Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Es überraschte keinen von uns, als wir hörten, dass Gopi Kumar bei CompUSA gefeuert worden war. Wir stellten uns vor, wie er nach Hause kam und seiner Frau großspurig verkündete, seine Chefin werde jeden Moment merken, was für einen Fehler sie da gemacht habe, und ihn anflehen, seinen Job wieder anzunehmen. Manju hatte dann sicher geschnaubt und gesagt: »Aber du gehst trotzdem zum Arbeitsamt und lässt dich registrieren« (was Gopi schließlich auch tat). Was Manju jedoch nicht wusste - was keinem von uns klar war: Gopi hatte bereits beschlossen, seinen Lebensunterhalt künftig als Arzt zu verdienen.
Drei Wochen später unterschrieb er den Mietvertrag für eine kleine Praxis in Manvel, gut anderthalb Stunden von seiner Wohnung entfernt; ein Ort, an dem er keinem von uns begegnen würde, wie er hoffte. Seiner Frau erzählte er, er würde sich nach einer Stelle umsehen, und später hatte er dann angeblich eine gefunden, als Fernsehverkäufer. Doch wenn er in diesen Tagen nach Hause kam, war er stets voll bepackt mit Büchern, mit allem, was er in der öffentlichen Bibliothek des Kreises Doakum über Medizin und Chirurgie finden konnte. Jeden Abend brütete er darüber, schrieb sich mit Bleistift Notizen an den Rand und konsultierte das Internet, wenn ihm etwas unklar war; und Manju stand in der Tür und sah ihm zu, leicht entnervt wie immer.
»In Leihbücher darf man nichts reinschreiben«, sagte sie. Manju war Sekretärin in einem Versicherungsbüro, sie kam uns in der Öffentlichkeit schüchtern vor, ein wenig unsicher - die Art Frau, die immer Saris trug und auf Tamil antwortete, wenn man sie auf Englisch ansprach. Es entging uns aber auch nicht, dass sie zu Hause, ihm gegenüber, recht kühn geworden war, denn wenn man mit einem Mann wie Gopi verheiratet war, der seine Mitmenschen nicht immer so recht wahrnahm, konnte man ruhig etwas lauter werden und sagen, was man dachte, ohne dass jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wurde.
»Warum denn nicht? Ich zahl doch Steuern dafür«, entgegnete Gopi dann.
»Als ob du immer deine Steuern bezahlen würdest. Was liest du da überhaupt?«
Und dann sah er sie an und sagte so etwas wie: »Kümmer dich um deinen eigenen Kram«, »Du hast wohl nicht genug Arbeit, dass du hier herumstehst und mir auf die Nerven gehst?« oder »Vielleicht solltest du selbst mal in ein Buch schauen, dann würdest du auch mal was lernen.«
»Wo du ja so ein Genie bist«, antwortete Manju dann. Oder sie hielt den Mund und beschloss, dass es nicht wichtig genug war, um ihn noch weiter zu provozieren.
Wenn Gopi sich schlafen legte oder zur Toilette ging, warf Manju natürlich einen Blick in die Bücher, um zu sehen, was ihren Mann so brennend interessierte, und deshalb meinten manche, sie muss davon gewusst und beschlossen haben, ihn nicht aufzuhalten - dass sie für alles, was später geschah, genauso viel Verantwortung trug wie er. Schließlich hatte Manju selbst die Geschichte erzählt, wie Gopi eines Tages in Indien den Verkehr vor seinem Haus so satt gehabt hatte, dass er sich aus den alten Khakihosen und -jacken seines Vaters, der bei der Luftwaffe gewesen war, eine Uniform zusammengestellt hatte und damit auf die Straße gegangen war. Er hatte handgeschriebene Strafzettel verteilt, sie gegen lautstark ausgehandelte Schmiergelder zerrissen und erst wieder damit aufgehört, als Manju vorgab, sie würde bei der Polizei anrufen und ihn anzeigen. Es heißt, Manju muss gewusst haben, dass ihr Mann schon eine einschlägige Vergangenheit als Hochstapler hatte, und sobald sie einen Blick in die Bibliotheksbücher geworfen hatte, hätte sie den logischen Schluss daraus ziehen müssen.
Doch wer so etwas sagt, begreift nicht, dass es mehr als einen logischen Schluss gab. Wie jeder weiß, hatte Manju in den einundzwanzig Jahren ihrer Ehe kein Kind bekommen können, und als sie die Bücher sah, die ihr Mann mit nach Hause gebracht hatte, mit den anschaulichen Fotografien von weiblichen Organen, von glänzenden Uteri, Scheidengeschwüren, blaugrünen Föten und ekzembedeckten Brustwarzen, hätte sie genauso gut glauben können, Gopi fühle sich einsam, weil er kinderlos und fast schon ein alter Mann war, und suche wieder einmal nach einer Lösung für ein Problem, das, wie sie vor langer Zeit beschlossen hatten, den Launen und der Gnade Gottes überlassen bleiben musste.
Wir mochten Manju sehr, und sie fehlt uns. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, und wir baten sie auf jeder unserer Feiern zu singen. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und räusperte sich, es wurde still im Raum, und Eltern hießen ihre Kinder, ruhig zu sein. Dann ließ sie ihre Stimme erklingen, und tief und bebend und voller Ehrfurcht und Traurigkeit sang sie von dem schönen, dunkelhäutigen jungen Krishna, wie sie ihn liebte und vermisste, wie sie sich in einsamen Nächten nach ihm verzehrte, aber niemals mit ihm zusammen sein konnte. Und während sie sang, bemerkten wir auch bei uns selbst einen hohlen Raum in der Brust und spürten, wie er sich mit einer süßen Sehnsucht füllte, die wir nicht greifen konnten, und unsere Augen wurden feucht und brannten. Wer darüber redet, was Manju und ihr Mann getan haben und was mit ihnen geschah, darf nicht vergessen, dass jeder Mensch Abgründe hat.
In den Räumen, die Gopi von seinen und Manjus kargen Ersparnissen anmietete, hatte vorher ein Tierarzt praktiziert, und das war Gopi nur recht, denn so ließen sie sich mit wenig Aufwand in eine richtige Arztpraxis verwandeln. Es war ein kleines Ladenlokal in einem Einkaufszentrum mit billigen Mieten, an einer ruhigen Landstraße und von anderen Geschäftsgebäuden durch ein grasbewachsenes Feld getrennt, auf dem ein Dutzend längst ausgedienter Ölpumpen wie großschnäblige Vögel herumstanden und auf dem im Sommer knochige Hamburger-Kühe grasten.
Es war so ein Ort, an dem sich jeden Morgen junge Männer mit Baseballkappen und Stetson-Hüten auf dem Parkplatz versammelten, dort herumstanden, bis die Sonne zu brennen begann, und sich dann in den schmalen Streifen Schatten neben dem Gebäude zurückzogen. Gopi sah sie, wenn er morgens zum Saubermachen und Vorbereiten kam; ihre Hüte tanzten vor seinem Praxisfenster auf und ab, während sie auf die mal vereinzelt, mal im Pulk ankommenden Pick-ups warteten, auf deren Fahrer, die mit dem Finger auf diejenigen zeigten, die einsteigen sollten.
Eines Tages bot Gopi einem der wartenden Männer dreißig Dollar an, damit er ihm half, die Schränke auszuräumen und die Wände zu schrubben. Der Mann war froh über die Arbeit. Wie inzwischen jeder weiß, hieß er Vicente; er hatte ein breites Lächeln und mochte etwa dreiundzwanzig sein. Auf Gopis Frage, woher er komme, antwortete Vicente: »Puebla, Mexiko. Und Sie?«
»Madras, Indien«, sagte Gopi.
Wir stellen uns vor, wie Gopi und Vicente die verstreuten Häufchen und Tierfutterreste zusammenfegten. Sie warfen die rostigen Kleintierkäfige hinaus, die hier und da gestapelt waren, und schrubbten die komischen Flecken von dem kleinen Edelstahl-Untersuchungstisch, der an einer Wand befestigt war. Erfolglos gingen sie dem Klopfen und Fiepen nach, das nach Gopis Überzeugung das Getrappel und das Rufen eines entlaufenen und vergessenen Haustiers sein musste, und als sie fertig waren, roch es zwar immer noch hartnäckig nach Urin, aber Gopi war zufrieden.
Damit die Praxis ein bisschen mehr hermachte, bestellte Gopi über das Internet ein Telefon, ein Skalpell, eine Pinzette, eine Schere, Verbandmull und Watte, Franzbranntwein, Verbände in unterschiedlichen Größen, Gummihandschuhe und einen Mikrowellenherd, und er besorgte sich von einem Freund in einem indischen Krankenhaus einen kleinen Vorrat an verschreibungspflichtigen Medikamenten.
Nach zwei Wochen Vorbereitung eröffnete Gopi seine Praxis. In einem Copyshop hatte er ein kleines Schild mit dem Pseudonym anfertigen lassen, das er sich ausgedacht hatte: DR. MED. RAJU GOPALARAJAN, SPEZIALIST FÜR FRAUENKRANKHEITEN UND SONSTIGE BESCHWERDEN. Dieses Schild befestigte er nun mit Klebeband im Fenster. Wir stellen ihn uns vor, wie er da stand in einem weißen Laborkittel aus dem Laden für Arbeitsbekleidung, um den Hals das Stethoskop, das am Morgen in der Post gewesen war, und wie er es nun auf die Ohren setzte und sich seinen Herzschlag anhörte. Das Herz klang kräftig und klar, und Gopi war überglücklich, wie gut er das alles hinbekommen hatte. Dann tanzte er, nur für einen Moment. Später, als er an seinem Schreibtisch saß, setzte er sein Lausbubengrinsen auf. Dann war es still. In den Wänden regten sich keine seltsamen Wesen, niemand rief an. In der Stille hörte er wieder seinen Herzschlag, und für einen Moment sah sich der arme Mann wie aus der Ferne. Er sah sich so, wie wir ihn sehen, allein in seiner Praxis an einer kaum befahrenen Landstraße. Ein Arzt? Vielleicht hätte er doch lieber klein anfangen sollen, erst einmal von zu Hause aus praktizieren, seinen Freunden Medikamente verschreiben und ärztliche Bescheinigungen für ihre Kinder ausstellen. Aber selbst das kam ihm jetzt absurd vor. Seine Wangen begannen zu glühen, und ihm dämmerte, dass er einen riesigen und lächerlichen Fehler gemacht hatte.
In seiner linken Schulter und in seinem Nacken entstand eine Anspannung, und Gopi redete sich ein, er müsse das Ganze so groß wie möglich aufziehen, damit die Leute ihm abnahmen, dass er Arzt war. Aber die Panik verging nicht, und Gopi musste jetzt dringend unter Menschen, deshalb trat er hinaus und gesellte sich zu den Männern auf dem Gehweg.
»Guten Morgen, Sportsfreunde«, sagte er...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.