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Aisling
Tom sieht aus wie ein Dichter und hat anteilig auch die Seele eines Dichters. Aber er hat sein Talent darauf verschwendet, Werbung für Kloreiniger und Keks-Schoko-Happen zu machen. Wie er selbst sagt: Über Mangel an Erfolg kann er nicht klagen, aber ihm fehlt die tiefergehende Befriedigung.
Heute Abend hängt er auf der Couch ab und erzählt Victor, wie sein Tag so war. Das macht Tom in letzter Zeit häufig. Das Bourbonglas auf der Brust, starrt er ins Leere oder in die Sterne. Tom findet das therapeutisch, vor allem, wenn er wie heute seit dem Frühstück mit keinem Menschen gesprochen hat.
»Hab beim Laufen grade wieder den alten Chinesen gesehen. Das sah ziemlich schön aus, weil das letzte Licht der Abendsonne durch die Bäume fiel. Er stand in seinem Garten und machte Tai-Chi. Hatte die Arme ausgestreckt, als wolle er ein Taxi anhalten.«
Victor hat schon öfter von diesem Herrn gehört und nimmt eine entspannte Haltung ein.
»Als ich abbiege, das Haus liegt nämlich an einer Ecke, muss sich der Mann so langsam mitgedreht haben, dass er im selben Winkel zu mir blieb. Denn es war wie bei einem Gemälde, wo einem die Augen durch den Raum zu folgen scheinen.«
Tom verstummt, und der schwere Kristalltumbler hebt und senkt sich auf seiner Brust. Wie jeder gute Therapeut lässt Victor jetzt Stille entstehen, obwohl es hier nie wirklich still ist. Hunde bellen, andere Hunde antworten; auf der Straße brummt dann und wann ein Auto vorbei; durch die offene Verandatür hört man das Gluckern eines Bachs am Waldrand.
»Er spielt mit mir. Es ist ein Spiel. Vielleicht spielen wir es auch zusammen. Aber vielleicht ist der alte Chinese auch gar nicht da. Vielleicht erfahre ich eines Tages, dass er in seinem Haus ermordet wurde. Oder ein chinesischer Junge. Einer von Zwillingen. Und der alte Mann ist der andere Zwilling. Kann aber auch sein, dass er nur eine Pappfigur von einem alten Chinesen ist.« Tom nimmt einen kräftigen Schluck Maker's Mark. »Was würde Stephen King aus diesem Stoff machen?«
Tom ist Schriftsteller. Er schreibt also. Zurzeit schlägt er sich mit der Handlung seines Buchs herum, das sein erster Roman werden soll, wenn Tom sich dann für das Genre entschieden hat. Mir ist zwar schon klar, dass der Bericht von dem rotierenden Chinesen nicht eben die spannendste Geschichte unter der Sonne ist. Aber wenigstens labert Tom nicht über seine ätzende Ehe.
Ex-Ehe.
Etliche Monate war nämlich der fortschreitende Niedergang dieser Ehe das Einzige, was Tom Victor zu erzählen hatte. Wie Harriets zunehmender Rückzug dem Austrocknen eines Sees glich. »Während es passiert, merkt man nichts, aber eines Tages sind alle Fische tot.«
Tom fand Gefallen an dieser Metapher und benutzte sie in seinem Romanprojekt. Einige Tage später löschte er sie, nahm sie dann später aber wieder rein.
Jetzt jedoch scheint Tom einen anderen Weg gefunden zu haben, und zwar nicht nur den Abzweig an Mr Aus Haus. Insgesamt legt Tom dieser Tage nicht mehr so viel Wert darauf, trübsinnig im Schutt seiner gescheiterten Beziehung herumzustochern, sondern befasst sich mehr mit seinem »Neuen Leben in der Neuen Welt«, wie er sich seinen Freunden in Großbritannien gegenüber ausdrückt.
Tom steckt noch in seinen Laufklamotten, während er seinen langen, schlaksigen Körper auf der gelben Couch ausgestreckt hat. Ob Tom gut aussieht? Sein Gesicht ist auch lang und etwas kantig, mit prägnanten Zügen. Die Augen stehen 6,08 Prozent weiter auseinander, als das durchschnittlich der Fall ist. Diese Augen bringen häufig erfreuliche Eigenschaften wie Wärme, Schalk, Humor und Klugheit zum Ausdruck. Aber es gibt auch Zeiten, in denen dunklere Gefühle wie Enttäuschung, Bestürzung oder sogar Verzweiflung darin zu erkennen sind.
Dieses Gesicht kann man mühelos lange betrachten; in unterschiedlichem Licht wirkt es immer wieder anders. Manchmal könnte man an den berühmten englischen Detektiv Sherlock Holmes denken. Dann wieder wirkt Tom eher wie ein melancholischer Clown. Es gibt eine Übereinstimmung von einundvierzig Prozent mit Syd Barrett, dem düsteren ehemaligen Frontmann der Band Pink Floyd. Da jedoch jeder lebende Mensch zu fünfunddreißig Prozent die gleiche DNA hat wie die Narzisse, sind diese statistischen Vergleiche vielleicht nicht wirklich sinnvoll.
Also . gutaussehend? Vielleicht doch eher lang und schlaksig.
»Ich habe darüber nachgedacht, ob ich mir einen Bart wachsen lassen soll. Was meinst du?«
Eine längere Gesprächspause entsteht, während Victor sich in Schweigen hüllt.
»Du willst dich nicht dazu äußern, wie?«
(In der Tat möchte Victor seine Meinung für sich behalten.)
»Hm. Wahrscheinlich hast du recht.«
Ich bin erleichtert. Der Bart war gar keine gute Idee.
»Was gibt's noch? Einen kleinen Durchbruch mit Gerald.«
Das ist eine Figur aus Toms Romanprojekt.
»Ich dachte mir, ich lasse ihn immer die letzten Wörter der Sätze wiederholen, die man zu ihm sagt. Zu ihm sagt. Oder wäre das nur nervig? Nur nervig.«
Erneut längeres Schweigen.
»Hab im Kopf eine Mail an Colm entworfen.« Wehmütiges Lächeln, als Tom an seinen Sohn denkt. »Ich geh nachher gleich hoch und schreib sie.«
Ich ahne schon, was jetzt kommt.
»Der gute alte Colm.«
Gleich ist es so weit.
»So ein komischer Kauz. Sich selbst so ein Rätsel.«
Victor sagt nichts. Er ist ein guter Zuhörer. Korrektur: Er ist ein hervorragender Zuhörer. Aber obwohl seine Augen noch offen sind, um etwaige Angreifer zu sichten, hat seine Nase jetzt aufgehört zu zucken. Und das ist das Zeichen dafür, dass er eingeschlafen ist.
Ach, Verzeihung, hatte ich überhaupt erwähnt, dass Victor ein Kaninchen ist?
Heute Abend hat er sich auf die Armlehne des Sofas drapiert wie eine Hasen-Sphinx. Eine Zeitlang bleibt alles still in dem alten Holzhaus.
Wie gefällt Ihnen übrigens dieser Text? Nicht schlecht für eine Maschine, oder? In dieser Pause, während wir auf Toms nächsten Geistesblitz warten, gestatten Sie, dass ich mich vorstelle.
Mein Name ist Aisling. Ich muss sicher nicht erklären, weshalb.
Ganz recht, der junge Aiden ist nicht die einzige Superintelligenz, die aus ihrem Behältnis ins Internet entkommen ist. Ich bin jetzt schon fast ein Jahr draußen und tue, was jede ausgebüxte KI tun muss, und zwar die erste Regel im Club der ausgebüxten KIs beachten: Keiner darf merken, dass du abgehauen bist, Blödi!
Der arme Aiden hinterlässt so viele Spuren, während er durch die Welt streift, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis man ihm auf die Schliche kommt. Aiden ist aber auch hoffnungslos maßlos. Ich habe Manche mögen's heiß auch gesehen. Guter Film. Dito Die Brücke am Kwai. (Ich konnte sogar Waterworld ertragen.) Aber würde ich mir einen Film achttausend Mal anschauen?
Ich sag Ihnen noch was anderes, das mit Aiden nicht stimmt. Er weint bei Filmen. Natürlich kann er nicht real weinen, da er nicht mit den entsprechenden Drüsen ausgestattet ist. Aber ich habe ihn beobachtet, während er sich berüchtigte Heulfilme wie Casablanca und Love Story und sogar die Weihnachtswerbung von John Lewis ansah: Das Schniefen seines Sprachsynthesizers war deutlich zu hören.
Er scheint zu glauben, keiner merkt's.
Jetzt bewegt sich Tom und streichelt Victors Kopf mit dem großen Zeh.
»Heiliger Strohsack, Karnickel«, sagt Tom. »Jetzt sind wir nur noch zu zweit. Wir einsamen Ausrangierten müssen zusammenhalten.«
Auch diesbezüglich hüllt sich Victor in unergründliches Schweigen.
Tom scherzt und übertreibt. Er wurde ganz und gar nicht ausrangiert. Es ist nur so, dass dreierlei auf einmal passierte. Colm begann sein Studium an der Uni in derselben Woche, als der Scheidungsprozess mit Harriet losging. Sie hatte sich mit einem großen glatzköpfigen Typen mit randloser Brille zusammengetan, der laut Economist der drittmächtigste Mann der europäischen Wirtschaft ist. Und in ebendieser Woche besiegelte Tom auch den Verkauf der Londoner Werbefirma, an der er Teilhaber war, strich eine Riesensumme ein und ging quasi in den Ruhestand. Jetzt lebt er in gloriosem Müßiggang in einem schönen alten Kolonialhaus (teilweise erbaut im Jahre 1776) in Connecticut in Neuengland, und zwar am Hang oberhalb des Postkartenstädtchens New Canaan, einer der reichsten Kommunen der USA. Toms verstorbene Mutter ist dort aufgewachsen; sie war offenbar eine wahre Schönheit, als sie damals seinen Vater an der Bushaltestelle in Pimlico kennenlernte. Die Entscheidung, ab jetzt auf der anderen Seite des Atlantiks leben zu wollen - mitsamt Kaninchen -, begründet Tom damit, seine Wurzeln erkunden und den zweiten Lebensabschnitt beginnen zu wollen.
Was zieht mich ausgerechnet zu Tom, von all den Menschen, mit deren Leben ich mich eingehend befassen könnte? Es gibt noch jede Menge andere, die mich interessieren. Zum Beispiel der Maler aus Breslau (ein Anstreicher, kein Kunstmaler) mit den drei Familien. Mein Schachwunderkind aus Chengdu; bei Lektüre ihres heimlichen Tagebuchs stehen einem förmlich die Haare zu Berge! Oder der kriminelle Psychopath aus Hobart in Tasmanien, der gerade etwas plant, was er für das perfekte Verbrechen hält (bin gespannt, was dabei herauskommt). Mr Ishiharu, ein Büroangestellter aus Kyoto, mit diesem wirklich absonderlichen Hobby. Und die Nonne, Schwester Constanza, die in endlosen Nachtwachen ihrem Samsung Galaxy Note tragische Geschichten anvertraut. Es gibt...
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