Schweitzer Fachinformationen
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Aufräumen wäre eine Option, dachte Frau Doktor Helmkamp und ließ den Blick über die Bücherberge auf dem Boden schweifen, die Skizzen und Thesenblätter an den Wänden, das ganze Chaos, in dem sie seit Wochen lebte. Genauer gesagt, seit sie beschlossen hatte, ihren Opa vor Gericht zu bringen.
Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Eigentlich wollte sie überhaupt nicht denken. Eine zutiefst überbewertete Tätigkeit. Sie schloss kurz die Augen, dann wandte sie sich um und sah nach draußen.
Dorthin, wo schon wieder der Abend heraufzog und sich gierig über die Reste des Tageslichts hermachte. Seltsame Zickzacklinien waren es, die die Dämmerung heute an den Himmel malte. Linien, die sie an irgendetwas erinnerten. Ihr Handy klingelte. Sie schaute nicht nach. Sie wusste sowieso, dass es ihre Mutter war. Es war immer ihre Mutter.
Plötzlich wurde ihr klar, woran die Zickzacklinien sie erinnerten: an ein EEG, die elektronische Messung der Gehirnströme, eine der Standarduntersuchungen in der Psychiatrie. Das Bild, das dabei entstand, sah genauso aus. Zick, Zack. Zick, Zack. Wie oft hatte sie es bei ihrer Mutter gesehen.
Wieder ging das Telefon. «Do kennsch grad brülla» - Flüche waren Jannes wichtigstes Souvenir aus sechs Jahren Dienst in schwäbischen Notaufnahmen. Sie fummelte ihr Handy aus der Jacke.
«Ja, Mama?»
«Ja, doch!»
«Was ist denn?»
Sie sprang auf, lief im Zimmer auf und ab, während ihre Mutter am anderen Ende des Telefons so laut redete, dass sie das Handy vom Ohr weghalten musste.
«Mama!? Mama, bitte setz dich mal und hör mir zu!»
Jannes Stimme klang energisch. Nur wer sehr genau hinhörte, hätte das leichte, unterschwellige Zittern wahrnehmen können. Ihre Mutter aber hörte nicht genau hin, das tat sie nie. Sie redete und redete, bis Janne das Gespräch einfach wegdrückte und das Telefon aufs Sofa schmiss.
«Ich kann das jetzt nicht», sagte sie zu dem kleinen fetten Marzipan-Buddha, den Ella ihr mal aus Lübeck mitgebracht hatte. Er war über fünf Jahre alt und mittlerweile sicher ungenießbar. Dafür lächelte er noch immer breit vor sich hin und war auch sonst ein wunderbarer Lebenspartner, fand Janne. Weder schaute er Sportsendungen und brüllte dabei wie ein Hirsch, noch verteilte er seine schmutzige Unterwäsche in den Ecken ihrer Wohnung.
Nein, Mr Marzipan saß einfach nur da, lächelte und war somit exakt das, was Janne jetzt brauchte: einen Mann, der sie freundlich ansah. Denn leider herrschte in ihrem Leben deutlich Mangelware an dieser Spezies, während sich der Typus «Mann, laut, nervtötend» nur allzu häufig tummelte - nicht zuletzt in ihrer eigenen Familie.
Das Telefon, dessen Klingelton sie ausgestellt hatte, gab nun aggressive Schnarrlaute von sich. Janne ignorierte sie, ging in die Küche und kochte sich Tee. Viel Tee. Den würde es brauchen, um all das herunterzuspülen. Das, was seit dem vorigen Abend gebetsmühlenartig durch ihren Kopf spukte: Wie konnte sie nur einen solchen Aussetzer haben? Mitten in einer Notsituation? Sie war sich nicht sicher, wie viel Konrad und Ella bemerkt hatten. Sie hatte es vertuschen wollen - so wie sie es auch vor sich selbst zu vertuschen versuchte. Doch die Fragen lauerten noch immer dicht unter der Oberfläche ihres Bewusstseins wie Fische unter einer Eisdecke: Was, wenn es auch bei ihr losging? Wenn sie dieselben Symptome bekam wie ihre Mutter?
Janne presste ihre Hände an beide Schläfen, blickte hinüber zu dem Foto an der Wand: Mama in ihrer Lieblingsrolle als Salome in Richard Strauss' gleichnamiger Oper. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben. Es war aber auch zu komisch. Denn natürlich hatte ihre Mutter, die Opernsängerin Marina Helmkamp, die Rolle der Salome in Perfektion verkörpert: eine Wahnsinnsrolle für eine Wahnsinnige.
Janne seufzte und öffnete den Kühlschrank. Ganz vorne stand ein selbst gemachter Algen-Pudding, der allmählich eine grau-schleimige Oberfläche aufwies. Diagnose: Experiment gescheitert, dachte sie.
Aber es gab auch Hoffnung: eine Packung Schokotrüffel, reserviert für ganz besondere Momente. Und wer sagt denn, dass so ein Moment nicht auch ein ganz besonders nervtötender sein kann? Sie grinste, schob den Schleimpudding zur Seite und sich einen der Schokotrüffel in den Mund und ging dann halbwegs versöhnt mit dem Tag zu ihrem Schreibtisch. Der Plan war, die Arztbriefe abzuarbeiten, die gestern gekommen waren.
Doch genauso gut hätte sie versuchen können, den Algen-Pudding an die Wand zu nageln. Die Geister der Vergangenheit hatten schlicht keine Lust, Feierabend zu machen. Ganz im Gegenteil. Sie fingen gerade erst an.
«Sehr geehrte Frau Kollegin, besten Dank für die Überweisung des Patienten Alfons Kehrer -»
Gestern Abend, da in der Kneipe, da warst du völlig weggetreten. Ist das bei ihr auch so losgegangen? Denk nach.
«Die neurologische Untersuchung ergab -»
Du hast Bilder gesehen. Dein Arm schmerzte. Es war so real . so verdammt real .
«. konnte eine distal betonte Polyneuropathie nachgewiesen werden, die -»
Immer wieder dieses Klirren der Fensterscheibe.
Was war das?
Je massiver Janne versuchte, ihre Gedanken zurückzupfeifen, desto lauter wurden sie, kreisten sie ein wie ein Rudel Hyänen, jagten und hetzten sie durch dreißig Jahre gelebten Lebens zurück in ihre Kindheit. Ihre Kindheit, die vor allem eines gewesen war: abwechslungsreich. Und das in einem solchen Ausmaß, dass Jannes Traum vom Glück bis heute eigentlich nur in einem bestand: Gleichförmigkeit. Ein Lebensentwurf wie eine Konservenbüchse, sagte sie immer - außen formfest, innen vorgekocht nach der immer gleichen Rezeptur, bloß keine Überraschungen. Und das war durchaus nicht komisch gemeint. Schließlich hatte ihre Familie die unschöne Angewohnheit, ebendiesen Lebensplan permanent zu bombardieren.
So zumindest fühlte es sich auch jetzt wieder an, als erneut ihr Handy dingelte, dieses Mal mit einer WhatsApp, dann kam noch eine und eine weitere. Und das konnte ihrer Erfahrung nach nur eines bedeuten: Ihr Bruder Benny tackerte wieder einmal seine Mitteilungen im Telegrammstil durch die Welt.
Ich will das jetzt nicht, dachte sie, stand auf und holte den Staubsauger aus dem Schrank. Ein Höllengerät namens Vampyrette, das mehr Lärm machte als ein Traktor, aber genau deshalb so wunderbar war. Es übertönte schlicht alle Handys und Telefone dieser Welt und wischte einem mit seinem militanten Geröhre auch gleich noch alle Gedanken aus dem Kopf. Doch kaum war sie beim Saugen so richtig in Fahrt gekommen und machte mit dem schnorchelnden Gerät in ihrer Hand Jagd auf noch die letzten Spinnweben, begann ihr Handy auch noch zu blinken, was bedeutete, dass eine dringende Mail eingegangen war. Sie stellte die Höllenmaschine aus, knipste das Handy an und war dann eine Weile sehr still.
«Das kann er doch nicht machen», knurrte sie, stellte die Vampyrette wieder an und schleuderte ihr Handy zurück aufs Sofa. Das Handy mit den Botschaften ihres kleinen Bruders Ben. Benny, der inzwischen gar nicht mehr klein und neunundzwanzig Jahre alt war, auch wenn Janne fand, dass das leider keinen allzu großen Unterschied machte. Besonders nachdem sie alles gelesen hatte.
«Liebe Quaki», schrieb er, und bereits das, der alte Kindername, ließ ihre Alarmglocken lauter klingeln als das Ulmer Münster zu Weihnachten. Quaki nannte er sie nur in Momenten größter Rührung - etwa wenn Werder Bremen gewonnen oder er zu viel Rotwein getrunken hatte - oder wenn er wieder einmal an jenem Punkt war. Jenem Punkt, der in immer kürzeren Abständen zu kommen schien. Dem Punkt, an dem ihr kleiner Bruder sein Leben nicht mehr aushielt und alles hinschmiss: Studium, Lehre, Job, Beziehung, sich selbst - und wegrannte. Dann kamen Postkarten. Schrillbunte Grüße aus Irgendwo. Mit acht oder zehn Wörtern darauf. Dieses Mal reichte es offenbar nur für schnell hingetackerte WhatsApps. Aber immerhin fast dreißig Wörter. Sollte sie das misstrauisch machen?
«Liebe Grüße aus Neuseeland», ging es weiter. Neuseeland? Wieso Neuseeland?, röhrte es durch Jannes Kopf. Er soll doch auf seinem Sachbearbeiterstuhl in der Klinik in Tübingen sitzen und - eben - Sachen bearbeiten.
Hab heute drei Schafe geschoren, bockige Biester die. :-) Dr. Bechthoff habe ich gekündigt, er hat mich gleich freigestellt. Cooler Typ. Bis bald, Quaki, ich melde mich. Nächste Woche Indien.B.
Drei ganze und zwei halbe Sätze. Immerhin. Und nächste Woche Indien? Janne wusste nicht, ob sie weinen, lachen oder ins Sofakissen beißen sollte. Und während sie noch darüber nachsann, ob vielleicht eine Joggingrunde samt einer eiskalten Dusche die bessere Option sei, begann ihre Unterlippe zu zittern. Sie ignorierte es und stapfte nach unten in die Praxis, um ein paar Unterlagen zu holen. Sie würde jetzt endlich die verdammten Arztbriefe . Doch unten angekommen, wanderte ihr Blick wie zwanghaft zur Tür ihres Behandlungszimmers.
Dahin, wo das vergilbte Masern-Impfposter klebte, dessen blond gelocktes Fotomodell sie an ihren Bruder als Kind erinnerte.
Vielleicht war es das. Aber vielleicht war es auch einfach das Getute von oben, das ihr den Rest gab. Es setzte just in diesem Moment ein: ein durchdringendes, hakeliges Tröt, Tröt. Das konnte nur Schnöschen sein - gesprochen...
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