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Einberufung in Leipzig
Am 1. Januar 1945 begann ein schicksalhaftes Jahr für Deutschland, für die Welt, aber auch für mich ganz persönlich. Im April 1945 starben drei Politiker kurz hintereinander: Franklin D. Roosevelt, den seit 4. März 1933 regierenden 32. US-Präsidenten, ereilte der Tod am 12. April. Der italienische Diktator Benito Mussolini, der »Duce«, wurde am 28. April von italienischen Partisanen erschossen und am nächsten Tage aufgehängt. Hitler starb von eigener Hand am 30. April. Am 8. Mai 1945 kapitulierte Deutschland. Damit war der Zweite Weltkrieg zunächst in Europa zu Ende.
Noch an Roosevelts Todestag hatte Hitler in seinem Bunker unter der Reichskanzlei Hoffnung geschöpft, die Allianz seiner Gegner könnte zerbrechen, und sein Propagandaminister Joseph Goebbels bestärkte ihn in diesem Glauben. Beide dachten an »das Wunder des Hauses Brandenburg«. Aber die Wunder, die Friedrich den Großen 1759 und 1762 retteten, traten im April 1945 nicht ein. Wie war es im Siebenjährigen Krieg (1756-63) zu diesem »Wunder« gekommen?
1759 verlor der Preußenkönig Friedrich II., den man schon zu Lebzeiten den »Großen« nannte, die Schlacht bei Kunersdorf. Es war dies der schwerste Schlag, der den König je getroffen hat. Seinem Minister, dem Grafen Finkenstein, schrieb er damals: ». mein Rock ist von Kugeln durchlöchert, zwei meiner Pferde wurden erschossen. Mein Unglück ist es, dass ich noch lebe. Unsere Niederlage ist sehr beträchtlich: Von einer Armee von 48 000 Mann sind mir knapp 3000 verblieben. In dem Augenblick, wo ich dies berichte, flieht alles und ich bin nicht mehr Herr meiner Truppen . Ich habe keine Ressourcen mehr und glaube, offen gestanden, dass alles verloren ist. Ich will nach dem Untergang meines Vaterlandes auf keinen Fall weiterleben .«1 Jedoch brachte dieser Sieg für die verbündeten Russen und Österreicher nicht den erhofften Gewinn der später »Siebenjähriger Krieg« genannten Auseinandersetzung. In Anbetracht der beträchtlichen Verluste der Russen, sie verloren in dieser Schlacht 24 000 Mann, konnte man fast von einem Pyrrhussieg sprechen. Daher weigerte sich der russische General Saltykow, seine erschöpften Streitkräfte gemeinsam mit der unter dem Befehl des Generals Laudon stehenden österreichischen Armee auf die von preußischen Truppen entblößte Hauptstadt Berlin marschieren zu lassen.
Friedrich II. nutzte die Unschlüssigkeit seiner Gegner. Er ließ die letzten Reserven an Menschen und Material heranführen und befreite sich aus der Umklammerung. Dann ergriff der König, dank seiner unbestrittenen strategischen Fähigkeiten, wieder die Initiative in einem Kriege, in dem er, nach Einwohnern gemessen, gegen eine 20fache Übermacht kämpfte!
Gerettet wurde Friedrich der Große schließlich durch den Thronwechsel in Russland. Seine ärgste Feindin, die Zarin Elisabeth, starb am 5. Januar 1762. Der Nachfolger, Peter III., ein Neffe der verstorbenen Zarin, war ein glühender Bewunderer des Preußenkönigs. Er schloss kurz nach seiner Thronbesteigung einen Separatfrieden mit Friedrich II. und gab die eroberten Gebiete an Preußen zurück. Peter III. schickte sogar dem Preußenkönig ein 20 000 Mann starkes russisches Korps zu Hilfe.
Das Ausscheiden der Russen aus der Allianz führte schließlich zur Auflösung der Kriegskoalition jener Mächte (Russland, Österreich, Frankreich, Schweden, Sachsen und die deutsche Reichsarmee), die, wie die österreichische Kaiserin Maria Theresia, in dem Preußenkönig die »Inkarnation des Bösen« sahen.
Der Siebenjährige Krieg endete 1763 mit dem Status quo. Friedrich der Große blieb im Besitz Schlesiens, das er 1740/42 im Ersten Schlesischen Krieg erobert hatte.2
Eine derartige Wende des Kriegsverlaufes wie 1762 erhoffte sich im April 1945 Hitler noch kurz vor seinem Untergang vom Tode des US-Präsidenten Roosevelt. Aber konnte er wirklich annehmen, dass der neue US-Präsident Truman im April 1945 die Fronten wechseln würde, um mit Hitler ein Bündnis gegen die von Kommunisten regierte Sowjetunion zu schließen? Friedrich der Große betrieb zwar eine aggressive Kriegspolitik, bewegte sich in seinem Denken und Handeln aber im Rahmen der Wert- und Moralmaßstäbe seiner Zeit. Hitler hingegen hatte sich durch Rassenwahn und Völkermord außerhalb der gültigen menschlichen Sittengesetze gestellt.
Am 1. Januar 1945 hatten wir, meine Pflegemutter, von mir immer »Tante Lissy« genannt, ihr fünfjähriger Sohn Peter und ich, der Pflegesohn, meinen Pflegevater, von mir immer »Onkel Kurt« genannt, zum Leipziger Hauptbahnhof gebracht. Onkel Kurt, Jahrgang 1906, war seit 1943 Soldat. Sein Weihnachtsurlaub 1944 lief nun ab. Er musste an diesem Neujahrstag die Rückreise zu seiner in Kopenhagen stationierten Wehrmachtseinheit antreten.
Für die Verabschiedung bot der von den Luftangriffen schwer in Mitleidenschaft gezogene Hauptbahnhof eine triste Kulisse. Eine Bombe hatte den Querbahnsteig getroffen, der eingestürzt war. Nur über Planken gelangte man noch zu den Bahnsteigen der insgesamt 26 Gleise dieses Kopfbahnhofes. 1915, im Jahre seiner Vollendung, hatte er als der größte Bahnhof der Welt und zugleich der schönste in Europa gegolten. Wir Leipziger waren immer stolz auf »unseren« Bahnhof gewesen und hatten das auch gezeigt, wenn wir dort Gäste begrüßen und abholen konnten. Daher tat es uns geradezu körperlich weh, wenn wir das geschundene Gebäude betreten mussten.
Noch am zweiten Weihnachtsfeiertag 1944, es war ein Dienstag, hatte sich die vielköpfige Familie Hillmer bei den Großeltern versammelt. Vor allem die Eltern und die Geschwister wollten dem Sohn bzw. Bruder Lebewohl sagen, ihm noch einmal die Hand drücken. Zu diesem Zeitpunkt wusste ja keiner, ob und wann sie ihn wiedersehen würden. Tatsächlich kam er erst 1948 aus englischer Gefangenschaft zurück.
Es war kein fröhliches Weihnachten in dem zu Ende gehenden Jahr 1944. Wohl hatten die Kerzen an einem wunderschönen Tannenbaum gebrannt, und die Großmutter hatte auch noch für jeden ein Geschenk in Weihnachtspapier eingepackt. Für die Großen war es etwas kleiner ausgefallen als für uns Enkelkinder. Aber jeden der Erwachsenen hatte die unausgesprochene Frage beschäftigt: Was wird aus Deutschland, wenn wir den Krieg verlieren?
Jeder kannte die aktuelle Kriegslage. Sie ließ kaum mehr Hoffnung auf einen deutschen Sieg aufkommen. Weder die so genannten Vergeltungswaffen, V 1 und V 2, noch die zum Ende des Jahres 1944 im Westen gestartete Ardennen-Offensive hatten die Wende gebracht. Einige seiner Geschwister, allen voran seine Schwester Hilda, hatten daher an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag ihrem Bruder Kurt geraten, zu desertieren und bis Kriegsende unterzutauchen.
Onkel Kurt hatte bis zu seiner Einberufung zum Wehrdienst im Frühjahr 1943 als Werkmeister in der weltbekannten Leipziger Wollkämmerei gearbeitet. Er war kein Nazi, wohl aber ein von klaren Prinzipien und Wertvorstellungen geprägter Mensch. Aus seiner Einstellung machte er Dritten gegenüber kein Hehl. Er erklärte, er habe einen Eid geschworen. Seine Kameraden, die ihren Dienst in Dänemark leisteten, würden fest mit seiner Rückkehr rechnen. Er müsse seine Pflicht tun und könne sie daher nicht im Stich lassen. Selbst sein jüngerer Bruder Herbert, der als Soldat im September 1939 bei den Kämpfen um Warschau sein rechtes Bein verloren hatte, meinte, Kurt solle so handeln, wie es ihm sein Gewissen befehle.
Tante Lissy, die ihren Kurt genau kannte, hatte, trotz aller Sorgen um den geliebten Mann, gar nicht erst versucht, den Einflüsterungen seiner Geschwister mit ihrer Stimme Gewicht zu verleihen. Auch seine Eltern, also meine Großeltern, achteten den Standpunkt ihres Sohnes Kurt.
Auf dem Bahnsteig konnte Tante Lissy nur mühsam die Tränen zurückhalten. Auch mir fiel kein passendes Abschiedswort ein. Onkel Kurt, der früher so frohe und zu Scherzen aufgelegte Mann, schaute uns mit traurigen Augen an.
Ich dachte zurück an die Jahre 1938 bis zu seiner Einberufung im Jahre 1943, wo er mit mir in seiner Freizeit oft Tischfußball gespielt hatte, als wäre er selbst noch ein Junge. Verlieren wollte damals auch er nicht. Es ging immer hoch her. Es wurde zweimal zehn Minuten gespielt, genau nach der Uhr. Manchmal fiel erst im letzten Moment das Siegtor. So musste ich mich jetzt arg zusammennehmen, um nicht einfach loszuflennen. Abschied nehmen am Bahnhof, das ist schon in Friedenszeiten oft eine traurige Sache, aber unter solchen Gegebenheiten berührt die Trennung Herz und Seele.
Noch war der Urlauberzug am Gleis 17 nicht eingefahren. Zwar sollte er planmäßig bereits fünf Minuten später den Bahnhof in Richtung Hamburg verlassen. Aber wer wusste schon, wo der Zug, der aus München kam, hängen geblieben war. In diesen Zeiten war Pünktlichkeit relativ.
Über Halle, Magdeburg, Stendal, Salzwedel, Uelzen nach Hamburg würde die Strecke führen; dann weiter über Neumünster, Flensburg, auf dänischer Seite nach Fredericia gehen und schließlich nach nahezu eintausend Kilometern in Kopenhagen enden. Eine fast 24 Stunden dauernde Fahrt würde viel Zeit lassen für einen Rückblick auf alle früheren Stationen des Lebens, aber auch zum Grübeln über den anzunehmenden Kriegsausgang und dessen Konsequenzen.
Plötzlich machte sich Unruhe unter den zahlreichen Wartenden bemerkbar. Der Zug kam und hatte doch nur eine Viertelstunde Verspätung. Hastig griff mein Pflegevater nach seinem Tornister und dem Karabiner. Er warf seine große Reisetasche durch ein offen stehendes Abteilfenster. Es dauerte eine Weile, bis alle Soldaten einen Platz gefunden und das Gepäck verstaut hatten.
Nun begann das eigentliche...
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