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Zwei Jahre lang war ich die »kleine romantische Botin« von Mrs Carter und brachte ihr, zuerst für fünfzig, dann für siebzig Pence, schließlich sogar für ein großzügiges Pfund ihre Lektüren aus Mr Ormonds Geschäft in der Stanmore Road. Es war eine lehrreiche Zeit. Nicht nur, weil ich rasch herausfand, wie man mit Geld umgeht (nämlich sparsam und raffiniert), sondern auch, weil ich mich mit Mrs Carters Heften gerne vor oder nach meinem Besuch des Zeitschriftenladens noch ein paar Minuten auf den Kirchhof am Chapel Court stahl, um selbst darin zu lesen. Es gab in dem prächtigen Grabmal der Countess of Granburch, das man eher als Mausoleum bezeichnen musste, eine steinerne Bank, auf die man sich, vor fremden Blicken wohlverborgen, setzen konnte, auch wenn man, nun ja, keine derer von Granburch war. So lernte ich allerlei über die großen Gefühle, was vermutlich heute noch meine Neigung zu romantischem Überschwang erklärt. Ob Mrs Carter es damals geahnt hatte? Wir haben nie darüber gesprochen.
Wenn ich mit den neuen Heften bei ihr eintraf, empfing sie mich stets mit einem wissenden Lächeln, manchmal auch mit einem Cupcake und einer Tasse Tee. Sie fragte mich dann neugierig darüber aus, wer mir unterwegs begegnet war, mit wem ich gesprochen hatte und worüber, was ich von der neuen Farbe von McRooneys Haus hielt oder ob wir in den Ferien wegfahren würden und wohin. Und erst wenn sie alles wusste, der Tee getrunken, der Cupcake aufgegessen war und sie ihre Schuld bei mir beglichen hatte, durfte ich gehen. Manchmal blieb ich dann noch ein wenig an der Eingangstür stehen und versuchte, Mr Welcome ein paar Worte beizubringen. Zum Beispiel: »Goodbye!« Ich arbeitete mit allen Tricks. Oft behielt ich ein Stückchen von Mrs Carters Cupcake, um es ihm als Belohnung zu geben. Vergeblich: Es gab schließlich nichts zu belohnen. Ich sagte dann selbst »Goodbye« und steckte mir den kleinen Brocken in den Mund, um ihm zu zeigen, was er mit seiner Sturheit verpasste. Ich rief »Goodbye!« und ging aus der Tür, kam wieder herein und rief »Welcome!«, wiederholte das Spiel wieder und wieder. Ich versuchte, ihm wenigstens ein »Bye!« zu entlocken, weil ich bemerkt hatte, dass er stets das letzte Wort wiederholte. Aber in diesem Fall schien er sich an seine eigene Regel nicht zu erinnern. Denn selbst wenn ich etwas sagte wie: »Dann sage ich mal Goodbye!«, echote er kein »Goodbye«, sondern blickte mich nur fragend an, wartete, bis ich die Tür öffnete, und grüßte dann ungerührt, wie er es immer tat, mit: »Welcome!«
Trotzdem wurden wir im Laufe der Zeit Freunde. Auch wenn ich in der ersten Zeit noch großen Respekt vor ihm hatte, vor allem vor seinem Schnabel. Wann immer ich Mrs Carters Haus betrat, freute ich mich, seinen Gruß zu hören, und grüßte zurück. Ich fragte ihn auch, wie es geht. Worauf er mich zurückfragte.
»Mr Welcome! How are you?«
»You?«
So was verbindet.
Natürlich wuchs mir auch die alte Dame ans Herz. Mrs Carter hatte zwar eine böse Zunge und einen gefährlichen Verstand, aber wenn sie sich einmal entschlossen hatte, jemanden zu mögen und ihm zu vertrauen, dann gab es da durchaus auch eine weiche Seite an ihr. Außerdem habe ich niemals jemanden erlebt, der besser zuhören konnte als sie, und das nicht nur, weil sie verstand zu schweigen, wenn andere redeten, sondern auch, weil sie aus irgendeinem Grund die Gabe hatte, ihr Gegenüber dazu zu bringen, sich ihr völlig zu offenbaren.
Das ging ganz beiläufig! Sie bat einen, ihr eine Tasse aus dem Regal zu reichen oder die Zeitung aus dem Flur zu holen, man half ihr, die Vögel zu füttern oder Linsen auszulesen - und schon berichtete man ihr von den geheimsten Gedanken und von den größten Peinlichkeiten. »Und du hast es deinen Eltern nicht gesagt, nehme ich an«, sagte sie etwa, womit sie sich auf die unaufdringlichste Weise zur Verbündeten machte. Was sollte man anderes antworten als: »Natürlich nicht! Sie würden es nie verstehen.«
»Vielleicht doch?«, schlug sie vor.
»Na ja, Mum vielleicht«, antwortete man. »Oder doch eher Dad. Er ist eigentlich der Harmlose von den beiden, wissen Sie?«
»Hm. Ein braver Mann. Ich habe tatsächlich noch nie etwas gehört .« Kein Gerücht über meinen Vater zu kennen, bedeutete im Falle von Mrs Carter schon etwas. »Aber lassen wir das«, sagte sie. »Was würde denn schlimmstenfalls passieren?«
»Na ja, ich würde Hausarrest bekommen, schätze ich.«
»Hausarrest. Soso. Das heißt: Kein Rausgehen in der Freizeit, richtig? Aber zur Schule dürftest du doch sicherlich?«
Ich lachte. »Zur Schule müsste ich sogar!«
»Und zur Arbeit?« Auf meinen verständnislosen Blick erklärte sie: »Nun, du arbeitest für mich, nicht wahr? Ich denke, sie wären nicht einverstanden, wenn du deine Arbeit vernachlässigst.«
»Sie meinen: Ihre Einkäufe bei Mr Ormond erledigen?«
»Zum Beispiel«, sagte sie. »Oder meinen Korb tragen. Gegen Bezahlung natürlich.«
»Ihren Korb?«
»Cupcakes. Ich möchte morgen mal wieder eine Runde durch den Ort drehen. Aber der Korb wird mir langsam zu schwer. Und wenn ich bis zu den Rosenbergs kommen möchte .«
»Zu den Rosenbergs?«, entwischte es mir.
Sie lächelte. »Aber sicher«, sagte sie. »Ruth Rosenberg ist eine alte Freundin von mir. Kennst du ihre Söhne?«
Ich räusperte mich. »Mhm«, machte ich. »Samuel. Und vor allem David.«
»Natürlich«, sagte sie wissend. »David. Vor allem. Soweit ich weiß, liebt er Cupcakes.« Ihre Augen schienen mich geradezu zu durchleuchten. »Ein hübscher Junge, nicht wahr?«
»Hm«, machte ich, denn was sollte ich dazu schon sagen. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich seit der ersten Klasse unsterblich in David Rosenberg verliebt war, der so ganz anders war als all die anderen im Ort: nämlich nicht fußballbegeistert, sondern ein eifriger Leser dicker Bücher, ein stiller, freundlicher, schüchterner Zwölfjähriger mit großen, klugen Augen und beeindruckendem Lockenkopf. »Ich kann es versuchen«, sagte ich. »Dass ich arbeiten darf.«
»Sehr gut«, befand Mrs Carter. »Davon werden wir beide etwas haben.«
So kam es, dass ich mit der Zeit nicht nur für die alte Dame unterwegs war, sondern immer mal wieder auch mit ihr. Dann trug ich ihren beeindruckenden Weidenkorb, in dem sie sicher an die fünfzig hübsche Cupcakes untergebracht hatte, und wir marschierten von ihrem Cottage am südlichen Ende von World's End - unser Ortsteil hieß wirklich so, der größere Teil des Dorfes hörte auf den Namen Beedon - die Oxford Street hinunter bis zum östlichen Ende, drehten dort um, bogen dann in die Old Bothamstead Road ein und zuletzt in die Stanmore Road, um an jeder Tür zu klingeln und Gebäck zu verteilen und zu plaudern. Das konnte durchaus bis in die Abendstunden dauern, je nachdem, wer alles zu Hause war und wie viel es zu besprechen gab. Stolze zwei Pfund wurden mir dafür zuteil - und jede Menge Erkenntnisse.
Mein Verhältnis zu Mr Welcome war in der ersten Zeit ein zwiespältiges: Einerseits faszinierte mich dieser wunderschöne, große Vogel, der einen schon zu erwarten schien, wenn man zur Tür hereinkam. Andererseits hatte ich lange Zeit etwas Angst vor ihm, vielleicht auch, weil mich Mrs Carter gewarnt hatte, er könnte mir einen Finger abzwicken. Doch mit den Monaten wuchs mein Vertrauen. Und irgendwann lächelte ich schon, während ich noch die Tür öffnete, weil ich wusste, gleich würde mich die bekannte Stimme grüßen.
Bei meinen Versuchen, Mr Welcome ein paar Wörter beizubringen, fand ich zumindest heraus, was er besonders gerne aß. Und ich entdeckte ein Detail, das mir vorher nicht aufgefallen war: Der Vogel trug einen ganz besonderen Ring am Bein, einen goldenen mit einem kleinen roten Stein. »Das ist ein Rubin«, erklärte mir Mrs Carter eines Tages. »Und der Ring selbst ist aus Gold.«
»Haben denn Vögel Goldringe?«, fragte ich und musterte die anderen, die in den Käfigen rings um uns saßen, während wir im Wintergarten eine Tasse Tee zu uns nahmen.
»Nein, natürlich nicht«, sagte die alte Dame. »Da ist unser Freund sicher die große Ausnahme.« Sie nannte ihn nie »Mr Welcome«, natürlich nicht, zu dem Namen war er schließlich erst später gekommen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, ab wann ich ihn selbst so genannt habe. Was ich weiß, ist, dass ich einmal Michael mitnahm, als ich Mrs Carter besuchte. Nicht weil ich es wollte, sondern weil er sich erhoffte, sie könnte auch für ihn einen Job haben.
»Welcome!«, krähte der Vogel, als wir eintraten.
Und mein Bruder stand wie angewurzelt in der Tür und starrte ihn mit offenem Mund an.
»Welcome!«, grüßte auch ich und winkte Michael, mit mir zu kommen. Mrs Carter hatte mir zu der Zeit bereits einen Schlüssel zu ihrem Cottage überlassen. Allerdings rührte sich Michael kein Stück, sondern schien geradezu paralysiert von dem Tier, das ihn mit großen runden Augen anblickte und vielleicht ja tatsächlich hypnotisierte. »Er hat mich begrüßt«, sagte er.
Ich nehme an, Mr Welcome warf an dieser Stelle ein »Begrüßt?« ein.
»Er begrüßt jeden«, erklärte ich lässig.
»Wow!«, sagte Michael. »Er kann reden?«
»Er ist ein Papagei«, stellte ich fest, als wäre damit alles gesagt. Was es nicht war. Es war zum Beispiel nicht damit gesagt, dass er ein äußerst eigenwilliger Vogel war, der nur wiederholte, aber nicht...
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