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Auf dem Fleischmarkt von Smithfield war alles ruhig.
Unter dem Eindruck der Ereignisse vom Morgen durchquerte ich schaudernd den hohen Torbogen des Marktes, an der Reihe alter roter Telefonzellen und der Plakette vorbei, die die Stelle anzeigte, wo sie William Wallace getötet hatten. Noch war es keine vier Uhr nachmittags, doch die Sonne sank schon hinter die Kuppel der St. Paul's Cathedral.
Am anderen Ende des Platzes war eine Ladenzeile. Die Geschäfte hatten wegen des Feiertags geschlossen, aber aus einer Wohnung darüber drang Musik. Geigen, Flöten und Harfen spielten in einem irrwitzigen Tempo ein Lied über ein Mädchen namens Sally MacLennane. Irische Musik. Fröhliche Musik. Wahrscheinlich die Pogues, dachte ich. Die Aufschrift auf dem dunklen Schaufenster war vom Alter blättrig.
MURPHY & SON
Heizung und Installation - Privat und Gewerbe
vertrauenswürdig und verlässlich
Ich betrat den Eingang neben dem Laden und stieg die Treppe zu den Wohnungen hoch. Einige Bewohner hatten ihren Weihnachtsbaum schon rausgeworfen, aber bei den Murphys wurde noch gefeiert. Es dauerte eine Weile, bis sie mich läuten hörten, so laut sang Shane MacGowan über seine Sally MacLennane, und so laut brüllten die Kinder und Erwachsenen in der Wohnung.
Scout, meine Tochter, öffnete mir die Tür. Fünf Jahre alt und atemlos. Mit rosigen Wangen. Sie hatte einen Heidenspaß. Neben ihr standen Shavon, ein kleines rothaariges Mädchen, das vielleicht ein Jahr jünger war, und ihr kleiner Bruder Damon. Dazu kam ein roter Cavalier King Charles Spaniel, der vor Aufregung keuchte: unser Hund Stan, dem schüchtern ein o-beiniger schwarzer Mischlingswelpe nachschnüffelte, den ich noch nie gesehen hatte.
»Wir müssen doch noch nicht gehen, oder?«, begrüßte mich Scout.
»Und wer ist das?«, gab ich mit einem Blick auf den Mischling zur Antwort.
»Das ist Biscuit«, sagte Shavon.
»Sie essen erst mal ein Wurstbrötchen, Mr Wolfe«, sagte Mrs Murphy. Sie führte mich in die Wohnung, wo mich ihr Mann begrüßte, Big Mikey - ein kleiner, dünner, gepflegt aussehender Mann mit silbrigem Haar und einem adretten Schnurrbart -, und ihr Sohn Little Mikey - ein schwarzhaariger Hüne um die dreißig, der nichts Kleines an sich hatte. Little Mikeys Frau Siobhan gab einem Säugling in Blau das Fläschchen: Baby Mikey.
Der Weihnachtsbaum funkelte und leuchtete. Kirsty MacColl und Shane MacGowan erzählten ihr Märchen von New York. Ich bekam einen Teller mit Wurstbrötchen und eine Flasche Bier. Ich starrte das Bier an, als hätte ich so etwas noch nie gesehen.
»Für Ihren Kaffee ist es schon zu spät«, sagte Mrs Murphy. »Sie brauchen Ihren Schlaf.« Dabei war sie Scouts Tagesmutter, nicht meine.
Ich nickte und bedankte mich murmelnd bei den Murphys dafür, dass sie auf Scout aufgepasst hatten. Wie auf Kommando erhoben sie protestierend die Stimmen, versicherten mir, dass sie keine Mühe mache, eine Freude sei und eine wunderbare Spielgefährtin für die Kleinen. Sie waren die freundlichsten Menschen, die ich kannte.
Ihre Familie war wohl recht klein. Allen Klischees über irische Katholiken zum Trotz war Mikey ein Einzelkind. Doch drei Generationen Mikeys erschienen im Vergleich zu mir, Scout und Stan wie ein gewaltiger Klan.
Die Murphys waren eine Familie selbstständiger Klempner, und ich sah deutlich, dass sie Feiertage eigentlich gar nicht kannten.
Big Mikey wischte auf seinem iPad herum, um zu sehen, wann sie eine Frau aus Barnet mit einem Wasserrohrbruch einschieben konnten. Little Mikey sprach mit einem Mann in Camden, dessen Wasserboiler ausgefallen war. Und als mein Handy vibrierte, wusste ich, dass auch mein Arbeitstag noch nicht zu Ende war.
Ich las die SMS. Es war schlimm. Ein Muskel an meinem linken Auge begann zu zucken. Ich legte eine Hand darüber, damit die Murphys es nicht bemerkten.
Big Mikey und Little Mikey sahen mich mitfühlend an.
»Die Feiertage«, sagte Mrs Murphy beinahe entschuldigend. »Alle Hände voll zu tun.«
Das große Haus gehörte zu einer geschlossenen Wohnanlage in Highgate.
The Garden stand auf dem Tor.
Die Anlage befand sich am höchsten Punkt Londons, am Nordrand von Londons Geldgürtel. Ich stand außen vor dem elektrischen Tor, den Dienstausweis in der Hand, und nahm einen Zug Luft, so frisch und rein und süß, dass sie beinahe alpin anmutete.
Ein Streifenbeamter trug mich in die Anwesenheitsliste ein. Das elektrische Tor fuhr auf. Detective Constable Edie Wren kam mir auf High Heels entgegen. Ihr rotes Haar war hochgesteckt, und sie sah aus, als wäre sie zu einer Verabredung zum Abendessen unterwegs gewesen, als sie den Anruf erhielt.
Ich warf noch einen Blick auf die geschlossene Wohnanlage. »Sind diese Häuser alle Spekulationsobjekte?«
Da es in London mehr Milliardäre gibt als in jeder anderen Stadt auf der Welt, erleben wir oft, dass hochklassige Immobilien aufgekauft und leerstehen gelassen werden, während ihr Wert um ein paar Milliönchen steigt.
Reiche Leute können immer irgendwo anders hin.
»Einige ja, andere nicht«, sagte Edie. »Es ist eine Familie, Max.« Sie zögerte einen Augenblick, als könnte sie es nicht ganz glauben. »Eltern und zwei Kinder. Teenager. Sehr gekonnt. Sieht aus, als wären sie hingerichtet worden.«
Die beiden Torflügel schlossen sich hinter uns.
Sechs große Häuser standen in dem Komplex. Unser Absperrband umgab eines davon, und in dem Kordon legten die Forensiker weiße Schutzanzüge an, während die Streifenpolizisten mit kalten Füßen aufstampften. Winterliche Finsternis zog auf, und die Blaulichter unserer Fahrzeuge durchstachen das Dunkel.
Jenseits der hohen Mauern der geschlossenen Wohnanlage sah ich einen grünen Wald, der sich in die Ferne erstreckte. Doch zwischen den Bäumen und dem wirren Unterholz ragten große Kreuze, Steinengel und hier und da ein altes Mausoleum auf. Ein Friedhof, den die Natur zurückerobert hatte.
Highgate Cemetery.
Uniformierte Beamte klopften an die Türen der anderen Häuser, in deren Fenstern Weihnachtsdekorationen blinkten. Mitten auf der Straße, die unsere Fahrzeuge verstopften, wurde ein privater Wachmann von einem jungen schwarzen Kriminalbeamten befragt. Als Detective Inspector Curtis Gane mich sah, nickte er und legte dem Wachmann eine Hand auf die Schulter. Dem Mann stand vor Schock der Mund offen. Er hatte keine Schuhe an den Füßen.
»Der Wachmann hat es gemeldet«, sagte Edie. »Er machte seine Runde, als er sah, dass die Haustür offen stand. Er ging hinein.«
»Und ist durchs ganze Haus marschiert«, sagte ich.
»Das können wir nicht ändern. Die Spurensicherung hat seine Schuhe, die Abdrücke lassen sich leicht eliminieren.« Edie zeigte auf das elektrische Tor. »Er geht davon aus, dass niemand hier hereinkommt, ohne dass er es merkt.«
»Dann ist der Täter von hinten reingekommen«, sagte ich. »Hinter der Mauer liegt Highgate West Cemetery.«
»Da ist Karl Marx begraben, richtig?«
»Marx ruht auf dem Highgate East Cemetery. Auf der anderen Seite der Swain's Lane, in dem Teil, der für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Hinter der Umfassungsmauer hier liegt der Westteil des Friedhofs, der für die Öffentlichkeit gesperrt ist. Sie öffnen ihn nur gelegentlich für Führungen oder Begräbnisse.«
Edie blickte skeptisch auf den Friedhof im Wald. In der Dämmerung sah man nur noch die Steinengel mit den gebeugten Köpfen.
»Man bestattet da immer noch Menschen?«
Ich nickte. »Von dort wäre ich gekommen«, sagte ich und zog mir ein Paar Schutzhandschuhe über.
Am Absperrband wiesen wir uns aus, und ich trug uns erneut ein. Wir standen noch ganz am Anfang, und unsere Forensiker, kurz SOCOs von Scene of Crime Officers, waren noch nicht ins Haus gegangen. Sie standen bereit in ihren weißen Bunny-Anzügen mit den blauen Handschuhen, aber sie mussten abwarten, bis die Ermittlungsleiterin, Detective Chief Inspector Whitestone, den Verbrechensschauplatz besichtigt und der Tatortfotograf ihn dokumentiert hatte - tadellos und unberührt, genauso entsetzlich wie bei der Entdeckung. Denn sobald wir alle hineingegangen waren, sähe er nie wieder so aus.
Ich hörte das undeutliche elektronische Geschnatter der Airwave-Digitalfunkgeräte, und aus der Entfernung näherten sich weitere Streifenwagen. Ihre Sirenen zerschnitten die Luft, ihr Blaulicht färbte den Abend. Sie alle müssten abwarten, bis DCI Pat Whitestone ihre entscheidend wichtige erste Inspektion abgeschlossen hatte.
Unmittelbar bevor wir die offene Haustür erreichten, an der zwei uniformierte Beamte warteten, blieb Edie stehen.
»Schau mal«, sagte sie. Wir zwei Detective Constables duzten uns mittlerweile.
Jemand hatte eine Holzstange in die Büsche geschoben. Sie war vielleicht drei Meter lang und bestand aus Bambus. Am einen Ende war ein s-förmiges Stück aus silbrigem Metall. Ein Fleischerhaken. Das Ganze sah aus wie eine primitive Angel. Und genau so nannten wir diese verbreitete Form des Einbruchs.
»Ein Angler«, sagte Edie. »So muss er reingekommen sein.« Sie drehte sich um und rief einen SOCO. »Würden Sie das bitte aufnehmen und eintüten?«
Die Bambusstange musste durch den Briefkastenschlitz eingeführt worden sein, und dann hatte der Täter mit dem Fleischerhaken einen Schlüsselbund vom Brett gehoben. Der Bund lag jetzt achtlos hingeworfen neben der Tür.
»Jeder denkt, er wäre sicher.« Ich schüttelte den Kopf.
Als wir...