Schweitzer Fachinformationen
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Jérôme Séguret saß vor dem Lake Pub in seinem Wagen und fragte sich, womit zum Teufel er das alles verdient hatte.
Er kam gerade von Lucy Clarsen, die er in ihrem Zimmer über der Kneipe zurückgelassen hatte, und war enttäuscht und verwirrt.
»Tut mir leid«, hatte sie gesagt. »Es funktioniert eben nicht jedes Mal.«
Er hatte ihr so viel Geld gegeben wie immer, obwohl es nicht so gelaufen war wie geplant. Als er sie gefragt hatte, ob sie sich nächste Woche wieder sehen könnten, hatte sie bloß mit den Schultern gezuckt und eine ausweichende Antwort gegeben. Lucy war ganz locker geblieben, trotz der für ihn zutiefst peinlichen Situation. Er hatte ihr nicht in die Augen schauen können und sich gefragt, wie er sich nur vormachen konnte, dass ihre Sitzungen etwas brachten. Auf dem Weg zum Parkplatz hatte er seine Tochter Léna mit ihren Freunden an der Bar gesehen. Er war zu langsam gewesen; sie hatte ihn entdeckt und auch bemerkt, wen er besucht hatte. Wütend auf sich selbst, hatte er sich zu seinem Auto geschlichen.
Er klappte die Sonnenblende herunter, schob die Abdeckung des Spiegels zur Seite und starrte sich zornig an. Es war gar nicht einmal so lange her, dass alles in Ordnung, dass alles normal gewesen war. Der Familie war es finanziell gut gegangen, er hatte eine Frau gehabt, die er über alles geliebt hatte, und zwei Töchter, auf die er stolz gewesen war, selbst dann noch, als sie in die Pubertät gekommen waren. Damals hatte er noch gelächelt.
Die Augen, die ihm jetzt mit gehetztem Blick aus dem Spiegel entgegenstarrten, waren die eines anderen Mannes. Auf dem Papier war er vierundvierzig. Vor vier Jahren hatte er sich jünger gefühlt, als er war, und auch so ausgesehen. Aber jetzt? Man könnte ihn mindestens zehn Jahre älter schätzen. Sein Haar war schütter geworden, seine Haut fleckig, und seine Augen .
»Herrgott noch mal«, murmelte er, während er die Sonnenblende wieder hochklappte. Er konnte niemandem mehr in die Augen sehen. Vor allem nicht in seine eigenen. Scham und ein schlechtes Gewissen, zu gleichen Teilen. Das war alles, was jetzt noch in seinen Augen stand. Die Hoffnung war verschwunden, genauso wie sein Lächeln. Ausgelöscht an dem Tag, als sie Camille verloren hatten.
Seine Tochter war bei einem Busunfall gestorben, bei dem der Fahrer, eine Lehrerin und achtunddreißig Schüler, alle aus dem gleichen Jahrgang, ums Leben gekommen waren. Zwei Kinder, die ebenfalls für die Exkursion des Biologiekurses angemeldet gewesen waren, hatten sie verpasst. David Follin hatte sich zwei Tage zuvor das Sprunggelenk gebrochen, während er versucht hatte, mit dem Skateboard die längste Treppe der Stadt hinunterzufahren. Sein bester Freund Martin hatte ihn mit dem Handy dabei gefilmt und das Video auf YouTube gestellt, in der Nacht, bevor er selbst bei dem Unfall gestorben war.
Das andere Kind, das die Exkursion verpasst hatte, war Léna, Camilles Zwillingsschwester. An jenem Morgen hatte sie behauptet, krank zu sein. Jérômes Frau, Claire, hatte vermutet, dass Léna schwindelte, ihr dann aber doch geglaubt. Er wusste bis heute nicht, ob seine Tochter die Wahrheit gesagt hatte, hatte sich aber vorgenommen, nie danach zu fragen. Es war Claire gewesen, die Léna zur psychologischen Beratung begleitet hatte, Claire, die das Mädchen in den langen Nächten nach Camilles Tod in den Armen gehalten hatte. Jérôme hatte gespürt, wie die Distanz zwischen ihm und seiner Tochter - und zwischen ihm und seiner Frau - immer größer geworden war, aber er war so mit seiner eigenen Trauer beschäftigt gewesen, dass er nichts dagegen hatte tun können.
Vor dem Unfall waren er und David Follins Vater, Vincent, Freunde gewesen, in der schweren Zeit danach waren sie Saufkumpane geworden.
»David wird nicht damit fertig«, hatte Vincent gesagt. »Immer, wenn er die Eltern, einen Freund oder die Geschwister von einem der Schüler sieht, die gestorben sind, glaubt er, dass sie denken: >Warum du? Warum lebst du noch?< Der Junge kann ja nicht mal atmen, ohne sich schuldig zu fühlen.«
Es hatte kein Jahr gedauert, bis David und seine Familie zurück in Vincents Heimatstadt, Cholet, gezogen waren.
In den Nächten, in denen es Jérôme nicht ertragen konnte, nüchtern zu sein, hatte er Vincents Gesellschaft vermisst. Und das waren in den ersten zwei Jahren nach dem Unfall die meisten Nächte gewesen.
Inzwischen trank er nicht mehr so viel, und wenn, dann in seinem Wohnzimmer. Es war billiger und es war ihm lieber, dabei allein zu sein. Er wohnte jetzt in einem heruntergekommenen Apartment im Zentrum, nicht mehr in dem Haus am Stadtrand, in dem Claire und Léna immer noch lebten. Er musste sparen, was nicht nur daran lag, dass er Miete zahlte - er war öfter bei Lucy Clarsen gewesen, als er es sich leisten konnte.
Bis vor vier Jahren war in Jérômes Leben alles in Ordnung gewesen. Dann war ein Bus von einer Bergstraße abgekommen und hatte sein Leben mit sich in den Abgrund gerissen.
Bis zu dem von der Kirche und der Stadtverwaltung gegründeten Sozialzentrum, das gleichzeitig als Obdachlosenheim fungierte, fuhr man zehn Minuten. Als Jérôme dort ankam, um an den regelmäßig stattfindenden Gesprächsabenden der von dem Busunglück betroffenen Eltern teilzunehmen, war es ihm gelungen, seine Frustration unter Kontrolle zu bringen.
Die Eltern. Na ja, die Eltern, die noch da waren.
Eines Abends hatte er angefangen zu rechnen. Er hatte sich tatsächlich die Mühe gemacht, der Trauer eine Größenordnung zu geben.
Achtunddreißig Kinder, achtunddreißig Familien: sechsundsiebzig Eltern und neunundzwanzig Geschwister. Der Busfahrer hatte eine Frau und zwei Söhne Anfang zwanzig gehabt. Die Lehrerin war verheiratet, aber kinderlos gewesen.
Bei einhundertneun engen Familienangehörigen hatte Jérôme aufgehört zu zählen. Das war's dann gewesen mit der Rechnerei.
Viele waren weggezogen, so wie David Follins Familie. Zu viele Erinnerungen. Von den Eltern, die geblieben waren, hatten die meisten andere Kinder, die noch zur Schule gingen. Sie hatten sich dagegen entschieden, ein trauerndes Kind von seinen Freunden loszureißen und von allem, was vertraut und tröstlich war.
Für fast alle Eltern, die keine weiteren Kinder hatten, war Bleiben unmöglich gewesen. Jérôme hatte sich oft gefragt, was er und Claire getan hätten, wenn Léna auch an dem Ausflug teilgenommen hätte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er sich noch leerer gefühlt hätte als jetzt, aber er war sich sicher, dass Claire ein weiteres Opfer des Unfalls geworden wäre, wenn beide Mädchen gestorben wären.
Léna. Großer Gott, Léna. Sie war so abweisend zu ihren Eltern. So verschlossen und unerreichbar. Sie und Camille waren nicht nur Zwillinge gewesen, sie waren eineiige Zwillinge gewesen. Nach dem Unfall wurde Léna von den Leuten in der Stadt mit einem Argwohn angestarrt, der größer war als alles, was Jérôme je empfunden hatte. Und ganz gewiss größer als das, was David Follin erfahren hatte.
Wenn jemand Léna sah, sah er auch Camille. Ihr ganzes Leben lang hatten die Mädchen damit gespielt, dass sie ständig miteinander verwechselt wurden. Häufig gab sich die eine für die andere aus und dann amüsierten sie sich darüber, dass man sie nicht auseinanderhalten konnte, auch wenn es - wie sie behaupteten - so einfach war. Nach Camilles Tod schien diese Verwirrung immer noch vorhanden zu sein, als könnten die Leute sich nicht daran erinnern, welches der beiden Mädchen im Bus gesessen hatte. Einige sprachen Léna mit Camille an und schwiegen entsetzt, sobald sie ihren schrecklichen Fehler und den verstörten Gesichtsausdruck des jungen Mädchens bemerkten. Léna war ein Geist geworden. Eine wandelnde, redende Erinnerung an alles, was sie verloren hatten.
Ich bin nicht tot. Das hatte Léna ihren Eltern entgegengeschrien, wenn sich deren Frustration über das zunehmend unberechenbare Verhalten ihrer Tochter in einer lautstarken Auseinandersetzung entlud. Ich bin nicht tot. Wenn ich gestorben wäre, wärt ihr jetzt vielleicht glücklich.
Claire war zwar eine Weile zu den Treffen der Selbsthilfegruppe mitgegangen, hatte aber damit aufgehört, als ihre Beziehung zu Pierre, dem Leiter des Sozialzentrums, enger geworden war.
Jérôme hatte es zuerst gar nicht bemerkt. Er hatte ihr geglaubt, als sie gesagt hatte, sie habe die Gruppe satt, wisse aber, dass Jérôme mehr davon profitiere als sie. Es hatte erst einen Sinn ergeben, als sie Jérôme schließlich von sich und Pierre erzählt hatte.
Nach dem darauf folgenden Streit hatte er die Koffer gepackt. Es war natürlich klar gewesen, wer gehen würde. Léna brauchte ihre Mutter mehr als ihn.
Jérôme blieb vor dem Eingang des Sozialzentrums stehen. Es bestand aus einem Hauptbau und mehreren Nebengebäuden, hoch oben an einem Hang, mit Blick auf die Stadt. Ein friedlicher Ort; abgelegen, aber da die Stadt in Sichtweite war, fühlte man sich nicht isoliert. Perfekt, um gebrochene Seelen zu heilen, wie Jérôme annahm.
Er wünschte, er hätte noch Zeit, um eine Zigarette zu rauchen. Nach Einbruch der Dunkelheit gefiel ihm der Blick von hier oben - nachts sah die Stadt lebendiger aus, und Leben war etwas, das ihm fehlte. Aber er war schon ein wenig zu spät dran, daher ging er hinein.
Etwa zwanzig Personen waren gekommen, wie immer. Die meisten Eltern wechselten sich mit ihrem Partner ab. Jérôme fiel auf, dass sowohl Sandrine als auch ihr Mann anwesend waren, aber die beiden waren eine Ausnahme - Sandrine opferte den größten Teil ihrer Freizeit, um im Sozialzentrum auszuhelfen, und sie versäumte kein einziges...
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