Schweitzer Fachinformationen
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Wenn man eine berufstätige Mutter ist, so wie ich, weiß man eins ganz genau: Eine gute Kinderbetreuung - sicher, bezahlbar und zuverlässig - ist seltener als ein lupenreiner Diamant und mindestens doppelt so viel wert. Sie ist das Bindegewebe, die Luft in den Lungen und das lebenswichtige Vitamin, das alle anderen Aktivitäten überhaupt erst möglich macht.
Die Kehrseite einer Kinderbetreuung ist die, dass man im Prinzip handlungsunfähig ist, wenn man sie verliert, insbesondere im Fall eines Kleinkinds.
Genau diese Katastrophe versuchte ich an jenem Dienstagabend abzuwenden. Es war Anfang März. Ich raste mit meinem Auto zu Ida Ferncliffs Haus und richtete dabei ein Auge auf die Straße und eins auf die Uhr, die erbarmungslos in Richtung 18.00 Uhr tickte.
Mrs Ferncliff war die Tagesmutter unseres mittlerweile drei Monate alten Sohns, Alex, der mit sechs Wochen in die Kinderbetreuung gekommen war. Sie war im Umgang mit Kindern und Babys so magisch wie Harry Potter - geduldig und freundlich, fürsorglich und ruhig, nichts brachte sie aus der Fassung.
Im Umgang mit Erwachsenen glich sie eher Voldemort. Mein Mann, Ben, nannte sie Der Kaiser, nach Kaiser Wilhelm. Und das nicht nur wegen ihres Schnurrbarts. Sie hatte Regeln, die sie eisern befolgte, und genau das Gleiche erwartete sie von ihren Mitmenschen.
Eine dieser Regeln besagte, dass die Kinder bis um spätestens 17.30 Uhr abgeholt werden sollten. Es gab eine Gnadenfrist von fünfzehn Minuten, doch Mrs Ferncliffs Vorstellung von Gnade ging mit dem Schürzen der Lippen und einem bitterbösen Blick einher. Nach 17.45 Uhr verhängte sie eine Strafe von zwanzig Dollar, plus einem Dollar für jede weitere Minute.
Holte man sein Kind nach 18.00 Uhr ab, stellte das einen Grund zur Kündigung des Vertrags dar. Jenes Vertrags, den ich, Melanie A. Barrick, und mein Mann, Benjamin J. Barrick, unterzeichnet hatten. Mrs Ferncliff hatte mir klargemacht, dass sie nicht zögern würde, die Nach-achtzehn-Uhr-Klausel anzuwenden, als ich einmal um 17.52 Uhr, einmal um 17.47 Uhr und einmal um 17.58 Uhr vor ihrer Haustür stand, da meine Schichtablösung, der widerliche Warren Plotz, jeweils mit mehr als einer halben Stunde Verspätung eingetrudelt war, so dass ich mich hatte sputen müssen, um es noch rechtzeitig zu schaffen.
Meine Beschwerden über Warrens Unpünktlichkeit waren ins Leere gelaufen. Die Tatsache, dass er der Sohn des Firmeninhabers war, gab ihm anscheinend das Recht, sich wie ein Flachwichser verhalten zu dürfen. Dabei lautete die erste Regel bei Diamond Tracking, dass der Schreibtisch des Disponenten - die lebenswichtige Verbindung für sechsundvierzig Trucks, die kreuz und quer durchs Land fuhren und deren Ladung aus verderblicher Frischware bestand - rund um die Uhr besetzt sein musste.
Außerdem konnte ich es mir nicht erlauben, diesen Job zu verlieren. Der Stundenlohn betrug achtzehn Dollar, und ich musste keinen Eigenanteil leisten für eine Krankenversicherung ohne Selbstbeteiligung. Ein Vorteil, der unbezahlbar war, seitdem wir Alex hatten. Wir kamen so in den Genuss kostenloser Kindervorsorgeuntersuchungen.
Mein Job als Disponentin in einer Spedition stellte zugegebenermaßen nicht die Karriere dar, die ich mir erhofft hatte, als ich mein Studium an der University of Virginia summa cum laude abschloss. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich mit einunddreißig Jahren einer sinnvollen Arbeit in einer Organisation mit sozialer Verantwortung nachgehen würde.
Doch diese hochgesteckten Ziele stießen mit den Realitäten des Jahres 2009 zusammen, meinem Abschlussjahr. Wie sich herausstellte, sollte es der schlimmste Zeitpunkt in der Geschichte des heutigen Amerikas sein, um den Arbeitsmarkt zu betreten. Doch mein Fachgebiet, die englische Literatur, übertraf noch mein grässliches Timing. Damit war ich zwar welt- und wortgewandt, aber praktisch unvermittelbar.
Nach fünf Jahren und unzähligen erfolglosen Bewerbungen - fünf Jahren, in denen ich entweder arbeitslos war oder als Bedienung bei Starbucks jobbte und Caffè latte servierte - konnte ich endlich diese Stelle ergattern, auf die ich nicht mehr verzichten wollte. Selbst wenn das bedeutete, dass Warren Plotz' ständige Unpünktlichkeit mir fast jede zweite Woche einen Herzinfarkt bescherte.
Es war 17.54 Uhr, als ich auf die Ampel des Statler Boulevard zufuhr, der entlang der östlichen Seite von Staunton, einem idyllischen Städtchen im Shenandoah Valley mit zirka 25000 Einwohnern, einen Halbkreis bildet. Eigentlich gefiel mir die gemächlichere Gangart in Staunton, außer sie trat in Form von Autofahrern auf, die zwischen sich und dem nächsten Fahrzeug einen Abstand von sechs Autolängen pflegten, so dass man ständig die Fahrbahn wechseln musste, um an ihnen vorbeizukommen.
Ich brauchte vom Statler Boulevard bis zu Mrs Ferncliffs Haus genau sechs Minuten, wie ich aus bitterer Erfahrung wusste. Sollte ich es über die Ampel schaffen, während die Uhr noch immer 17.54 Uhr anzeigte, wäre ich auf der sicheren Seite. Gerade noch so.
Doch dann, ich war noch immer einhundert Meter davon entfernt, sprang sie auf Gelb. Aus Gründen, die nur die Ampelschaltungsgötter kannten, dauerte es eine halbe Ewigkeit bis zur nächsten Grünphase. Ich würde es niemals rechtzeitig schaffen, wenn ich anhielte. Mrs Ferncliff würde den Vertrag kündigen, und wir wären gezwungen, uns eine neue Kinderbetreuung zu suchen.
Eine völlig aussichtslose Sache. Das wusste ich schon jetzt. Ben - in Alabama in einer afroamerikanischen Familie aufgewachsen, die kein Geld besaß - war Doktorand und bezog nur ein kleines Gehalt, so dass wir uns keine dieser tollen Kindertagesstätten leisten konnten, die versprachen, dass das Kind schon bis zum dritten Lebensjahr die Quantentheorie beherrschte. Uns blieben nur Tagesmütter übrig, die, so schien es, entweder Kettenraucherinnen waren, nachlässige Urgroßmütter oder Menschen, die es für ungefährlich hielten, wenn ein Kleinkind ab und zu abgeblätterte bleihaltige Farbe einatmete.
Ich trat aufs Gaspedal. Nur Nanosekunden bevor ich die dicke weiße Linie überfuhr, sprang die Ampel auf Rot.
Egal. Ich hatte es geschafft und atmete erleichtert aus.
Da sah ich die blauen Lichter eines Polizeiwagens in meinem Rückspiegel leuchten.
Einen Strafzettel und dreiundzwanzig Minuten später bog ich hektisch in die kurze Einfahrt von Mrs Ferncliffs Haus ein. Ich schnappte mir den Zettel, da ich hoffte, dass Der Kaiser so Milde walten lassen würde. Dann stieg ich aus dem Auto, ging die wenigen Stufen zur Haustür hinauf und drehte den Türgriff um.
Die Tür war verschlossen.
Das war eigenartig, denn Mrs Ferncliff ließ die Tür normalerweise offen, da sie die Kinder nicht gern unbeaufsichtigt ließ.
Ich klingelte und wartete. Fünfzehn Sekunden. Dreißig Sekunden. Dann klingelte ich noch einmal.
»Mrs Ferncliff, ich bin's, Melanie Barrick«, rief ich. Sie war drinnen im Haus und stocksauer auf mich. Das wusste ich. »Es tut mir leid, dass ich zu spät bin. Man hat mich bei der Arbeit mal wieder aufgehalten, und dann musste ich mich so sehr beeilen, dass die Polizei mich angehalten hat. Ich . ich hätte Sie auch angerufen, aber ich kann mein Handy nicht finden.«
Ich klang jämmerlich. Absolut jämmerlich. Obwohl ich in der Geschichte der Menschheit nicht die schlechteste Erziehungsberechtigte war - diesen Titel hatten meine Eltern schon vor langer Zeit erworben, als sie mich mit neun Jahren zur Adoption freigaben -, fehlte nicht mehr viel dazu.
»Es tut mir leid, okay?«, fuhr ich fort. »Schrecklich leid. Können Sie bitte die Tür aufmachen?«
Immer noch keine Antwort. Vielleicht sammelte sie nur die Sachen von Alex ein, um sie durch die Tür zu reichen, zusammen mit meinem Kind.
Und dem Vertrag, markiert mit der Achtzehn-Uhr-Kündigungsklausel.
Ich stand eine weitere Minute auf der Veranda - musste ich dafür etwa auch einen Dollar zahlen? - und wurde allmählich wütend. Wie lange wollte sie mich mit ihrem Schweigen noch bestrafen? Ich schlug mit der Hand gegen die Tür.
»Mrs Ferncliff, bitte!«, flehte ich. »Es tut mir leid, dass ich zu spät bin. Sehr viel zu spät bin. Es tut mir leid, dass ich eine schreckliche Mutter bin. Es tut mir alles furchtbar leid.«
Immer noch keine Antwort.
Schließlich erklang Mrs Ferncliffs strenge Stimme. »Gehen Sie weg! Gehen Sie, oder ich rufe die Polizei.«
»Okay, in Ordnung. Geben Sie mir einfach nur Alex, und ich verschwinde.«
Und dann sagte Mrs Ferncliff einen Satz, der einen elektrischen Schlag von mehreren Gigawatt durch meinen Körper jagte.
»Alex ist nicht mehr da.«
Ich schnappte unwillkürlich nach Luft. »Wie bitte?«
»Er ist beim Sozialamt.«
Der Elektroschock raste mittlerweile von meinen Füßen zum Kopf. Ich wusste, dass Mrs Ferncliff eine strenge Person war, aber das hier war krankhaft.
»Sie haben mein Kind dem Sozialamt übergeben, weil ich zwanzig Minuten zu spät dran bin?«, brüllte ich.
»Ich habe Ihr Kind nicht dem Sozialamt übergeben. Da war jemand vor ein paar Stunden hier und hat...
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