1 Medienzirkus
Lacey Dowell umklammerte ihr Kruzifix, die schneeweißen Brüste vorgereckt, während sie vor ihrem unsichtbaren Angreifer zurückwich. Einzelne rote Haarsträhnen lugten unter ihrer Haube hervor; mit ihren geschlossenen Augen und der gerunzelten Stirn schien sie die Grenze zwischen Agonie und Ekstase überschritten zu haben. Mir persönlich war das zuviel Gefühl auf einmal.
Also drehte ich mich weg, aber da war sie schon wieder, die roten Haare wirr, die Brüste immer noch vorgereckt, und nahm den Hasty Pudding Award von einer Schar Harvardianer entgegen. Ich weigerte mich, die Wand zu meiner Rechten anzusehen, wo sie, den Kopf in den Nacken geworfen, über einen Scherz des Mannes lachte, der ihr gegenüber auf einem Stuhl saß. Ich kannte und mochte den Mann, und deshalb war mir sein Gesichtsausdruck kriecherischer Jovialität peinlich. Murray Ryerson war einfach ein zu guter Journalist, um sich so zu prostituieren.
»Was ist bloß in ihn gefahren? Oder besser gesagt: Was ist nur in mich gefahren, daß ich in meiner Bar einen solchen Medienzirkus zulasse?«
Sal Barthele, die Inhaberin des Golden Glow, hatte sich zwischen der Chicagoer Schickeria, die sich in ihrem Lokal drängte, zu mir durchgezwängt. Sie war so groß - über einsachtzig -, daß sie mich sogar in dieser Menge entdecken konnte. Nach einem Blick auf ihre vertäfelten Wände, die jetzt als Projektionsflächen dienten, rümpfte sie angewidert die Nase.
»Ich weiß es auch nicht«, sagte ich. »Vielleicht will er Hollywood beweisen, was für ein cooler Insider er ist, und den Leuten zeigen, daß er eine kleine Bar kennt, von der sie noch nie was gehört haben.«
Sal schnaubte verächtlich und ließ dabei den Blick über den Raum schweifen, um eventuelle Probleme sofort zu entdecken - Gäste, die zu lange auf ihre Drinks warten mußten, oder Kellner, die nicht mehr weiterkamen. In der Menge befanden sich Berühmtheiten von den lokalen Fernsehsendern, die sich eifrig so postierten, daß ihre Kameras Lacey Dowell sofort erwischten, sollte diese jemals auftauchen. Beim Warten drückten sie sich so nahe wie möglich an wichtige Leute von den Global Studios heran. Murray selbst beschäftigte sich gerade intensiv mit einer Frau in einem Silbergazekleid. Sie hatte sehr kurze Haare, hohe Wangenknochen und einen breiten, leuchtend rot geschminkten Mund. Als hätte sie meinen Blick gespürt, drehte sie sich um, sah mich einen Moment lang an, unterbrach Murray und deutete mit dem Kopf in meine Richtung.
»Mit wem redet Murray denn da?« fragte ich Sal, aber die hatte sich bereits einem schwierigen Gast zugewandt.
Ich drängte mich durch die Menge und stieß gegen Regine Mauger, die verhutzelte Klatschkolumnistin des Herald-Star. Sie sah mich feindselig an. Da sie mich nicht kannte, konnte ich ihr auch nicht nützen.
»Könnten Sie vielleicht ein bißchen aufpassen, junge Frau?« Regine hatte sich so oft liften lassen, daß ihre Haut aussah wie über Knochen gespanntes Papier. »Ich versuche, mich mit Teddy Trant zu unterhalten!«
Das hieß, sie versuchte, ihre knochigen Schultern so nahe an Trant zu drücken, daß er sie bemerkte. Trant war bei Global Leiter der Sektion Mittlerer Westen und im Jahr zuvor, als Global den Herald-Star sowie die damit verbundenen Lokalblätter aufgekauft hatte, von Hollywood hierher geschickt worden. Niemand in Chicago hatte ihm besondere Beachtung geschenkt, bis Global eine Woche zuvor damit begonnen hatte, sein Fernsehnetz auf dem Markt zu lancieren. Global hatte den Chicagoer Channel 13 als Flaggschiff erworben und Lacey Dowell, den Star von Globals unglaublich erfolgreichem Romantik-Horrorstreifen, für die erste Sendung der Reihe »Hinter den Kulissen von Chicago« mit Gastgeber Murray Ryerson, »dem Mann, der Chicago von innen nach außen kehrt«, verpflichtet.
Global startete eine »Hinter den Kulissen«-Serie auf jedem seiner Hauptmärkte. Da Lacey, der Global-Star, aus Chicago kam, war sie genau die richtige Wahl für diese Stadt. Scharen jubelnder Teenager hatten sie genauso begeistert am Flughafen O'Hare empfangen wie wir seinerzeit die Beatles. Heute abend warteten sie vor dem Golden Glow auf sie.
Die Leute aus der Medienwelt konnten gar nicht genug bekommen von Edmund Trant. Klatschkolumnisten wie Regine Mauger berichteten darüber, welche Restaurants er besuchte oder wie seine telegene Frau ihr großes Haus in Oak Brook einrichtete. Und als man die Einladungen für die Party im Golden Glow verschickt hatte, waren alle Leute, die irgendwie mit den Chicagoer Medien zu tun hatten, ganz heiß darauf gewesen, die Karte mit dem Silberrand in ihrer Post zu finden.
Regine und die anderen Klatschkolumnisten interessierten Trant an jenem Abend nicht sonderlich: Ich erkannte den Speaker des Repräsentantenhauses vom Bundesstaat Illinois, des Illinois House, und ein paar andere Landespolitiker in der Gruppe, die um ihn herumstand, und hatte das Gefühl, daß er sich am ausführlichsten mit einem Geschäftsmann unterhielt. Regine, die nicht sonderlich erfreut darüber war, links liegengelassen zu werden, musterte intensiv den Saum ihrer schwarzen Satinhose, um mir bewußt zu machen, daß ich ihn heruntergerissen oder sonstwie beschädigt hatte. Während ich mich weiter in Richtung Bar vorarbeitete, hörte ich sie zu ihrer Kollegin von der Sun-Times sagen: »Wer ist denn diese unbeholfene Frau?«
Ich drückte mich zu der Wand hinter Sals hufeisenförmiger Mahagonitheke. Da ich in Begleitung von Mary Louise Neely und ihrem jungen Schützling Emily Messenger war, wußte ich, daß es ein langer Abend werden würde. In ihrer gegenwärtigen Euphorie würde Emily jede Bitte, vor ein Uhr morgens das Lokal zu verlassen, ignorieren. Es passierte nicht allzuoft, daß sie ihre Freundinnen neidisch machen konnte, und so war sie fest entschlossen, den Abend bis zur Neige auszukosten.
Emily war wie die meisten Teenager völlig weg von Lacey.
Als ich Mary Louise und ihr mitgeteilt hatte, daß ich zwei Gäste mitbringen und sie mich begleiten konnten, wenn sie wollten, war Emily vor Aufregung ganz blaß geworden. Sie sollte in der folgenden Woche zu einem Sommersprachkurs nach Frankreich aufbrechen, aber das war absolut langweilig im Vergleich zu der Aussicht, sich im selben Raum aufzuhalten wie Lacey Dowell.
»Die >Mad Virgin< hatte sie verzückt gehaucht. »Vic, das werde ich dir nie vergessen.«
Lacey hatte diesen Spitznamen wegen ihrer Hauptrolle in einer Horrorfilm-Serie über eine mittelalterliche Frau erhalten, die offenbar bei der Verteidigung ihrer Keuschheit zu Tode gekommen war. Dann und wann tauchte sie unter den Lebenden auf, um sich an dem Mann zu rächen, der sie vergewaltigt hatte und der ebenfalls von Zeit zu Zeit wieder aufkreuzte, um junge Frauen zu bedrohen. Trotz des neofeministischen Anstrichs der Handlung segnete Lacey immer das Zeitliche, nachdem sie ihren ewigen Feind besiegt hatte, während irgendein hirnloser Held seine geistlose Geliebte in den Arm nahm, die sich zuvor neunzig Minuten lang die Seele aus dem Leib geschrien hatte. Die Filme hatten so etwas wie Kultstatus bei den Angehörigen der Generation X - ihre übertriebene Ernsthaftigkeit verwandelte sie automatisch in eine überzogene Satire auf sich selbst -, aber die eigentlichen Fans waren Emily und ihre Teenagerfreundinnen, die Laceys Frisur, die kniehohen Schuhe mit den über Kreuz geschlossenen Riemen sowie die schwarzen Oberteile mit hohem Kragen, die sie privat trug, zu ihrem Kleidungsstil erkoren hatten.
Als ich am anderen Ende der Theke angekommen war, stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um nach Emily und Mary Louise Ausschau zu halten, aber die Menge war einfach zu dicht. Sal hatte sogar sämtliche Barhocker in den Keller getragen, damit mehr Platz für die Leute war. Ich preßte mich so eng wie möglich an die Wand, während gestreßte Kellner mit Hors d'reuvres und Flaschen vorbeihuschten.
Murray hatte sich mittlerweile zusammen mit der Frau in dem Silbergazekleid ans entgegengesetzte Ende der Theke bewegt. Er schien sie gerade mit der Geschichte zu unterhalten, wie Sal ihre hufeisenförmige Theke aus den Resten eines Herrenhauses an der Gold Coast gerettet hatte. Damals, in den Anfängen ihrer Zeit als Lokalbesitzerin, hatte sie mich und ihre Brüder dazu gebracht, über den Schutt zu klettern und das Ding herauszuhieven. Als ich sah, daß die Frau den Kopf mit einem künstlichen Lachen in den Nacken warf, war ich mir ziemlich sicher, daß Murray ihr erzählt hatte, er sei ebenfalls mit von der Partie gewesen. Irgendwie erinnerte mich das Gesicht oder auch der Schmollmund, den die Frau beim Zuhören machte, an jemanden, aber ich wußte nicht, an wen.
Sal blieb noch einmal mit einem Tablett voll Räucherlachs bei mir stehen. »Ich muß hierbleiben, bis der letzte draußen ist, aber du brauchst dich nicht rumzuquälen - los, verdrück dich nach Hause, Warshawski.«
Ich nahm etwas Räucherlachs und erklärte ihr ein wenig mürrisch, daß ich auf Mary Louise und Emily warten mußte. »Soll ich dir ein bißchen an der Theke helfen? Dann hätte ich wenigstens was zu tun.«
»Mir wär's lieber, wenn du nach hinten gehst und die Teller spülst. Du weißt ja, daß es hier normalerweise nichts zu essen gibt, und meine kleine Spülerin weiß gar nicht mehr, wo ihr der Kopf steht. Soll ich dir die Flasche Black Label bringen?«
»Ich muß noch fahren. Was anderes als San Pellegrino gibt's heute abend nicht.«
Murray gesellte sich mit seiner Begleiterin zu uns und legte den Arm um Sal. »Danke, daß du das Golden Glow zur Verfügung gestellt hast. Weißt du, ich dachte, wir sollten an einem Ort feiern, der wirklich typisch für Chicago ist.«
Dann stellte er sie seiner Begleiterin vor. »Das ist Sal Barthele. Sie...