Schweitzer Fachinformationen
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In der Stunde vor Sonnenaufgang duckte ich mich unter dem Absperrband durch, das über die Einfahrt des Anwesens gespannt war. Wir hatten Frühsommer, aber es war bitter kalt, und ich stand einen Moment lang nur da. Ich musste erst noch richtig wach werden und betrachtete den Suchtrupp, der sich auf Händen und Knien die Böschung hocharbeitete wie ein behäbiges, stilles Tier mit zahlreichen Rücken.
Von Hängebirken gesäumt, stieg die schmale Straße steil zu ihrem höchsten Punkt an, wo ein brandneuer BMW jetzt ein Tatort war. Eine Vielzahl von grellen Punktstrahlern tauchte das Fahrzeug in helleres Licht als der Tag. Alle Türen waren aufgerissen, und CSIs, Spurensicherungsbeamte in weißen Schutzanzügen, bewegten sich mit ihren Pinzetten, Kameras und Asservatenbeuteln im und um das Auto; die Gesichter waren hinter den blauen Nitrilgummimasken nicht zu erkennen. Über den Bäumen pulsierte das Blaulicht unserer Streifenwagen durch die Nacht.
Zwei Frauen kamen aus der Dunkelheit. Sie sahen aus wie eine Bibliothekarin und ein Supermodel, und in der eiskalten Nachtluft lag schwach der metallische Geruch von Wodka. Denn wenn der Anruf kommt, macht man sich auf den Weg. Niemand fragt einen, ob man etwas getrunken habe. Niemand fragt, ob man unter der Wirkung einer Schlaftablette stehe. Niemand fragt, ob die Kinder angemessen betreut würden. Mitten in der Nacht rufen sie an und sagen einem, dass eine Frau aus ihrem Auto entführt worden sei. Und man macht sich auf den Weg.
Die Frauen waren Detective Chief Inspector Pat Whitestone, meine Chefin - schmächtig und mit verschlafenem Blinzeln hinter der John-Lennon-Brille, das helle Haar graumeliert, obwohl sie erst vierzig war -, und Trainee Detective Constable Joy Adams - jung, schwarz, außergewöhnlich groß, das Haar in straffen Cornrows. Joy hatte erst vor einem Jahr die Polizeischule Hendon abgeschlossen und war wohl noch immer für ein paar Pinnchen Wodka zu haben, selbst wenn sie am nächsten Tag Dienst hatte.
»Haben Sie ihr Bild gesehen?«, fragte Whitestone mich. »Die Frau, die entführt wurde? Sie ist eine Schönheit.«
Ich hatte mir das Foto angesehen, das auf mein Handy geschickt worden war, als ich den Anruf erhielt. Es stammte aus dem Führerschein von Jessica Lyle, 22. Langes, dunkles Haar umgab ein blasses Gesicht. Ihr Ausdruck war lichtbildernst, aber ihre Augen lächelten, strahlten beinahe vor Leben. Und selbst auf dem sterilen Porträt von dem einzigen Ausweisdokument, das wir bisher gefunden hatten, sah ich deutlich, wie recht Whitestone hatte.
Jessica Lyle, die entführte junge Frau, war eine Schönheit.
»Ihre Eltern sind da«, sagte DCI Whitestone zu mir. »Sie nehmen ihren Enkel zu sich, sobald der Arzt den Jungen freigibt. Reden Sie mit ihnen, Max.«
Ich nickte. Bei einer Entführung dieser Art war ein abgewiesener Verehrer der wahrscheinlichste Täter. Wenn man die Anweisung erhielt, mit den nächsten Verwandten zu reden, hieß das: Versuchen Sie herauszufinden, ob die Eltern von irgendwelchen nachtragenden Ex-Beziehungen oder liebeskranken Stalkern wussten, die ihrer Tochter nachstellten, sich nicht abweisen lassen wollten und den Unterschied zwischen jemanden lieben und ihm schaden nicht kannten.
Opfer einer Entführung konnte man allerdings auch werden, indem man wie vom Blitz getroffen vollkommen zufällig ausgewählt wurde, das größte vorstellbare Pech.
Whitestone schauderte. Es war Juni, aber darauf wäre man in diesem Niemandsland zwischen Nacht und Tag niemals gekommen.
»Der Vater war einer von uns«, sagte Whitestone. »Frank Lyle.«
»Ein Cop? Aber nicht mehr im Dienst?«
»Nach dreißig Jahren bei der Met im Ruhestand.« Hinter den Brillengläsern zeigten Whitestones helle Augen Vorsicht. »Das macht so etwas nie einfacher.«
Dreißig Jahre, dachte ich. Wie viele Feinde kann man sich in dreißig Jahren machen?
Auf der anderen Straßenseite stand ein privater Wachmann neben seinem Van und zog gierig an einer Zigarette. Seine Uniform im Militärstil war ihm mehrere Nummern zu groß.
»Was ist mit Clint Eastwood?«, fragte ich.
»Er behauptet, er habe nichts gesehen«, antwortete Adams. »Es sei in seiner Toilettenpause passiert.«
»Das ist nicht gut.«
»Ich bin noch nicht fertig mit ihm.«
Whitestone und ich standen schweigend da und sahen zu, wie Joy das Notizbuch zückte und auf den Wachmann zutrat; nicht ganz das Schweigen zwischen alten Freunden, aber das Schweigen zweier Profis, die jahrelang zusammengearbeitet haben.
Whitestone nahm die Brille ab und polierte die Gläser an ihrem Ärmel. Ihr Gesicht bekam dabei einen verletzlichen, eulenhaften Ausdruck. Wenn man sie so sah, kam einem das Wort Bücherwurm in den Sinn, und man hätte nie vermutet, dass im Homicide and Serious Crime Command von West End Central niemand Pat Whitestone an Ermittlungserfahrung übertraf. Sie setzte die Brille wieder auf und nickte kurz. Wir folgten der kleinen Allee zum Wagen und kamen uns vor wie mitten auf dem Land. Am Straßenrand stand ein Schild.
EDEN HILL PARK
Privatbesitz
Keine Durchfahrt
Keine Hunde
Whitestone trug einen kleinen Stapel transparenter Trittplatten, mit denen sie einen unkontaminierten Weg zum Tatort legte. Als wir auf der Hügelkuppe waren, gab sie die restlichen Platten mir und streifte sich blaue Plastiküberschuhe über. Der Wagen war so neu, dass er noch nach neuem Leder, poliertem Chrom und frischem Lack roch wie im Autosalon; er duftete nach Geld. Heißes Baby an Bord verkündete ein Aufkleber im Heckfenster. Ein Kriminaltechniker fotografierte den leeren Babysitz auf der Rückbank.
Whitestone nahm mir die Trittplatten wieder ab und schob ihre Brille auf dem Nasenrücken hoch.
»Reden Sie mit Jessicas Mitbewohnerin«, sagte sie. »Sie heißt Snezia Jones. Das Auto gehört ihr.«
Als ich in der Stille auf die pulsierenden Blaulichter zuging, spürte ich, dass ich mich an einem der höchsten Punkte Londons befand. Die Luft hier oben war fast so frisch wie in den Alpen. Ich atmete tief ein, als die Straße sich zur Wohnanlage Eden Hill Park öffnete. Sie kam mir vor wie ein Geheimnis, das vor der Stadt verborgen gehalten worden war. Die bescheidene Einfahrt hätte nie vermuten lassen, wie groß die Anlage war. Sie bestand aus einem Gebäude mit Luxusapartments und einer Vielzahl frei stehender Häuser, von riesigen modernen Villen mit über zwei Stockwerke reichenden Glaswänden bis hin zu einer Reihe winziger altmodischer Cottages, die irgendwie den Abrissbirnen der Bauunternehmer entgangen waren. Überall in Eden Park brannte Licht, und die Anwohner lehnten in den Fenstern und starrten auf die Polizeifahrzeuge vor ihren Häusern. Ich fuhr mit dem Aufzug ins oberste Geschoss des Apartmenthauses. Auf dem Korridor waren sämtliche Türen offen. Vor der Wohnung, in die ich wollte, stand ein Streifenbeamter. Der Polizeiarzt wollte gerade gehen.
»Geht es dem Jungen gut, Doc?«, fragte ich ihn.
»Der Junge ist so ziemlich der Einzige, dem es gut geht. Die Eltern stehen unter Schock. Das Gleiche gilt für die junge Dame, Miss Jones. Die Mitbewohnerin. Machen Sie es so kurz, wie es geht.«
Auf dem Sofa im Wohnzimmer hielten sich zwei Frauen umklammert, und ein Mann wiegte ein schlafendes Baby in den Armen. Jessica Lyles Eltern und die Mitbewohnerin. Alle wandten sich mir zu, als ich eintrat.
Frank Lyle war ein zäher alter Ex-Cop mit kurz geschnittenem stahlgrauem Haar und musterte mich aus kühlen, unbeeindruckten Augen, während er sanft seinen schlafenden Enkel schaukelte.
Mrs Lyle war selbst in ihren Fünfzigern noch atemberaubend, das Ebenbild ihrer Tochter in dreißig Jahren. Falls sie überlebt, dachte ich und schob den Gedanken weit weg.
Die Mitbewohnerin, Snezia Jones, war um die dreißig, groß, dünn und beinahe albinoblass. Ihre Haare waren von diesem hellen Blond, dass sie fast schon weiß aussahen.
Beide Frauen hatten geweint. Ich stellte mich vor und zeigte meinen Dienstausweis.
»Ich habe nur ein paar Fragen über Jessica«, sagte ich.
Aber die Eltern hatten Fragen an mich.
»Wieso sollte jemand Jess entführen?«, fragte Mrs Lyle. »Wollen sie ihr wehtun? Was tun sie ihr an?«
»Hör auf damit, Jen«, ermahnte Mr Lyle seine Frau leise. »Hör bitte auf.« Er lächelte ihr sanft zu, dann wandte er sich an mich, hob das Kinn, und das Lächeln verschwand. »Ist irgendwas, das Sie gefunden haben, in IDENT1 aufgetaucht?«
IDENT1 ist die Datenbank der Polizei mit den Fingerabdrücken von zehn Millionen Personen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind.
»So weit sind wir noch nicht, Sir. Ich wollte Sie nur fragen .«
»Aber Sie haben Abdrücke?« Er platzte vor Ungeduld und wiegte seinen Enkel ein wenig fester, wandte das Gesicht ab und hustete - das schleimige Röcheln des lebenslangen Rauchers. Das Baby wimmerte im Schlaf. »Finger, Schuhe, Reifen? Kommen Sie schon. Es muss doch wenigstens Reifenspuren geben. Ich kann nicht fassen, dass Sie so inkompetent sind und nicht einmal Reifenspuren finden können!«
Ich atmete tief durch. Whitestone hatte recht. Mit alten Cops zu tun zu haben machte unsere Arbeit nicht leichter.
»Die Spurensicherung ist noch bei der Arbeit«, sagte ich. »Wie Sie wissen, Mr Lyle, muss jede Reifenspur mit den Fahrzeugen der Anwohner abgeglichen werden. Wir gehen davon aus, dass die Täter Handschuhe getragen haben. Unser Suchtrupp ist bereits die ganze Nacht unterwegs. Wenn Handschuhe weggeworfen wurden, entdecken wir sie. Wir werden Ihre Tochter finden,...
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