Schweitzer Fachinformationen
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Das System der Arbeitsteilung bei Ameisen wird manchmal mit dem indischen Kastensystem verglichen. Tatsächlich ist die Organisation des Lebens in einem Ameisenhaufen nicht so starr, wie man denkt. Jede Arbeiterameise wird in jungen Jahren mit den Arbeiten im Inneren des Haufens beginnen. In den letzten Jahren ihres Lebens wird sie jedoch außerhalb arbeiten.
Der Schmerz war schneidend, brennend, schabend. Winzige Blutstropfen traten aus der verletzten Haut, vermischten sich mit der flüssigen Farbe. Der Tätowierer griff zu einem Tuch und wischte sorgsam über die Haut. Mathilde versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen und sich zu entspannen. »Geht es noch?«, fragte der Tätowierer.
Mathilde nickte. »Wenn ich mich beim Kochen schneide oder verbrenne, tut das mehr weh.«
Es war schon ihre achte Sitzung. Das Motiv wuchs und wuchs. Buntstieliger Mangold, rote Chilis, gelbe Tomaten, eine lila-weiß gefleckte Melanzani, grüner Koriander. Auf Mathildes Arm und Schulter entspross ein ganzes Gemüsepotpourri.
»Koriander mag ich nicht, der schmeckt nach Seife«, sagte der Tätowierer, blickte kurz auf und lächelte.
»Da sind deine Gene schuld.« Mathilde blickte dem Mann in die Augen, die von Lachfältchen umgeben waren. »Manche Menschen haben Geruchsrezeptoren, die Koriander nach Seife schmecken lassen.« Sie war froh über das Gespräch, es lenkte sie ab.
»Wie geht es in der Arbeit?«, fragte der Tätowierer.
»Ich habe gekündigt«, sagte Mathilde.
Der Tätowierer schnalzte mit der Zunge, während er die Feder seiner Tätowiermaschine in ein winziges Farbtöpfchen mit grüner Farbe tauchte. Das Töpfchen stand in einem Klecks Vaseline auf der Arbeitsplatte, damit es nicht verrutschen oder umkippen konnte.
Mathilde dachte kurz daran, wie sie in ihrer Ausbildung zur Köchin gelernt hatte, Dessertschälchen mit Marzipan auf dem Teller festzukleben, damit diese beim Servieren nicht verrutschten. Eigentlich dasselbe Prinzip.
»Ich bin dort nicht weitergekommen. Der Küchenchef hat immer mehr Convenience Food eingekauft. Schnitzel vom Fließband, Kartoffelsalat aus dem Kübel, Packerlsuppen. Er glaubt, das ist die Zukunft.«
»Pfui Teufel«, sagte der Tätowierer.
»Naja, das Zeug schmeckt nicht mal so schlecht. Die Lebensmitteltechnik wird immer besser. Und man spart unglaublich viel Zeit bei der Zubereitung. Aber mich langweilt das.«
»Ich verstehe«, sagte der Tätowierer. »Eine Arbeit, die keinen Spaß mehr macht, macht keinen Sinn.« Der Tätowierer hatte vor vier Jahren sein gut gehendes Tattoo-Studio in der Stadt aufgegeben und war ins Nirgendwo gezogen. Dorthin, wo es garantiert keine Nachbarn gab, keinen Handyempfang und einen nicht einmal das Navi fand. Die, die ihn finden wollten, fanden ihn trotzdem.
»Und was machst du jetzt?«, fragte er.
Mathilde strahlte: »Ich fange in drei Wochen als Küchenchefin im >Fia-mi< an.«
»Wo?«
»Im >Fia-mi<. Das ist Dialekt und bedeutet >Für mich<. Ein neues Vital-Resort an einem Fischteich zwischen Litzelsdorf und Oberdorf, die wollen dort moderne, regionale Küche, viel Gemüse und Wildkräuter.«
»Na dann sollte ich dir wohl noch ein paar Bärlauchblätter stechen«, sagte der Tätowierer.
»Bärlauch gibt es nur in Rechnitz. Mach mir besser eine Schafgarbe, die hat so tolle Doldenblüten«, lachte Mathilde.
»Das nächste Mal«, lächelte der Tätowierer und legte sein Werkzeug beiseite.
»Ich geb dir noch was von meiner Salbe mit, die ist selbst gemacht.«
Mathilde schnupperte daran. Die Salbe roch nach Bienenhonig und Fichtenharz.
»Meine Tattoos sind in drei Tagen verheilt.« In der Stimme des Tätowierers klang Stolz mit.
Mathilde bewunderte das bunte Gemüsebild auf ihrer Haut. »Mein alter Chef würde auszucken.« Aber das »Kurfürsten-Hotel« war Vergangenheit. Die holistisch orientierten Inhaber des »Fia mi« waren hoffentlich weniger engstirnig.
Als Mathilde die kurvigen Straßen der Buckligen Welt in Richtung Südburgenland hinunterfuhr, blickte sie immer wieder auf ihren Arm. Das Tattoo tat kaum weh. Das mussten die Endorphine sein.
Sie lenkte ihren alten Chevrolet Malibu Richtung Bernstein. Das Auto hieß Patsy, war aus dem Jahre 1983 und zum größten Teil weinrot, nur die Lackierung auf der Seite erinnerte an Holzmaserungen. Mathilde liebte Patsy so sehr, dass sie ihr auch ihren unglaublichen Benzin-Durst verzieh.
Patsy war ihr teuerstes Hobby. Neben dem Gerhard. Mathilde parkte Patsy vor dem windschiefen alten Bauernhof ein, den sie gemeinsam mit dem Gerhard vor sechs Jahren bei einer Versteigerung spottbillig erworben hatte.
Die Idee mit dem Hof war Gerhards Idee gewesen. Mathilde hatte sich erst gesträubt, weil sie fand, dass der Hof eine schlechte Energie hatte.
»Das bildest du dir nur ein, weil es hier so aussieht«, hatte der Gerhard gesagt. Und »ausgesehen« hatte es tatsächlich. Das Unkraut rund um den Hof war meterhoch gewesen. Dazwischen lagen achtlos weggeworfene Eisenstangen, rostiger Stacheldraht und ein kaputtes rosa lackiertes Kinderfahrrad. Der Anblick des verbeulten Kinderfahrrads hatte sie auf eine seltsame Art betroffen und traurig gemacht. »Ich weiß nicht«, hatte Mathilde zweifelnd gesagt, »ein Versteigerungshaus. Das heißt, die vorherigen Besitzer müssen in einer verzweifelten Lage gewesen sein. Verzweiflung, das bedeutet Streit und oft auch Alkoholismus und Gewalt. Ein Haus inhaliert so was.«
Aber dann hatte der Gerhard sie doch überzeugt, dass man sich dieses Schnäppchen nicht wegen einer »esoterischen Spinnerei« durch die Finger gehen lassen sollte. Und Mathilde hatte den Kaufvertrag mit unterschrieben und gleich danach zum Räucherwerk gegriffen, um die schlechte Energie zu vertreiben.
Heute, sechs Jahre später, zweifelte sie immer noch daran, dass dieser Hauskauf eine gute Idee gewesen war. Nicht wegen der schlechten Energie der Vorbesitzer. Nein, wegen der immer schlechter werdenden Energie zwischen ihr und dem Gerhard. Und dagegen half das ganze Räuchern und Lüften nicht.
Als sie den Gerhard vor sieben Jahren kennengelernt hatte, war er ein aufstrebender junger Bildhauer gewesen. Die Kritiker hatten sich mit Lobhudeleien überschlagen angesichts dessen, was der Gerhard aus Holz, Stein und Metall schuf. Sie lobten seine radikale Brutalität im Umgang mit Materialien und Formen. Sie waren voll der Begeisterung über seine schonungslose Ästhetik. Nur Geld verdienen ließ sich damit nicht. Ein einziges Mal hätte der Gerhard einen wirklich lukrativen Auftrag einfahren können. Da hatte der Bürgermeister der Nachbargemeinde eine Skulptur für den neuen Hauptplatz bestellt.
Aber als die dann geliefert wurde, hatte der Bürgermeister einen Rückzieher gemacht. »Bist depppert worn, Gerhard? Kim sufurt und ram des schiache Graffl wieder weg!«3
Das schiache Graffl sah aus wie eine Mischung aus Fitness- und Foltergerät. »Das ist kein Graffl. Das ist ein Mahnmal gegen den Optimierungswahn des modernen Menschen«, hatte der Gerhard wütend gebrüllt.
»Des schaut aus wie wos, des in der Hinterkammer vom Oberwarter Laufhaus steht«, hatte der Bürgermeister entgegnet.
»Du musst das ja wissen«, hatte der Gerhard zornig gekontert.
Es war das erste und letzte Mal gewesen, dass von öffentlicher Hand ein Auftrag an den Gerhard herangetragen worden war. Seither künstlerte er nur mehr für sich selbst. Und im Garten des windschiefen Bauernhauses mehrten sich Skulpturen, die bei Mathilde dieselben gruseligen Assoziationen weckten wie das Kinderfahrrad, das beim Einzug dort gelegen war.
»Machen Sie sich auf die Suche nach dem verlorenen Geschmack neben der eigenen Haustür«, hatte ihr neuer Chef, Arno Radeschnig, ihr beim Einstellungsgespräch eingeschärft.
Er hatte natürlich von Essen gesprochen, aber Mathilde musste über die Doppeldeutigkeit dieses Satzes nachdenken, als sie langsam zum Haus hinaufging, vor dem kopflose Figuren mit schablonenhaften Waffen Spalier standen. Die stählernen Umrisse von Messern und Harpunen ließen sie langsam, aber sicher an Gerhards Gemütszustand zweifeln.
Der Gerhard selbst stand über eine Werkbank gebeugt und drosch mit einem Vorschlaghammer auf ein Stück Dachrinne ein. Mit seinem zerzausten Bart und seinen wilden rötlichblonden Locken sah er aus wie ein Wikinger, dachte Mathilde. Wie ein Wikinger, der langsam blad wurde. Aber daran war sie auch ein bisschen schuld. Sie und ihre gute Küche. Mathilde selbst war auch nicht die Schlankste. Gerhard war so in seine Arbeit vertieft, dass er Mathilde nicht bemerkte, als diese ins Haus ging. Sie war froh darüber.
Das Bauernhaus hatte kein Vorzimmer. Man stand sofort in der Küche, und diese sah aus, als hätte hier ein Gelage stattgefunden. Sie ließ die Schuhe an. Sonst wäre sie nur in den Dreck gestiegen, der hier umherlag. Morgen würde sie putzen. Morgen. Seufzend fing sie an, Teller und Tassen wegzuräumen und in den Geschirrspüler zu schlichten. Gerhard rührte im Haushalt keinen Finger. Er war Künstler, kein Hausmann.
»Und ich bin sein depperter Lotsch, der hackelt, ihm hinterherräumt und das alles bezahlt«, ärgerte sich Mathilde. Auf der Kommode, in der sie das alte ungarische Herend-Porzellan ihrer Oma aufbewahrte, stapelten sich die Rechnungen.
Die mussten warten, bis sie das erste Gehalt vom »Fia mi« bekommen würde.
Mathilde schaltete die Kaffeemaschine ein, ging zur Brotdose und nahm den Striezel heraus, den sie...
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