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Hugo war der Fremde. Man nannte ihn "Opa", auch wenn das Wort unpassend schien für einen, der entrückte Erinnerung war. Hugo war da, und er war nicht da. Von Anfang an war er uns abhandengekommen. "Opa" drückt Vertrauen und Nähe aus; Hugo war immer der verwehte Traum eines Großvaters. Eine schemenhafte Gestalt, die man aus Verlegenheit "Opa" nannte, von der man nicht einmal mehr ahnte, dass sie eine Geschichte gehabt haben könnte.
Wie ihn am besten nennen? Opa? Großvater? Wie sich einem Mann annähern, der auf Fotos schlank und filigran wirkt, sodass er fast etwas Zerbrechliches an sich hat? Hugo ist mein Großvater, ohne dass er es je gewesen ist. Ein Opa ohne Kopf. Wie ihn also nennen? Vielleicht einfach nur Hugo.
Hugo ist der Unbekannte, dessen Leben und Sterben an uns, seine Verwandten, als kalter Kern familiären Unglücks bis heute heranreicht: Als Vater wurde er seinen vier unmündigen Kindern entrissen; seine Frau Maria wurde zur Witwe; er starb nicht für Volk und Vaterland, sondern durch Volk und Vaterland, was ihm Volk und Vaterland weit über seinen Tod hinaus übelnahmen. Sekunden des Grauens unter dem Fallbeil machten Jahrzehnte der Erinnerung zunichte. Der festgefrorene Augenblick, als Hugos Leben auf der Guillotine verlosch, legte sich irgendwann über sein ganzes Dasein, bis auch dieser eine, schreckliche Moment nur mehr Erinnerung war. Das barbarische Ende verzerrte seine Existenz, entstellte sie bis zur Unkenntlichkeit. Was blieb, waren Trauer und Trauma, die sich selten unverhüllt zeigten, nie mit fratzenhaftem, bedrohlichem Antlitz gegen seine Hinterbliebenen anstürmten, gerade so, als wäre ein Verwandter ohne Kopf das Normalste der Welt: An den Scherben von Hugos Schicksal schnitt und schneidet sich seine Familie bis heute die Finger wund, die einen mehr, die anderen weniger; die einen, indem sie sich an das Wenige, was man von Hugo weiß, zu erinnern versuchen, die anderen, indem sie ihn in die tiefste Hölle des Vergessens verdammen.
In der Familie fielen die immergleichen Sätze über Hugo. Er sei Zollwachebeamter gewesen, ein frommer Mann, dem im Krieg das Schlimmste widerfahren sei. Irgendwie gehörte er zur Familie, und dann auch wieder nicht. In der Welt außerhalb kam er so gut wie nicht vor. Lustenau, das Vorarlberger Heimatdorf des Großvaters nahe der Schweizer Grenze, in dem auch ich aufwuchs, hüllte sich in Schweigen. Ich kann mich nicht daran erinnern, als Kind und Jugendlicher jemals auf Hugo angesprochen worden zu sein, in einem Ort, in dem die Frage "Wem gehörst du?", in klingendem Dialekt vorgebracht, zum Ritual jedes Kennenlernens gehört, damals wie heute. Jahrzehntelang sah sich in Lustenau niemand dazu veranlasst, den wenigen Spuren von Hugo, der sich vor dem endgültigen Vergessen mit knapper Not in das Gedächtnis seiner Familie gerettet hatte, zu folgen. Man schwieg sich aus, während Hugo durch die Geschichten und Legenden der Familie geisterte, als sei er nie wirklich mitgemeint, auch wenn man über ihn sprach.
Die Letzten, die Hugo näher kannten, sind tot, seine Frau Maria und seine Kinder Anita, Imelda, Josef und Quido, mein Vater. Man kann sich Hugo nur mit Hilfe seiner hinterlassenen Lebensspuren in den beiden Alukisten nähern, durch wenige Relikte und Artefakte, die in meinem Lustenauer Elternhaus, in dem der Großvater nie wohnte, aufbewahrt sind.
Da ist das gemalte Bild im Goldrahmen an der Wand des Fernsehzimmers, das einen ernst dreinblickenden Mann mit abstehenden Ohren und angespannter, wie gemeißelter Miene zeigt, die Haare kurz, der Blick geradeaus gerichtet. In meiner Erinnerung verschmilzt Hugos Augenspiel mit dem eines eigenbrötlerischen Hausgastes, der immer da war, dessen Präsenz aber auch immer etwas Statuarisches hatte; ein schweigsamer Mitbewohner, der nie da war.
Wenige Gegenstände bergen Hugos Lebenstragödie: sein Bajonett aus dem Ersten Weltkrieg, gefährlich spitz; die grüne Uniformjacke mit den billig wirkenden silbrigen Kordeln im Keller, nicht meine Größe, an den Schultern zu eng, die Ärmel zu kurz, die Dienstkleidung eines Beamten der Reichsfinanzverwaltung des Deutschen Reichs im Range eines Oberzollinspektors; das in hellbraunes Packpapier eingeschlagene Buch "Das österreichische Zollrecht und Zollverfahren", abgegriffen und zerfleddert von seiner Wanderung durch Zeiten und Räume, die Seiten übersät mit Hugos handschriftlichen Anmerkungen, vieles davon in stenografischen Kürzeln, eingelegte Zettel, selbstgebastelte Register - das Dienstbuch eines beflissenen Beamten; die große Heckenschere mit den vom vielen Handhaben schwarz gewordenen Holzholmen; das Sofa mit kratzigem Bezug und steil aufragenden Seitenteilen, auf dem mein Bruder und ich später lagen und oft Kinderkrankheiten auskurierten, längst entsorgt; es gibt ein Foto, auf dem das Sofa für ein Familienbild im Garten steht, Hugo links hinten in weißem Hemd, Anzugweste und Krawatte, eine Lederschürze umgebunden, offenbar ein Augenblick zwischen Arbeit und Feierlichkeit. Schließlich das Kreuz, groß, wuchtig, die Inschrift "INRI" über dem Holzheiland. Auf einem der alten Fotos hängt es in einem Zimmer, in dem Freunde der Familie und Hugos Schwiegereltern um einen Tisch mit Kuchen und Weingläsern sitzen, der Großvater in der Mitte. Jesus am Kreuz verließ Hugo sein Leben lang nie.
Abb. 1: Augenblick zwischen Arbeit und Feierlichkeit - Hugo als Familienmensch (undatiert)
Abb. 2: Im Schatten des Holzheilands - Hugo mit Freunden und Schwiegereltern (März 1932)
Und da waren und sind die wenigen Erzählungen über Hugo, nicht mehr als Splitter und Flickwerk aus einem zerrissenen Leben: Hugo sei, besagt die Familienüberlieferung, ein unerschrockener Mann gewesen, einer, der in dunkler Zeit zu seinen Idealen gestanden sei. An einem Kiosk in Innsbruck habe er sich gegen Kriegsende geringschätzig über Hitlers Regime geäußert, er sei denunziert und bald darauf in München, Jahrzehnte vor meiner Geburt, zum Tod verurteilt worden. So lange ich zurückdenken kann, stellte ich mir vor, wie Hugo zwischen Zeitungsständern und vor Zigarettenschachtelreihen steht und dabei vor den Falschen das Falsche sagt und durch deren stilles Schäumen und gehässiges Geifern am Ende in der Todeszelle landet. Weshalb ich mir dazu immer eine Szene voller Sonne ausmalte, weiß ich nicht. Opa ohne Kopf. Lange Zeit ließ sich die Geschichte des Großvaters in einem Satz erzählen. Nichtwissen und Nichtwissenwollen wurden in die ewig gleichen Andeutungen gekleidet. Es seien undatierte Fotos in Schubladen vorhanden, man erinnere sich auch an Briefe aus der Haft - Konkretes und Belegbares aber, mit dessen Hilfe sich diese Biografie, Stück für Stück, vergegenwärtigen ließe, sei nicht mehr verfügbar, man habe sich mit den Lücken im Lebenslauf abzufinden. Hugo war da. Und er war nie da.
Die wenigen Geschichten, die über Hugo erzählt wurden, gewannen von ihrem drastischen Ende her an Bedeutung. Der Weg seines Sterbens gab seinem Leben erst einen Sinn. Von seinem Dasein gab es dafür kaum ein Bild, das blieb. Ich erinnere mich, wie erzählt wurde, dass Hugo im Himmel, in den auch wir dereinst kämen, auf uns warte. Ich erinnere mich, wie es hieß, Hugo habe Italienisch gesprochen. Hätten die Nazis meinen Großvater nicht umgebracht, wäre mein Vater als Sohn eines Italieners aufgewachsen, dann spräche ich unter Umständen Hugos Muttersprache, sicher Brocken davon. Den großen ausgefuchsten Geschichtstableaus habe ich immer misstraut. Durch Hugo erfuhr ich, dass Geschichte bis in die haarfeinen Ritzen und Spalten des Lebens sickert. Dass nur ein Großvater mit Kopf mit seinen Enkeln in seiner Muttersprache spricht.
Ich erinnere mich an das Rosenkranzbeten als Kind, an den Stubentisch, um den zu Allerseelen die Verwandten versammelt waren. An die sägenden Stimmen der Tanten und Freundinnen der Familie, an die quälende Unaufhörlichkeit des Gebets: Vater unser. Gegrüßet seist du, Maria. Herr, gib Hugo die ewige Ruhe. Und das ewige Licht leuchte ihm. Herr, lass Hugo ruhen in Frieden und schenke auch uns eine glückliche letzte Stunde. Hugos Name blitzte im Totengebet nach dem Rosenkranz auf, der in unserer Stube so lange heruntergeleiert wurde, bis die meisten Mitbeter der Reihe nach selbst verstorben waren.
Ich erinnere mich, wie ich als Kind in der Nachtkästchenschublade auf der Bettseite meines Vaters einen Schatz fand, eine Kostbarkeit hinter Glas, schwarzer Fond, zart goldumrahmt, in der Mitte Hugos Porträtfoto, darüber ein stilisierter Zweig, in gekünstelter Handschrift: "Dem lb. Quido! Dem lb. Schätzle extra Grüße. Sei immer brav und gedenke jeden Tag an mich wie auch ich an Dich denke, ehe Du erwachst. Dein Vater." Ich erinnere mich, wie mir als Kind beim Lesen Tränen in die Augen stiegen.
Mein Vater war sieben Jahre alt, als Hugo hingerichtet wurde. Quido erzählte nie viel von seinem Vater, an den er wenige Erinnerungen hatte. Hugo habe ihn am ersten Volksschultag begleitet, Hand in Hand, darauf vergaß Quido nie; danach habe er Hugo nie mehr gesehen. Ich erinnere mich, wie Hugos Nachricht an sein Schätzle später am Kopfende des Bettes von meinem Vater hing, über seinen Tod vor einigen Jahren hinaus, bis heute.
Abb. 3: Kostbarkeit hinter Glas - Erinnerungstafel für Sohn Quido
Verstreute Spuren eines Daseins, das sich zu keinem Ganzen fügen wollte. Hugos Geschichte ist eine Geschichte des Vergessens, Verschlampens, Verdrängens. So gesehen zeugte jahrzehntelang einzig sein Name auf zwei Grabsteinen, der eine auf dem Friedhof im Lustenauer Ortsteil Rheindorf rechts beim Eingang, der andere mitten auf dem Bludenzer Begräbnisfeld, von diesem...
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