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Als Kind träumte ich davon, Geheimagent zu werden, so wie James Bond. Immer auf wichtiger Mission, heiße Affären, ständig explodiert etwas. Irgendwann dämmerte mir, dass daraus wohl nichts werden würde. Niemand heuert einen Spion an, der ständig vergisst, wo seine Waffe liegt oder sein Aston Martin parkt. Auch dass ich Dinge schlecht für mich behalten kann und sorglos Geheimnisse ausplaudere, ist wohl eher ein Minuspunkt. Vermutlich würde ich am Bösewicht gedankenverloren vorbeitrotten - oder versehentlich meinen Quartiermeister erschießen, weil ich bei der langweiligen Belehrung über den tödlichen Kugelschreiber lieber über den nächsten Martini nachdenke. Einen Namen für meine Marotten hatte ich als Kind noch nicht. Das änderte sich, als ich mit neunzehn meine Agententräume endgültig beerdigte und mein Psychologiestudium begann.
«Du bist auch so wie ich!», raunte mir meine neue Kommilitonin Nina zu. In mir hatte sie ihren ersten Fall gefunden. Sie bemerkte, wie ich keine Sekunde stillsitzen konnte, in Gesprächen abschweifte, fünfmal täglich meine Mütze liegenließ. Einmal erzählte der Professor in der Vorlesung, dass Aufmerksamkeit so funktioniere wie ein Spotlicht im Theater, das unseren Blick auf einen bestimmten Ausschnitt lenkt. «Bei mir ist es eher Discokugel als Scheinwerfer», flüsterte ich ihr grinsend zu. Für Nina war die Sache klar: Der Junge hat ADHS!
Sie sah in mir einen Seelenverwandten. Heimlich steckte sie mir ein paar ihrer Tabletten zu. «Es ist, als wäre dein bisheriges Leben ein Schwarzweißfilm gewesen, und plötzlich würdest du Farbe sehen», schwärmte sie von ihrem Ritalin. Sie ermunterte mich, endlich zum Profi zu gehen, für eine richtige Diagnose. Dagegen sträubte ich mich sechs Jahre lang. Nicht, dass ihre Analyse falsch war. Doch ich empfand mich damals auf so viele Weisen bizarr, dass es mir grundfalsch vorkam, dem einen Namen zu geben, gar eine Diagnose. Und doch war es, als hätte Nina mich mit einem magischen Bann belegt. Die vier Buchstaben gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Es war 2015, ich hatte mein Diplom in der Tasche, fing als freier Journalist an und bekam mein Leben nur schlecht auf die Reihe. Missmutig schlurfte ich zur Psychiaterin, wo ich nach allerlei Tests meine Diagnose bekam - und meine Pillen. Zu beidem habe ich ein zwiespältiges Verhältnis: An manchen Tagen lehne ich sie entrüstet ab, an anderen empfinde ich sie als Geschenk. Immer häufiger treffe ich auf Gleichgesinnte mit ähnlichen Eigenheiten. Wir zwinkern uns zu, als würden wir einer kollektiven Verschwörung angehören: dem Club der Chaoskids. Aber halt, wollte ich auf solche Schubladen nicht verzichten?
Ohnehin ist der Club längst kein Geheimbund mehr. Die Zahl der klinisch festgestellten ADHS-Fälle klettert in Deutschland immer weiter nach oben. Das zeigt sich beispielsweise in den Daten der AOK-Krankenkassen: Die Quote der Versicherten mit offizieller Diagnose hat sich von 2006 bis 2023 mehr als verdoppelt - auf ein Prozent. In diesem Zeitraum stieg das mittlere Alter der Patienten von 14 auf 20 Jahre.[1] Dieser Generationenwechsel macht sich auch bei den Rezepten bemerkbar: Erwachsene bekommen immer mehr ADHS-Medikamente verschrieben.[2] Besonders stark schnellen die Zahlen bei jungen Erwachsenen zwischen 20 und 35 in die Höhe, bei Frauen übrigens stärker als bei Männern. Der vormals starke Geschlechterunterschied schrumpft zusammen.
Die klinisch gestellten Diagnosen sagen noch nichts darüber aus, wie verbreitet das Phänomen in der breiten Bevölkerung ist. Dort blieben die Zahlen über die letzten Jahrzehnte auf eher gleichbleibendem Niveau.[3] Rund 2,5 Prozent aller Erwachsenen erfüllen die Kriterien für die Diagnose.[4] Doch nur ein Teil davon stellt sich in einer Ambulanz vor. Sprich: Die Gesamtlast bleibt ungefähr gleich, doch immer mehr Menschen suchen sich ärztliche Hilfe. Auch in den Medien häufen sich die Berichte: Das Thema geistert durch Podcasts, Zeitschriften und Videos auf Social Media. Prominente wie Sarah Kuttner oder Paris Hilton berichten öffentlichkeitswirksam von ihrer Diagnose. Begriffe wie Dopamin, Hyperfokus oder Neurodivergenz machen die Runde. Die ADHS scheint dieser Tage allgegenwärtig. Dieser Zwiespalt hat eine etwas kuriose Folge: Ein Teil beklagt, dass ADHS als «Modestörung» überdiagnostiziert werde - und verweist auf die steigenden Zahlen. Andere Stimmen halten die ADHS ganz im Gegenteil für unterdiagnostiziert. Sie betonen, dass ein großer Teil der Menschen mit diesen Symptomen noch nie einen klinischen Test durchlaufen hat. Beide Ansichten lassen sich mit Zahlen belegen. Wer hat nun recht?
Fest steht jedenfalls: Das Bild der ADHS hat sich gewaltig geändert. In den 1990er Jahren dachte man da vor allem an überdrehte Schuljungen. Inzwischen ist die Durchschnittsperson mit offizieller Diagnose aber volljährig - und immer häufiger weiblich. Mit der gewandelten Zielgruppe ändert sich auch ihr Image. Die Turnbeutelvergesser und Unruhegeister von damals werden erwachsen, so scheint es - und fordern nun mehr Akzeptanz für ihre Besonderheiten ein. Vor zwanzig Jahren hörte man Eltern seufzen: «Oje, mein Kind hat ADHS.» Die erwachsenen Patienten sagen heute oft in selbstbewusster Tonlage: «Ich habe übrigens ADHS!». Das heißt nicht, dass das Leidvolle daran plötzlich verschwunden wäre.
Ausgeschrieben ist die Diagnose ein richtiges Wortungetüm: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Das kann man kaum aussprechen, ohne sich zu verhaspeln. Schon der holprige Begriff lässt erahnen, wie mühsam es war, das Symptomwirrwarr zu einem festen Störungsbild zu bündeln. Doch worum geht es eigentlich bei der ADHS? Also: Was meint eine Betroffene, eine Therapeutin, eine Forscherin damit, wenn sie davon spricht? Und warum sorgt die Diagnose mitunter für Skepsis? Die Antwort ist völlig simpel und zugleich merkwürdig verworren. Eine Definition lässt sich aus jedem klinischen Wörterbuch ablesen. Das erklärt aber nicht, wieso sich aktuell hitzige Debatten an dieser Diagnose entzünden. Warum die Zahlen so sehr ansteigen. Weshalb die ADHS als universelle Projektionsfläche herhalten muss - für Fragen rund um Normierung und Abweichung, Leistungsdruck und Freiheitsdrang, Gesundheit und Identität.
Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsprobleme und Impulsivität sind die drei «Zutaten» der ADHS. Dass diese Merkmale weit verbreitet sind, steht nicht im Widerspruch dazu, dass sie einigen Menschen mehr zu schaffen machen als anderen. Ich beleuchte die Phänomene deshalb als Teil der konkreten Diagnose, aber auch losgelöst von dieser - also als Tendenzen, wie sie allen Menschen innewohnen. Mein Fokus liegt dabei auf den Lebenswelten von Erwachsenen. Die Situation bei Kindern beleuchte ich gelegentlich ergänzend, sie ist jedoch nicht mein Hauptaugenmerk.
Gemeinhin gilt die ADHS als ein fixes Etwas, das im Kopf sitzt. An dieser Gewissheit will ich in diesem Buch kratzen. Natürlich gibt es persönliche Eigenheiten wie Ablenkbarkeit, Unruhe, Impulsivität. Dabei spielen Vorgänge im Gehirn eine wichtige Rolle. Mit gleichem Recht ließe sich jedoch behaupten: Die ADHS sitzt in den Füßen. Wo man im Leben steht, welche Freiheiten und Zwänge einen prägen, wie man lebt, liebt und arbeitet: All das entscheidet mit, wie diese Eigenheiten zutage treten - und ob sie sich als Ärgernis oder Bereicherung erweisen. Die Psyche lässt sich nicht auf Vorgänge im Gehirn reduzieren. Menschliches Erleben und Verhalten entsteht stets in Wechselwirkung mit dem materiellen Umfeld. Deshalb schreibe ich im Folgenden nicht nur über Synapsen und Botenstoffe, sondern ebenso über Armut und Wohlstand, Lern- und Arbeitswelten, Medienbetrieb und Konsumkultur. Zuletzt geht es um neue Freiräume, die eine größere Bandbreite an menschlichen Regungen ermöglichen. Kurzum: Es wird Zeit, die ADHS vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Manchmal hilft es, ein Phänomen...
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