Schweitzer Fachinformationen
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Wir waren ein Freundinnenpaar wie aus dem Bilderbuch: die kleinere Brünette mit den halblangen braunen Locken und die größere Blonde mit dem Pferdeschwanz. Den hatte ich, noch vor Brigitte Bardot, gerade erfunden, weil mir das Haareflechten oder Hochstecken, bei dem meine Mutter mir morgens vor Schulbeginn half, nicht allein gelingen wollte, oder zu lange dauerte, besonders in den Ferien.
In diesen Ferien, nach der zehnten Klasse, waren wir mit unserem Schauspielensemble vom Berliner Haus des Kindes wie jeden Sommer auf einer Tournee durch die Republik gewesen. Vor zwei Jahren hatten wir noch Mädchenrollen, vor einem Jahr aber schon Erwachsenenrollen gespielt, in dem russischen Erfolgsstück »Der Schneeball«, in dem es um Diskriminierung oder Anerkennung der ersten schwarzen Schüler in einer US-amerikanischen Schule geht und mit dem wir dann auch zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten, im August Einundfünfzig aufgetreten waren, meine Freundin als die »böse« Miss Feller, eine konservative Lehrerin, ich als die »gute« Miss June, eine fortschrittliche Bibliothekarin.
Jetzt, ein Jahr später, mit fast Siebzehn waren wir schon zu alt für das Ensemble, aber weil wir von Anfang an dabei gewesen waren, hatte man uns noch mal mitgenommen, als Betreuer für die Kleinen. So hatten wir unser erstes eigenes Geld verdient, und nun würden wir zusammen eine Reise machen, zum ersten Mal ohne die Klasse, die Jugendgruppe oder das Ensemble, eine FDGB-Reise, welche die Mutter meiner Freundin von ihrem Betrieb bekommen hatte, aber nicht selbst antreten konnte oder wollte.
Unsere Wirtsleute holten »die Fräuleins aus Berlin« am Bahnhof ab, luden unsere beiden Vulkanfiberkoffer auf einen Leiterwagen, und ab ging die Fuhre, quer durch Lindow, einen tristen Ort in der Mark Brandenburg, vorbei an der Konsumgaststätte, in der wir unsere Mahlzeiten einnehmen würden.
In dem ebenerdigen unverputzten Umsiedlerhaus am Ortsrand wurden wir im Schlafzimmer der Eheleute einquartiert, die »wegen der Urlauber« im Wohnzimmer schliefen, und wenn wir aus dem Fenster sahen, nach Süden, Richtung Berlin, sahen wir auf kahle Felder, ohne zu wissen, ob der Boden der Mark Brandenburg zu mager, zu schlecht bestellt oder schon abgeerntet war.
Es gab viele trübe Tage in diesem August Zweiundfünfzig, an denen wir in dem winzigen Zimmer hockten, Tagebuch schrieben oder uns aus den mitgeschleppten Büchern vorlasen: vor allem aus Nikolai Tschernyschewskis Roman »Tschto djelatch?« – »Was tun?«, der dem Autor 1863 unter Zar Alexander II. zwanzig Jahre Verbannung eingebracht hatte und vierzig Jahre später, 1902, den jungen Lenin zu seiner vorrevolutionären Schrift »Was tun?« inspirieren sollte.
Wir wollten wissen, was zu tun war in unserem Leben. Wollten um das Glück der Menschheit kämpfen, so wie in den Stücken, die unser Ensemble spielte, oder in den Gedichten, die wir bei Veranstaltungen in der Aula rezitierten, »Im Kreml brennt noch Licht« von Erich Weinert, oder »Die Teppichweber von Kujan-Bulak« von Bertolt Brecht, meine Freundin in ihrer Russischspezialschule in Pankow, ich in meiner Schule in Treptow, wo ich Russisch erst seit zwei Jahren lernte, als dritte Fremdsprache, nach Englisch und Französisch.
An freundlicheren Tagen liefen wir einfach querfeldein, nahmen auf dem Bock eines verlassenen Pferdewagens die Pose eines Kutschers, oder vor ein paar Kühen auf der Weide die eines Toreros ein, um uns dann gegenseitig zu fotografieren, mit der alten Box meines Vaters, die er mir für die Reise anvertraut hatte. Manchmal strolchten wir durch das Gestrüpp kleiner Waldstücke, die zwischen den Feldern aufragten, zerschrammten uns mutwillig die nackten Beine, die aus den kurzen Hosen hervorsahen, die wir uns selbst genäht hatten, meine Freundin aus einem abgelegten Kleid ihrer Mutter, ich aus den Resten einer Joppe meines Vaters. »Edle Selbstzerfleischung« nannten wir unser Spiel, ich glaube, es war Christel, die den Ausdruck erfand. Wir kamen uns glücklich vor, frei, wie Jungen. Niemand fragte uns, was wir taten, zwischen Morgen und Abend. Und die Schrammen verheilten wieder, zwischen Abend und Morgen.
An manchen Abenden verwickelten wir den Umsiedler in politische Gespräche. Wir fanden, wir hätten recht, wenn wir von der neuen Zeit sprachen und davon, dass, wenn nur alle fleißig genug arbeiteten, in unserem an Bodenschätzen so armen Land, es allen besser gehen würde, bald!
Er fand, dass wir dumme Gänse waren, Oberschüler, noch dazu Berliner, Hauptstädter, die keine Ahnung hatten, wie es auf dem Land zuging, und sowieso viel zu jung, um mitzureden!
Seine Frau und seine Schwiegermutter saßen dabei und schwiegen, während er uns »beharkte« und wir vor Erregung bebten, weil wir nicht so werden wollten wie diese Frauen, und weil der Mann uns nicht glaubte, obwohl wir es besser wussten, denn das hatten wir in unseren Schulen, in unseren aufgeklärten avantgardistischen Jugendgruppen, in unserem Schauspielensemble gelernt, schon längst!
In der Gegend von Lindow gibt es riesige Seen, durch Fließe verbunden, sumpfiges Gelände, unzugängliche Ufer, in Ufernähe riesige alte Laubbäume, feuchte Wege, die im Nirgendwo enden. Keine Badestellen. Vielleicht haben wir auch nicht danach gesucht, weil dieser August zu kühl war, um die Sehnsucht zum Badengehen zu wecken.
An einem der letzten Tage nahmen wir uns vor, einen der Seen zu umrunden. Gingen es an, kühn, obwohl wir weder Ortskenntnis, noch eine Landkarte besaßen. Liefen am Ufer entlang, unter dem Dach hoher Laubbäume, lange. Alles war kühl, die Luft im Schatten der Bäume, die Luft über dem Wasser. Uns war kalt, wir waren drauf und dran, uns zu verlaufen, und wir würden kein Mittagessen mehr bekommen!
Am Ende eines verlandenden Weges gaben wir auf und machten kehrt, obwohl schon mehr als die Hälfte der Strecke hinter uns lag. Um den Rückweg abzukürzen, schlugen wir uns heldenhaft durch dichtes Gestrüpp, erreichten wieder festen Boden, dann einen Kiefernwald. Die Sonne kam durch die Wolken, alles ringsum war warm, trocken und unglaublich still. Weiter liefen wir querwaldein, in die Richtung, wo der Ortsrand liegen musste. Die Kiefernnadeln unter unseren Schritten knackten leise.
Der russische Soldat war plötzlich da, wie aus dem Nichts gekommen, lautlos, ein kleiner, unansehnlicher, o-beiniger Mann in abgetragenen Stiefeln, Tarnhose und Russenbluse, mit einem abgeschabten Riemen gegürtet, auf dem Kopf ein Käppi, unter dem große abstehende Ohren und der kahlgeschorene Hinterkopf hervorsahen.
Wir sagten: »Ssdrawstwui!« – »Sei gegrüßt!«, ein Gruß, wie er unter Freunden üblich ist.
Er antwortete mit dem Plural: »Ssdrawstwuitche!« – »Seid gegrüßt!«
Wir streckten ihm die Hand hin, gleichzeitig. Er nahm meine, ließ sie nicht los, drehte sie zur Seite, drehte mich an meiner Hand um meine Achse, warf mich zu Boden. Der Fotoapparat, die Box, die mein Vater mir anvertraut hatte, sein wertvollster Besitz, mein wertvollster Besitz, flog ins Moos, während der Mann sich auf mich warf.
Irgendwie gelang es mir, ihn abzuwerfen und aufzuspringen, aber ehe ich hätte weglaufen können, musste ich mich bücken, um die Box zu retten, und im nächsten Moment war der Mann wieder über mir und warf mich ein zweites Mal zu Boden, alles ohne einen einzigen Laut.
Kein Laut aus dem Mund des Mannes, kein Laut aus einer Mädchenkehle. Und kein Gefühl. Kein Gefühl, an das ich mich erinnern könnte.
Meine Freundin Christel aber, das Mädchen mit den zierlichsten Füßen und Händen der ganzen Schauspielgruppe, war nicht davongelaufen, sondern fing auf einmal an, mit ihren kleinen Fäusten auf den Rücken des Mannes einzuschlagen, mit einer solchen Kraft, dass ich die Schläge fühlen konnte, durch den Körper des Mannes hindurch.
Und daran kann ich mich erinnern: Schläge wie Maschinengewehrfeuer in einem Kriegsfilm ohne Ton.
Der Mann sprang auf, und im nächsten Augenblick war er ebenso plötzlich zwischen den Kiefern verschwunden, wie er aufgetaucht war. Und wenn ich nicht wüsste, dass die Stille in diesem Kiefernwald vollkommen war, würde ich denken, ich hätte mein Herz schlagen gehört.
Wir brauchten keine Verständigung, wir waren uns einig: So etwas durfte es nicht geben! Nicht solche Taten, auch wenn es sich nur um den Versuch einer Tat handelte! Nicht unter dem Banner der Völkerfreundschaft! Hatten wir vielleicht »Drushba« gesagt zu dem Mann – »Freundschaft«? Hatten wir irgendetwas getan, das den Mann glauben lassen konnte, wir wären zu irgendetwas bereit?
Heute, ein halbes Jahrhundert später, weiß man, dass es häufig die Opfer sind, die die Schuld bei sich suchen. Fast immer. Daher die Angst, die Scham und das Schweigen.
Ich besitze zwei, mit der alten Box meines Vaters aufgenommene Fotos, schwarz-weiß, oder grau. Das eine zeigt meine Freundin, in ihrem aus Resten gehäkelten Sommerpullover, die nackten Beine in den viel zu weiten Shorts, im Arm einen Strauß Heidekraut, vor der Kulisse eines Kiefernwaldes. Das andere zeigt mich, in meinen etwas zu kurz geratenen Shorts und einem grauen Plüschpulli, von dem ich weiß, dass er dunkelgrün war, im Arm meinen Strauß Heidekraut, vor derselben Kulisse. Und wüsste ich nicht, dass wir das Heidekraut erst nach der Tat, oder der verhinderten Tat gepflückt haben, würde ich denken, es handele sich um zwei ganz normale Ferienfotos, denn der Ausdruck der Trauer auf den beiden Mädchengesichtern könnte wohl auch von unerfüllten Sehnsüchten hergerührt haben.
Wir brauchten keine Verständigung, um nach der verhinderten Tat die Kaserne der sowjetischen Armee zu suchen, die irgendwo in der Nähe liegen musste. Und wir brauchten nur...
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