"Onkel Ted, kannst du mich in die Stadt fahren? Ich brauche ganz dringend neue Klamotten", fragte Sara gleich am nächsten Tag.
"Hast du davon nicht schon mehr als genug?", gab er gequält zurück.
"Darum geht es doch gar nicht. Mein Outfit kommt aus der Stadt, die Landeier hier wissen doch meine Designerkleider gar nicht zu würdigen. Für die ist Chanel eine Buttermilchsorte."
"Chanel? Wer?"
"Da siehst du es? Du kennst das Label auch nicht!", rief Sara eingeschnappt.
"Kindchen, das muss ich auch nicht, um glücklich zu sein."
"Ich dachte, du wärst früher um die Welt gezogen? Und da kennst du dich nicht mit Klamotten aus? Von welchem Universum bist du denn eingeflogen? Das ist ja irre."
"Ich habe auf Rockkonzerten gespielt, glaubst du vielleicht, da wäre irgendwer im Businessoutfit angerauscht. Nee! Bei uns gibt es nur Leder, vorne und hinten."
Ihr Onkel grinste breit.
"Kulturbanause!", erwiderte Sara knapp.
"Ich lebe doch noch, oder? Also habe ich nichts verpasst. Und dein so genanntes Flanell kann mir mal den Rücken runter rutschen. So sieht´s aus!"
"Ha Ha, ihr seid echte Landeier."
Sara schüttelte verständnislos den Kopf.
"Merk dir mal eines mein liebes Kind: Kleider sind nicht alles."
"Aber das Erste, was du von einem Menschen siehst und wonach du ihn beurteilst."
"Heißt das etwa, wenn ich einen Millionär in ärmliche Lumpen stecke, dann ist er bei seinen Freunden unten durch?"
"In der heutigen Welt schon, oder glaubst du, den Leuten macht es Spaß, den ganzen Tag in viel zu engen Anzügen oder in High Heels durch die Gegend zu laufen?"
"Woher soll ich das wissen? Pumps stehen mir nicht sonderlich!"
Sara riss verzweifelt die Augenbrauen nach oben.
"Ich glaube, du brauchst dringend eine Fashion-Beraterin. Du bist so was von Steinzeit."
"Danke für das Kompliment, aber ich mag mich genauso, wie ich bin. Und wer das nicht so sieht, hat eben Pech gehabt."
"Hast du dir mal überlegt, ob es vielleicht an deinen Klamotten liegt, dass du noch keine Frau abgekriegt hast?"
"Dann habe ich doch alles richtig gemacht. Denn genau das war meine Absicht."
"Jeder Mensch braucht Romantik, Liebe und Poesie. Große und echte Gefühle. Lachen, Weinen und auch Liebeskummer gehören dazu. Gedichte und Geschichten, Liebesfilme. Hast du dafür denn gar nichts übrig?"
"Damit ich so werde wie alle anderen geisteskranken Verliebten? Vergiss nicht, die meisten lassen sich nach Jahren scheiden, die Kinder werden auseinandergerissen und die Verliebten gehen sich vor Gericht an die Gurgel?"
"Meine Eltern waren glücklich, sogar sehr. Sie wollten sogar ein zweites Mal heiraten."
"Da war meine Schwester eine absolute Ausnahme. Viele meiner Freunde und Bekannten haben geheiratet, manche sogar mehrmals, weil sie nach der ersten Scheidung immer noch an die große Liebe geglaubt haben. Und was hat es ihnen gebracht, außer Alimenten, die sie an den Rand der Armut getrieben haben? Mein bester Kumpel hat gerade eine schlimme Scheidung hinter sich, seine Ex ist eine geldgeile Tussi, die ihm noch das letzte Hemd auszieht und auch das zu Geld macht. Und so soll ich auch enden? Nein, danke vielmals!"
"Aber so toll ist dein Leben nun auch wieder nicht! Außerdem will keine zukünftige Exfrau diese abgewrackte Hütte, davon kannst du getrost ausgehen!"
"Mir gefällt es hier!", beteuerte Ted überzeugt.
"Ich will dir ja nicht zu nahe treten. Aber diese Bude hier ist ein absolutes Desaster. Alles zerfällt, und die Termiten liegen abends im Bett neben mir und schnarchen sich die Seele aus dem Leib."
"Das stimmt doch gar nicht. Klar habe ich eine Zeitlang nichts daran gemacht, aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht!"
"Dann mach doch mal die Augen auf, Mister Ich-schau-gar-nicht-erst-hin!"
Ted schnappte nach Luft und rollte mit den Augen. "Wie wäre es, wenn du shoppen gehst? Ich fahre dich auch hin, damit dir hier nicht gleich das Dach auf den Kopf fällt. Wäre ja schade um deine schöne Designerfrisur. Hast du denn auch deinen Starfigaro mitgebracht? Nicht, dass du noch irgendeinen Stümper an deine schönen Haare lassen musst!"
Ärgerlich riss er die Haustür auf und stapfte zu seinem Auto. Frustriert lief Sara ihm hinterher. Hatte sie womöglich einen wunden Punkt bei ihrem Onkel getroffen?
Schweigend fuhren sie in die nächstgrößere Stadt zum Einkaufen. Erleichtert sprang Sara aus dem Auto, nachdem ihr Onkel angehalten hatte. Diese bedrückende Stille war fast nicht auszuhalten gewesen. Ted rief ihr noch nach, dass sie um 5 Uhr am Auto sein sollte. Sie winkte knapp zurück und war kurz darauf auch schon im ersten Geschäft verschwunden. Sara hatte beschlossen, sich einer radikalen Verwandlung zu unterziehen.
Als Erstes war eine neue Frisur angesagt, also rein in den nächsten Friseurladen. Die Frauen waren einigermaßen gut frisiert, zwar nicht nach den neuesten Trends, doch das war ihr gerade egal. Den Schnitt, den sie sich vorstellte, würde jeder Anfänger hinbekommen. Außerdem hatte sie ein Bild dabei, wie das aussehen sollte, was konnte da noch schief gehen? Mit einem mulmigen Gefühl setzte sie sich an den zugewiesenen Platz. Ob ihr Entschluss richtig war? Nervös kaute Sara auf ihrer Unterlippe herum. Als die Friseurin den ausgerissenen Zeitungsausschnitt sah, verzog sie leicht das Gesicht.
"Ist das ein Witz? Wollen Sie mich veralbern? Sie wollen sich doch nicht wirklich Ihre wunderschönen Haare abschneiden lassen, damit ich so was hier daraus mache?"
Mit spitzen Fingern hielt sie das Blatt von sich weg, als ob sie eine Drogenspritze in der Hand hielte.
"Was dagegen?", entgegnete Sara schnippisch.
"Ich meine ja nur. Ab ist ab. Und dann diese krasse Farbe!"
"Schon mal was von Extensions gehört? Die gibt es bereits seit ein paar Jahren. Also können Sie das hier nun schneiden oder nicht?"
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, fielen die ersten Haare zu Boden. Na, die hatte es ja auf einmal eilig. Erst rumzicken und dann abgehen wie eine Rakete.
Nach ungefähr zwei realen und fünf gefühlten Stunden blickte Sara in den Spiegel und erschrak fast. Da saß jemand anderes, das war nicht sie. Das ehemals lange brünette Haar war einem Pagenschnitt in schwarz gewichen. Sie schloss geschockt die Augen und hoffte, wenn sie sie wieder öffnete, wäre alles wie zuvor. Doch ein erneuter Blick in den Spiegel änderte rein gar nichts. Sie atmete tief durch. Die schwarzen Haare machten sie noch blasser. Okay, eine Mischung aus Gothic und Schneewittchen. Ihr Gesicht wirkte wie das einer Porzellanpuppe. Vielleicht nicht so filigran, dafür umso grauer und umso zerbrechlicher . Sara pfahlgrau, Sara "Grey", mit den schwarzen Haaren, wie Kohle und Asche, ausgebrannt und abgekühlt, ohne Feuer .
Ihre Trauer, ihren Verlust, alles, was sie empfand, begann sie nach außen zu tragen.
Schaut her, hier kommt Sara Grey, mein Herz ist schwarz und meine Seele blass wie Schnee. Sollten doch alle wissen, dass ihr schwerer Verlust und ihre Ängste allgegenwärtig waren, wie eine Haut, die man nicht ablegen konnte. Ihr Innerstes sehnte sich so sehr nach einer Umarmung von ihren Eltern . Dieses Gefühl war fast nicht mehr auszuhalten. Sara dachte jeden Moment ihres Lebens an sie.
Sara warf den beiden in Gedanken einen Kuss im Spiegel zu und bezahlte. Nun fehlte nur noch das passende Outfit. In der Boutique drei Häuser weiter wurde sie fündig. Ihre Klamotten mussten zu ihrem neuen Style passen. Früher hatte sie sich immer über die Emos und Gothics lustig gemacht, doch nun fand sie diesen Style plötzlich total cool. Und sexy, provokant zugegeben, doch der Zweck heiligte die Mittel. Sie hätte das doch früher schon mal wagen sollen. Jetzt noch eine stylische Sonnenbrille, die bei diesem Wetter überhaupt keinen Sinn machte, aber was tat das schon zur Sache? Und wieder raus vor die Tür. Bauarbeiter pfiffen ihr nach, als sie an ihnen vorbeistöckelte. Test bestanden, dachte sie sich.
"Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?", rief Onkel Ted entsetzt, als Sara die Autotür öffnete und er sie fast nicht wieder erkannt hätte.
"Ich weiß gar nicht, was du hast! Mir gefällt es!", entgegnete Sara eingeschnappt.
"Du siehst wie ein Zombie aus!"
Ted riss die Sonnenblende mit dem Spiegel auf der Beifahrerseite herunter.
"Schau doch selbst! Willst du mich mit dieser Verwandlung für irgendwas bestrafen?"
"Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Sorry, aber das bin ich, so fühle ich."
"Und was sollen das für Gefühle sein? Selbstmordgedanken? Oder willst du nachts um den Friedhof schleichen?"
Ihr Onkel war völlig außer sich.
"Das ist jetzt total angesagt", versuchte Sara sich zu rechtfertigen.
"Du hast dich doch über mangelnde Freunde beschwert, oder nicht? Mit deinem Vampiroutfit wird es bestimmt nicht leichter für dich werden, hier welche zu finden. Ich...