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Die braune Stute war nass geschwitzt, so sehr hatte Carsten sie gejagt. Lorelei vereinigte in sich die besten Anlagen eines Holsteiner Pferdes. Sie war fast so groß und massig wie ein Kaltblüter, besaß aber mehr Temperament und Schnelligkeit als diese Arbeitstiere, die seit jeher in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Vom Charakter her war sie nervenstark und zuverlässig.
Carsten behauptete trotzdem immer, Lorelei sei ihm viel zu langweilig. Er brauche ein wirklich feuriges Ross, am besten ein Englisches Vollblut, um die schwere Rasse der Holsteiner zu veredeln.
Auf diese Weise zog er sich regelmäßig den Zorn seines Vaters zu. Ob er denn keine anderen Sorgen habe, hieß es dann. Es sei schwer genug, die Zucht wiederaufzubauen, nachdem so viele Pferde im Großen Krieg eingezogen worden und verendet waren. Man könne von Glück sagen, dass überhaupt noch genug Zuchtstuten vorhanden seien. Es sei schon schlimm genug, dass man auf fremde Deckhengste zurückgreifen müsse.
Damit spielte Wilhelm Friederkamp natürlich auf Landknecht an, Loreleis Vater, der nicht mehr zum Beschäler taugte, weil er sich nie von den Schrecken seines Kriegseinsatzes erholt hatte. Er war das verstörte, ja bösartige Pferd geblieben, als das er heimgekehrt war, und konnte nie mehr in die Nähe einer Stute gelassen werden, da er sogar nach Artgenossen austrat oder ihnen schwere Bisswunden zufügte. Wenigstens hatte er vor dem Krieg für Nachkommen gesorgt, und ein paar seiner Söhne und Töchter waren prächtig geraten.
Landknecht bekam sein Gnadenbrot auf Gut Friederkamp, aber niemand außer seinem alten Freund Olaf Eriksen traute sich noch in seine Nähe.
Stella schon gar nicht.
Während Carsten jetzt behände aus dem Sattel sprang, befühlte sie instinktiv die lange, mit den Jahren verblasste Narbe an ihrem Haaransatz. Dort hatte sie damals ein Vorderhuf des Hengstes getroffen, als sie so dumm gewesen war, in seine Box zu schlüpfen. Das war an jenem Tag passiert, an dem Gutsherr und Verwalter aus dem Krieg zurückerwartet worden waren. Stella, zu dem Zeitpunkt fünfzehn Jahre alt, wollte den wildgewordenen Hengst bändigen, um ihrem Vater eine Freude zu machen. Aber gerade als Landknecht an dem Apfel in ihrer Hand schnupperte, hatte es draußen einen Knall gegeben, eine Fehlzündung des Adler Phaetons, und das Pferd war hochgegangen. Hätte Carsten sie nicht in letzter Sekunde aus der Box gezogen, wäre sie wohl von den Hufen erschlagen worden.
«Hallo, Lütte», sagte er jetzt, und sein Grinsen wurde noch um einiges breiter. «Bist du mal wieder vor deinem Vater auf der Flucht?»
Er ragte über ihr auf, auch nachdem er abgestiegen war. Carsten war fast eins neunzig groß, ein Baum von einem Mann, mit kräftigen Schultern und muskelbepackten Oberarmen. Seine Haare besaßen die Farbe von reifem Sommerweizen, und die blauen Augen waren so dunkel wie Kornblumen. Außerdem nannte Carsten eine Selbstsicherheit sein Eigen, die fast schon an Arroganz grenzte. Wenn er einen Raum betrat, so nahm er diesen vollkommen ein. Stella hingegen verschmolz mit dem Hintergrund.
«Na, bist du stumm geworden? So schlimm heute?» Seine Stimme klang weich, und er lächelte freundlich auf sie herab.
Dennoch nickte sie nur. Noch immer war sie unfähig, einen Ton von sich zu geben. Stella hielt sich selbst für kindisch, weil Carsten sie allein durch seine Nähe regelmäßig in Verlegenheit brachte. Früher war sie völlig ungezwungen mit ihm umgegangen. Als Kinder waren sie die besten Freunde gewesen, fast wie Bruder und Schwester, schließlich hatten sie dieselbe Ziehmutter gehabt. Stella hatte es sogar genossen, dass er sie nicht mit Samthandschuhen anfasste wegen ihres Asthmas, wie es sämtliche Erwachsenen taten. War sie mit ihm zusammen, dann fühlte sie sich beinahe gesund und normal.
Aber mit der Zeit hatten sich ihre Gefühle für Carsten gewandelt, sie traute sich jedoch nicht, sie ihm zu zeigen. So verlor sie jegliche Leichtigkeit im Umgang mit ihm und schwieg meistens in seiner Gegenwart.
Carsten schien von alldem nie etwas zu bemerken. Er ging noch immer mit ihr um wie mit einer guten Freundin oder einer kleinen Schwester. Wenn sie sich begegneten, war er zuvorkommend und immer gleichbleibend nett. Manchmal neckte er sie, andere Male schaute er sie mit einem Lächeln an, das beinahe zärtlich wirkte. Aber er kam offenbar gar nicht auf die Idee, zwischen ihnen könnte sich etwas geändert haben.
Der junge Friederkamp hatte es auch nicht nötig, auf die Liebe der Verwalterstochter zu warten. Er war einundzwanzig Jahre alt und galt als Schwarm aller Mädchen im weiten Umkreis. Ein wahrer Prachtkerl, zudem der Erbe eines großen Hofes. Jede Familie in Holstein und darüber hinaus hätte ihn mit Handkuss zum Schwiegersohn genommen. Daher machte sich Stella keinerlei Hoffnungen. Doch einfach vergessen konnte sie ihre Gefühle auch nicht. So blieb ihr nur die Liebe in der Stille.
«Gehen wir zusammen zurück?», fragte er jetzt. Ihr Schweigen machte ihm nichts aus. Wahrscheinlich, so dachte Stella halb amüsiert, halb bedrückt, war er ganz froh, wenn ein Mädchen mal nicht so viel plapperte. «Ich muss Lorelei ohnehin führen, damit sie nicht erhitzt im Stall ankommt. Mein Vater stellt mich sonst vor ein Erschießungskommando.»
Die Stute warf den Kopf auf und nieder, wobei kleine weiße Schaumflocken von ihrem Maul davonflogen. Ihre nassen Flanken zitterten, und die Hufe scharrten unruhig auf dem Waldboden. Obwohl zu massig für ein elegantes, modernes Pferd, war sie wunderschön, fand Stella. Trotzdem wollte sie dem großen Tier nicht zu nahe kommen.
Sie wusste, im vergangenen Jahr war Lorelei nicht trächtig geworden. Deshalb hatte Carsten die Erlaubnis erhalten, sie für seine Ausritte zu nehmen. Alle anderen fünf Stuten auf Friederkamp trugen inzwischen schwer an ihren sich rundenden Bäuchen. Im April und Mai würde es wieder Fohlen geben, und eine neue Generation von Holsteiner Pferden würde heranwachsen. Für Stella war dies die schönste Zeit des Jahres, denn sie brachte Hoffnung mit, auf Glück, auf Veränderung.
«Nun, kommst du mit, Lütte?», hakte Carsten nach. Er wurde langsam ungeduldig.
«Gern», sagte sie. Immerhin. Ein Wort.
«Na, denn mal los.» Er legte sich die Zügel kurz um den Arm, damit er die Hände frei hatte, um sich eine filterlose Zigarette anzuzünden. Das Rauchen hatte er sich schon vor ein paar Jahren angewöhnt. Stella mochte den Geruch nicht, aber es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, Carsten deswegen zu kritisieren.
Als die Zigarette brannte, nahm er die Zügel wieder fest in die Hand und marschierte vorneweg. Im Wald musste Stella hinter ihm und Lorelei bleiben und ließ einen gehörigen Sicherheitsabstand zur Stute, aber auf dem Feldweg, der zunächst noch am Waldrand entlangführte, konnte sie neben ihm laufen. Das Pferd hielt Carsten auf seiner anderen Seite fest am Zügel, und Stella fühlte sich beschützt.
Die Regenwolken brachen nun endgültig auf, und ein paar schwache Sonnenstrahlen tasteten sich zögerlich zu Boden.
«Ein Glück», meinte Carsten. «Wenigstens bin ich nicht klatschnass geworden.»
«Du hättest dir trotzdem eine Jacke anziehen sollen.» Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Carsten lachte. «Jetzt klingst du beinahe wie unsere strenge Florentine.»
Wie Stella war auch er ohne Mutter aufgewachsen. Margarethe Friederkamp war an einer Lungenentzündung gestorben, als ihr einziges Kind fünf Jahre alt gewesen war. Sein Vater hatte nicht wieder geheiratet. Es hatte andere Frauen im Leben des Gutsherrn gegeben, wunderschöne Frauen, doch sie kamen und gingen. Keine hinterließ einen bleibenden Eindruck auf dem Hof, keine wurde geheiratet, keine war gut genug, Margarethes Platz einzunehmen. Das Schicksal, Halbwaisen zu sein, hatte Carsten und Stella miteinander verbunden. Und sie beide hatten in der Mamsell eine Art Ersatzmutter gefunden, obwohl Carsten sich einige Jahre früher als sie von deren Rockzipfel gelöst hatte.
Stella schwieg wieder. Sie wollte weder mit Florentine verglichen werden, noch schätzte sie es, von ihm Lütte, also Kleine, genannt zu werden. Er sollte sie einmal, nur ein einziges Mal, als junge, schöne und liebenswerte Frau wahrnehmen.
Aber nicht in diesem langen grauen Rock, schoss es ihr durch den Kopf. Und nicht mit diesem dicken Haarzopf. Sie fand selbst, sie sah aus wie eine alte Jungfer aus dem vorigen Jahrhundert.
Carsten achtete nicht weiter auf sie, sondern sprach über sein Lieblingsthema, die Pferdezucht. Zwar war Gut Friederkamp nach wie vor ein Mischbetrieb mit Getreideanbau, Schweinemast und Milchviehhaltung, aber das Gestüt liebte Carsten am meisten. Seinem Vater erging es nicht viel anders, doch Wilhelm Friederkamp wusste, wo seine Verantwortung lag. Auch vier Jahre nach Kriegsende hatte sich die Landwirtschaft noch nicht vollends erholt, und die Menschen in Kiel, Lübeck und Hamburg brauchten Brot und Milch, Wurst, Kartoffeln und Eier - keine teuren Reitpferde für ihr Vergnügen.
Genau darin gipfelte der größte Streit zwischen Vater und Sohn. Wilhelm war durchaus gewillt, die Zucht in kleinem Rahmen weiterzuführen, aber es sollten Holsteiner der alten Art gezüchtet werden. Robust, arbeitswillig, vielseitig einsetzbar auf jedem Bauernhof.
Carsten hatte andere Pläne. Große Pläne. Er träumte von einem modernen Reitpferd. Der neue Holsteiner-Typ sollte schlanker und eleganter und temperamentvoller sein als seine Vorfahren; ein Pferd, das auch im Sport eine gute Figur machte.
Stella hatte ihm schon oft stundenlang zugehört, wenn er davon schwärmte. Nichts wünschte er sich mehr, als nach...
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