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ALTES ZIMMER
Das Rot am Himmel breitet sich aus, verschwimmt an den Enden. Lamin fährt, Alicia schaut aus dem Seitenfenster. Das Dorf, in dem sie aufwuchs durch einen glasigen Schutzfilm, der das Licht aufspaltet und auf ihrem Gesicht verteilt. Provinzielle Häuser, weiße Wände, rot-braune Dächer, grünes Gras, darüber der aufgespannte, schläfrig gewordene Himmel. Hier hätte ein anderes Leben stattfinden sollen. Die, das Dorf umschlingenden Bäume sind Gitterstäbe.
»Ist alles okay?« Lamins Blick ist für einen Moment bei Alicia, dann wieder auf die Straße gerichtet.
»Es sieht alles so aus wie vor drei Jahren.« Ist es Bitterkeit oder Angst, die sie schmeckt, als sie ihre Zunge bewegt?
Lamin legt seine Handfläche auf ihren Handrücken. Seine Hand ist warm. Eine physische Gegebenheit, nicht mehr. Sie zieht ihre Hand unter seiner weg; er atmet hörbar aus.
Aus Obuasi in Ghana waren seine Eltern vor vielen Jahren nach Hamburg gekommen. Sein älterer Bruder Enam war bereits geboren, Lamin kam erst drei Jahre später zur Welt. Er wuchs auf zwischen Eisenbetten und einer Toilette, seine Eltern husteten und ihre Glieder schmerzten.
In einem Nachtclub sah sie ihn. Lagerhalle, stahlblaue Beleuchtung und ein kaltblütiges Gewitter an Lichtern, inmitten derer Lamin tanzte, er war nicht zu brechen, nicht zu bändigen. Die Menschen um ihn herum verschwammen ineinander, bildeten eine klumpige Masse und Alicia ging auf ihn zu. Er tanzte weiter, jedoch fand seine Sicht in Alicia einen Fokus.
Zwei Jahre ist das mittlerweile her. Sie war neunzehn, er vierundzwanzig.
»Hier rechts.« Alicias Arm ist gegen das Seitenfenster gelehnt, ihr Kopf wird von ihrer Hand gestützt.
»Hier?«
»Ja. Und dann geradeaus, bis ich Stopp sage.«
Alicia schließt die Augen, als Lamin mit dem roten Hyundai Pony in die Straße ihres Elternhauses einbiegt. Sie atmet ein, die Lider öffnen sich wieder. Sie atmet aus. Der Lindenbaum am Anfang der Straße hat seine Baumkrone aufgespannt. Natursteinmauern, durch deren Fugen das Grün drängt. Angrenzend daran die Vorgärten der Häuser, Hortensien schließen hier an Stockrosen an, Stauden vor den Hauswänden, Purpurglöckchen, Pfingstrosen, grüne Büsche in Eintönigkeit achtsam zurechtgeschnitten. Die Häuser geben einander und der Natur ausreichend Raum. Die stille, asphaltierte Straße steigt steil an und lässt Alicias Elternhaus erst nach ein paar Metern zum Vorschein kommen.
Erinnerungsfetzen krabbeln wie tausende kleine Spinnen in Alicias Seele. Ihr Körper möchte sie in hektischen Bewegungen herunterschütteln, doch er ist gelähmt. Die Zähne schleifen aufeinander, sie knirschen und mahlen, als würden sie Schichten von sich abtragen. Das Gebäude nimmt das Sichtfeld gefangen. Ein Kletterstrauch hat sich um die hohe, weiße Fassade geschlungen, ragt bis zum zweiten von drei Stockwerken - Die Trompetenblume, deren gelb-orange-roten Blüten sich noch nicht zeigen.
Alicias Worte verrauchen als Nachhall einer erschöpften Schallreflexion: »Stopp hier. Das ist es.«
Die Fenster sind ausdruckslose Pupillen von Menschen in U-Bahnen, der warme, braunrote Farbton des Satteldachs ist eine hämisch kalte Lüge.
Die Eingangstür steht weit offen - der leblos herunterhängende Kiefer eines Tierpräparats. Davor wartet bereits Alicias Mutter, die Arme in die Länge gestreckt und eng anliegend an ihrem schwarzen Kleid.
»Scheiße, die steht ja da wie Nosferatu.« Lamins Bemerkung kommt aus dem Nichts.
Alicia mag seinen Humor noch immer. Und doch lacht sie mittlerweile seltener darüber. Sie ist zu müde geworden.
Lamin fährt das Auto seitlich auf den Bordstein, stellt den Motor ab. Er steigt schneller aus der Fahrertür, als Alicia es sich wünscht. Sie wartet einen Moment, dann verlässt auch sie den Wagen.
Lamin hat bereits das Gepäck aus dem Kofferraum geholt. In seiner linken Hand hält er seine Sporttasche, aus seiner rechten nimmt Alicia ihren Koffer entgegen.
Sie gehen auf das Haus zu, Elisabeth steht reglos im Türrahmen als letzte verbliebene Schaufensterpuppe in einem dauerhaft geschlossenen, ausgeräumten Bekleidungsgeschäft. Lamin ist etwas voraus, doch Alicia beschleunigt ihre Schritte, um auf seine Höhe zu kommen. Sie drängt sich so dicht an ihn heran, wie sie es allenfalls vor zwei Jahren gelegentlich tat, insbesondere wenn sie getrunken hatte. Erst aus der Nähe geht das Plastik in Elisbeths Gesicht in eine dünne Haut über, die ihre Falten wie feine gewollte Risse eines chinesischen Craquelé-Porzellans trägt.
»Hallo, ich bin Lamin. Alicias Freund.«
Lamin streckt Elisabeth seine freie Hand hin, doch die ersten Regungen macht ihr Mund. »Ich weiß.« Dann nimmt sie seine Hand mit ihrer knapp entgegen. Lamin lässt sich nichts anmerken, doch er muss die Verbrennungsnarben auf ihrer rechten Handfläche spüren. Narben, wie sie an der gleichen Stelle ebenso bei Alicia eingebrannt sind.
»Bringt eure Sachen erst mal hoch in Alicias Zimmer. Ich mache Essen. Ich denke, so in dreißig Minuten könnt ihr dann wieder runterkommen.«
Alicia nickt. »Ist okay.« Ihre Stimme kriecht verschollen auf dem Grund einer unterirdischen Höhle und dürstet nach einem Echo, das jedoch ausbleibt.
Nachgebende Helle - die Dunkelheit zerrt an ihren Beinen, schleift sie schleppend aus dem Haus. Mit der Gewissheit eines rentablen Aufwands. Die letzten dünn gewordenen Arme der Helligkeit liegen bereits erschlafft auf dem glatten Boden des langgezogenen Flurs, von wo aus eine Wendeltreppe zu Alicias altem Zimmer führt.
Alicia und Lamin tragen das Gepäck die Treppe hinauf. Der Blick nach oben gerichtet, spiralförmig dem Verlauf des Geländers folgend, hypnotisierend. Immer wenn Alicia auf eine der Holzstufen tritt, hinterlässt es den Klang eines grollenden Traumas. Als hätte es sich im Hohlraum der Treppenstufen schlafen gelegt und sie würde es mit ihren Schritten unachtsam wecken. Sie versucht schleichender zu gehen, aber ihr sich beschleunigender Atem ist zu laut, der sich auf ihrer Haut bildende Schweiß zu wahrnehmbar.
Das Podest des zweiten Stocks ist erreicht. Rechts von ihnen eine Eingangstür mit großflächigem Ornamentglas, welches von beigem Holz umrahmt wird. Hier hat Alicias nun verstorbene Großmutter gewohnt und auch ihr Großvater, der allerdings bereits seit elf Jahren nicht mehr am Leben ist. In Alicias Gedächtnis flackert er in fernem Neonlicht als schemenhafte Gestalt auf. Seine Silhouette an Stellen unvollendet skizziert, sodass daraus keine menschliche Form entsteht. Das Gesicht nicht erkennbar, aber weder unsichtbar noch schwarz, sondern von einer nicht existierenden Farbe überzogen. Plötzlich zuckt es wie von einem epileptischen Anfall getrieben vor und zurück, bewegt sich für Sekundenbruchteile in das hektischer werdende Flackern hinein. Knochige Lippen werden beleuchtet, dann ausgedünnte Augenbrauen, eingefallene Wangen, dürre, lange, weiße Haarsträhnen. Lediglich wie unter eine Lupe gehaltene Ausschnitte davon. Der Schweiß auf Alicias Haut hinterlässt eine ekelhafte Kälte, ihr Atem passt sich dem panischen Rhythmus des Flackerns an, bis dieses sich verlangsamt und in ein tiefes Schwarz zurückzieht. Ihre Hand krampft sich um den Griff des Koffers, die Knochen treten weiß hervor.
Lamin streichelt über ihr Schulterblatt: »Alles okay?« Die Finger um den Griff des Koffers lockern sich.
»Ja.«
»Sicher?«
»Sicher.«
Auf halbem Weg vom zweiten ins dritte Stockwerk hängt ein impressionistisches Gemälde an der weißen Wand. Eingeschlossen von einem vergoldeten Rahmen, zeigt es in neblig violett-blauen Farbtönen einen in Öl verlaufenden See, auf dem ein einsames Boot treibt. Das Gemälde hängt dort schon immer, genauso wie das oben anschließende Schwarz-Weiß-Foto. Darauf zu sehen sind zwei namenlose Männer, die seitlich versetzt vor zwei namenlosen Stühlen stehen. Sie tragen dieselben Hüte und dasselbe anonyme Gesicht, das ihren mit Gewissheit längst eingetretenen Tod bereits ankündigt. Der Bilderrahmen ist so formal, dass man ihn nicht bemerkt.
Alicia verharrt hier und bewegt sich gleichzeitig nach oben hin fort, bis sie im Flur des Dachgeschosses steht. Direkt vor ihr die Tür zu ihrem Zimmer, dunkelbraun und aus Holz. Alicia schiebt sie auf. Ihr Kopf wehrt sich gegen apodiktische Hände, die zupacken und versuchen ihn sowohl nach rechts zur Schlafzimmertür ihrer Mutter, als auch nach links zu drehen, wo sich am Ende des Flurarms eine kauernde, in blassem Grün gestrichene Holztür befindet.
»Ist was?« Lamins klare Stimme kommt rechtzeitig. Seine Brust berührt ihren Rücken und er schiebt sie mit sich in ihr...