren. Vielleicht nicht in Roggen oder Weizen, sondern eher in Leinsamen. Der war angeblich so glatt, dass man darin ertrinken konnte wie in Wasser. Man fiel einfach nach unten.
Einsamkeit also. Ganze Tage in Stille und Einsamkeit. Im Halbdunkel des alten Obstgartens. Bei schönem Wetter drang die Sonne durch die Zweige des Apfelbaums und erhellte den grünen Schatten. Die goldenen Flecken bildeten ein Labyrinth. Wenn man langsam durch den Garten ging, spürte man auf der Haut die Berührung von Wärme und Kälte. Ein, zwei Schritte, und es wurde heller und wärmer, dann wieder dunkler und feuchter vom Tau, der an manchen Stellen nie zu trocknen schien.
Vom Küchenfenster aus konnte man den Hof sehen. Die Scheune, der Pferdestall, der Schweinestall, die gemauerte »Sommerküche« und das Haus bildeten ein Viereck. Auch hier wuchsen Bäume. Einige alte, schlanke Pappeln warfen ihre Schatten auf den Hof. Im Laufe des Tages wanderten die Schatten. Das vom Vieh niedergetretene, von den Hühnern durchwühlte rechteckige Stück Erde erinnerte an eine komplizierte Sonnenuhr. Manchmal tauchten in einem hellen Fleck die Katze auf, der Hahn oder eine Schar Spatzen. Dann verschwanden sie wieder im Schatten. Der Hof war auch eine Art unregelmäßiges Schachbrett. Dinge und Tiere tauchten auf und verschwanden wieder, als nähmen sie an einem komplizierten Spiel teil, bei dem der Einsatz das Leben war. Ich saß am Fenster und betrachtete stundenlang dieses langsame, fast bewegungslose Schauspiel. Die Sonnenuhr und das Schachbrett. Im Juli und August. Fast jedes Jahr in meiner späten Kindheit und frühen Jugend.
Manche Dinge wurden trotzdem weggeworfen. Zum Beispiel löchrige Töpfe. Mit ihnen konnte man nichts mehr anfangen. Manche waren einfach geplatzt. Bei anderen war der Boden durchgebrannt. Aluminium war noch nicht allgemein verbreitet. Die Töpfe waren aus sprödem Gusseisen oder aus schlechtem, zu Korrosion neigenden Blech, überzogen mit weißblauem Email.
Hinter dem Sommerherd war eine Art Müllhalde. Doch das ist kein gutes Wort, um diesen Ort zu beschreiben. Besser gesagt, zwischen Brennnesseln und anderem Gestrüpp befand sich eine Art Friedhof für die Dinge. Aber so kann man es auch nicht nennen, denn die Gegenstände, die dort lagen, waren nicht völlig tot. Die Töpfe hatten zwar aufgehört, nützlich zu sein, aber sie hatten ja nicht ihre äußere Gestalt verloren. Sie enthielten immer noch einen geformten Raum, bewahrten immer noch etwas auf, wenn es auch nur gleichgültige Luft, Staub oder weiße Pflanzentriebe waren, die im löchrigen, geschützten Innern der Scherben keimten.
Das Schicksal der Töpfe teilten auch die Petroleumlampen, die sogenannten Wagenlampen. Man benutzte sie zur Beleuchtung der Fuhrwerke, wenn man abends nach Hause fuhr. Außerdem halfen sie dabei, sich in der Dunkelheit des Stalls oder der Scheune zu bewegen. Allzu viel Licht gaben sie nicht, aber ihre Flamme erlosch auch im stärksten Wind nicht und war relativ sicher. Denn zu jener Zeit gab es in dieser Gegend noch keine Elektrizität.
Manchmal schaute ich abends in den Stall, wo meine Großmutter die Kühe molk. Es war fast dunkel dort. Die Lampe erhellte kaum die unmittelbare Umgebung. Sie leuchtete nur für sich. Ich spürte die Wärme und den Geruch der Tiere, hörte ihren Atem, aber sehen konnte ich nichts. Meine Großmutter murmelte etwas zu den Kühen. Ich hörte den Milchstrahl auf den Boden des Eimers schießen. Aber zu sehen war nichts. Nur an der Stelle, wo die Lampe stand, wurde das Dunkel vielleicht einen Ton heller, da bewegten sich Schatten, da tauchte für einen Augenblick ein Umriss auf und verschwand wieder. Es war ein bisschen unheimlich, ein bisschen seltsam und sehr schön. Ich stand an der Tür, in einer Wolke von Tierwärme, und stellte mir vor, die Nacht hätte keine Grenzen, sie würde nie aufhören, ewig dauern. Das war ganz einfach.
Dann ließ ich meine Großmutter allein. Beim Melken mochte sie keine Gesellschaft. Die Kühe seien dann unruhig, meinte sie. Ich wartete im Haus auf sie. Nach einer Weile kam sie durch die spärlich beleuchtete Diele. Die Milch im Eimer war weiß und unwirklich. Das Weiß passte nicht zur Dunkelheit der Nacht, zu dem schwarzen Rechteck der Tür, die zum Stall führte. Doch später, als Großmutter die Milch schon abgeseiht hatte und ich meinen allabendlichen Becher bekam, war alles...
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