In den Gassen im Nirgendwo
Ein neuer Tag hatte begonnen. Ein Schwarm Schwalben flog über die Große Rutsche, um die Türme des Wasserschlosses herum, an dem halb versunkenen Riesenrad vorbei und landete schließlich auf dem Balkon des Zirkuswagens. Das war das Zuhause von Malou, mit welchem sie und ihre Familie um die ganze Welt reisten.
Ob der Zirkuswagen dabei ein Hausboot war, das auch Räder hatte, oder ein Wohnwagen, der auch schwimmen konnte, war jedem selbst überlassen.
Malous Mutter Kamilla hatte das wundersame Mobil vor langer Zeit in einem Pokerspiel mit dem berüchtigten Piraten und Schnapshändler Gelbbart gewonnen. Zuvor war der Wagen in dem Besitz des Straßenmusikers, Zauberers und Geheimagenten James Flowerbond gewesen und dieser hatte ihn wiederum von einem Zirkus bekommen. Doch hier verliert sich die Spur. Wie der Wagen zu dem Zirkus gekommen war und woher, das wusste niemand.
Jetzt schien die Morgensonne durch das große Fenster von Malous Zimmer und der Wind trug den Klang einer elektrischen Gitarre zu Malou.
Das Flying Elephant Festival hatte begonnen. Das war der Grund, warum Malou und ihre Eltern in diesem Sommer zu Besuch in der Großen Rutsche waren.
Auf das Festival hatte Malou schon seit Wochen gewartet. Es war legendär und sie hatte gehört, dass eine einzige Nacht auf dem Festival dich für immer verändern konnte.
Das Lied endete und Malou hörte die Leute klatschen und jubeln. Aber sie schienen so weit entfernt. Mit geschlossen Augen lag Malou im Bett und dachte an ihrem Traum.
Es war für sie nicht ungewöhnlich, dass sie die Geschehnisse im Traum als ähnlich real wahrnahm, wie die Geschehnisse in der wirklichen Welt. Denn Malou war, wie ihre ganze Familie auch, ein Traumtänzer. So wurden von der arkanen Wissenschaft jene Seelen genannt, welche die Fähigkeit besaßen, in der Traumwelt auf Reisen zu gehen. Eine Meisterschaft dieser Fähigkeit erlaubte dem Reisenden sogar eine bewusst gesteuerte Imagination und den Zutritt zur Traumwelt auch im Zustand des Wachbewusstsein.
Malou hatte schon sehr häufig so genannte Lichtträume gehabt, aber dieses Mal war es noch viel bewusster als sonst gewesen, viel intensiver, länger, gefährlicher und aufregender.
Hatte sie nicht gerade noch die Königin getroffen? Bilder flackerten in ihrem Kopf, von Sáhi, von Shai lu Ra und von dem Überfall auf den Palast.
"Malou, bist du schon wach?", hörte sie eine bekannte Stimme neben sich. Es war Noel, ihr Bruder. "Wir müssen zu Täsh!"
Noel war schon neun Jahre alt, liebte es zu surfen und hatte vor nichts Angst. Sein langes, blondes Haar tanzte in wilden Locken um seinen Kopf, er lachte viel und hatte wunderschöne blaue Augen.
Und Täsh? Sie war eine gute Freundin von Malous ganzer Familie. Sie hieß Täsh Eulensänger, war eine mächtige Zauberin, hatte eine Eule mit dem Namen Nachtfeder und wohnte auf der Buddhafly, eines der seltenen Wolkenschiffe, die es noch gab.
Gemeinsam zogen sie um die Welt und lebten mal hier und mal dort für eine Weile, bevor sie weiter zogen und sich irgendwo neu trafen. Dieses Mal hatten sie sich für das Festival verabredet.
Täsh machte nun also schon seit ein paar Wochen die Buddhafly bei Jessy und Lola im Garten fest. Diese hatten auf einer kleinen Insel, welche die reisende Schildkröte genannt wurde, ein verzaubertes Haus. Das war die Villa Löwenzahn.
*
Auf dem Weg dorthin erzählten Noel und Malou sich, was sie in der Nacht erlebt hatten.
"Alles fing auf meinem Surfbrett an", begann Noel.
"Wie immer!", lachte Malou.
Denn ihr Bruder verbrachte tatsächlich fast seine gesamte Zeit mit dem Surfen. Und dafür brauchte er nicht mal das Meer. In der Stadt fuhr er Skateboard, in den Bergen Snowboard, und wenn er nicht auf einem Brett stand, spielte er Trommel oder Gitarre. Dann war eben die Musik seine Welle.
"Und endete damit, dass ich mit Täsh nach Shai lu Ra flog", schloss Noel seine Erzählung. Was dazwischen passiert war, war genauso aufregend und gefährlich, wie das, was Malou in der Nacht erlebt hatte.
"Obwohl", sagte Noel mit einem geheimnisvollen Lächeln "eigentlich hat dort erst alles so richtig angefangen." Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: "Wir waren nämlich im Nirgendwo."
"Im Nirgendwo?", flüsterte Malou. Es war das berüchtigste Viertel in der Wolkenstadt. Hier konnte ein Bettler in einer Nacht zum König werden und ein Würfelwurf darüber entscheiden, ob du lebst oder stirbst. Es gab fahrende Läden, die gefangene Traumtiere anboten, Litfaßsäulen auf denen mit Plakaten für eine der vielen Magieschule geworben wurde und bunte Sticker, die zum allgemeinen Erwachen aufriefen, die für mehr Liebe demonstrierten und für ein Ende der Grausamkeit.
Es gab sonnige Plätze, auf denen Musik gespielt, gemalt und getanzt wurde, wo Zeit nicht existierte und du eins wurdes mit dem Weltenklang.
Es gab aber auch dunkle Hinterhöfe mit schwach beleuchteten Fenstern, die schauderhaft gefährlich schienen. Wo unheimliche Vögel auf dem Zaun am Eingang saßen und dir krächzend eine Warnung zuriefen.
"Wir sind am Leuchtturm direkt am Wolkenmeer gelandet. Täsh kennt eine ganze Menge Leute dort", erzählte Noel weiter. "Noch am Steg wurden wir von einem Luftschifftaxi abgeholt. Das ist so ne Mischung zwischen einer Kutsche und einem Zeppelin. Darin saß ein kleiner Mann mit grauen Locken und einem breitem Gesicht. Er heißt Abdullah, der Meister der Wunder. Er ist total lustig und kann voll gut zaubern. Neben ihm lag ein Hundemädchen. Sie heißt Léni und sieht aus wie ein kleiner Wolf, nur dass sie schwarz und weiß ist. Sie ist total süß. Die beiden hatten sich vorher getroffen. Abdullah meinte, Léni hätte ihm das Leben gerettet."
"Wie denn das?"
"Das weiß ich nicht. Abdullah wollte es mir erzählen, aber wir sind nicht dazu gekommen. Stell dir vor, Abdullah sagt, ein altes Gespenst ist wieder erwacht. Es ist ein mächtiger Geist, der die Menschen in einer Illusion fängt, wie Fliegen in einem Spinnennetz. Er nennt ihn den Puppenspieler."
Malou schauderte es. Sie musste an die schwarzen Gestalten in der Nacht denken und wie sie alle an Fäden hingen.
"Bist du Ok?", Noel strahlte sie an.
"Ja, ich glaube schon", sagte Malou leise und lächelte.
"Also der Puppenspieler ist sehr gefährlich", fuhr Noel fort. "Abdullah und Täsh wollten eine alte Zauberin, die Schwanenkönigin, treffen. Sie kann das Konzil der Welten einberufen."
"Das Konzil der Welten?", fragte Malou.
"Das ist eine Versammlung von jedem, der den Ruf hört. Früher hat es häufiger stattgefunden und oft die Geschichte aller Welten beeinflusst. Abdullah glaubt, dass er damit den Puppenspieler stoppen kann."
"Und Täsh will ihm dabei helfen?"
"Ja. Die beiden hatten ein geheimes Treffen mit der Schwanenkönigin vereinbart. Aber in Shai lu Ra wimmelt es nur so von feindlichen Agenten. Deswegen kann ich dir auch nicht sagen, wie Léni das Leben von Abdullah gerettet hat."
Malou schaute ihren Bruder fragend an. Das hatte sie ja eigentlich wissen wollen. Aber wie hingen die beiden Sachen jetzt zusammen?
Noel lachte, als er das Gesicht seiner Schwester sah. "Also, Abdullah wollte mir gerade von Léni erzählen, als wir merkten, dass unsere Kutsche angehalten hatte. Wir schauten aus den Fenstern. Wir schwebten mitten in einer dunklen Häuserschlucht, zwischen alten Ruinen, tropfenden Wasserrohren und vergessenen Plakaten. Nebel umhüllte uns. Abdullah rief dem Fahrer zu, er sollte weiterfahren. Doch dieser lachte nur spöttisch und flog als Rabe davon.
Dann erschienen unheimliche Gestalten auf den Dächern. Sie trugen schwarze Uniformen mit einem goldenen Pfau und hatten riesige Langbögen."
"Die Geheimpolizei", rief Malou. "Doch hatten die irgendwo einen goldenen Pfau drauf?", murmelte sie noch in Gedanken versunken.
"Keine Ahnung, wer die waren", meinte Noel, "Abdullah winke ihnen zu und wollte gerade etwas rufen, als sie anfingen ihre Pfeile anzuzünden. Täsh griff meine Hand und rief einen Zauberspruch. Im Haus neben uns erschien ein Fenster, welches ich vorher nicht gesehen hatte. Wir sprangen, einer der Pfeile traf das Luftschiff und es gab eine große Explosion."
Noel machte eine kurze Pause. Malou schaute ihn gespannt an. Also fuhr er fort: "Um uns herum war es dunkel. Durch das Fenster waren wir in einem düsteren Treppenhaus gelandet. Wir hörten ein höhnisches Lachen, das von allen Wände widerhallte."
"Eine Falle", rief Malou.
"Genau. Die unteren Stufen endeten in schwarzem Wasser und Dunkelheit. Über uns hing ein sternloser...