Schweitzer Fachinformationen
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Es war ein Dienstag - und einer dieser spülwassergrauen Novembertage, an denen die Wolken wie eine Herde dicker Seekühe über Hamburg herumtrudeln. Es roch nach Schnee, und der Nordwestwind fegte zischend durch jede Häuserspalte. Entsprechend frostiger Stimmung radelte ich gegen neun durch die Stadt Richtung Hafen und versuchte, meinem noch schlaftrunkenen Hirn ein paar praktische Informationen zu entlocken wie etwa: Was mache ich heute eigentlich?
Erst mal gehst du arbeiten bei Hans. Und heute Nachmittag musst du dann zu Herrn Hübchen, dem größten aller Chefredakteure, informierte mich mein Hirn und ließ damit meinen Stimmungspegel abrupt ins Minus sinken. Du sollst ihm Themenvorschläge machen. Für die Weihnachtsausgabe von «Goldene Tage», der Illustrierten für die besten Jahre. Und denk dran, näselte mein Hirn und grinste hämisch: Herzzerreißend soll es sein. Du weißt schon - Schicksale, die bewegen. Ich zog eine Grimasse. Der journalistische Weitblick Wilfried Hübchens entsprach etwa dem meines Föhns.
Wut brauste in mir auf. Auf das Leben und seine Zumutungen. Und auf das miesepetrige Wetter dieser ewig klammen Hafenstadt, in die ich nicht geboren war. Ich trat fester in die Pedale, duckte mich unter dem Nordwestwind, der in mein Gesicht stach wie mit feinen Eisnadeln. Daher hätte ich ihn beinahe nicht gesehen. Den Schatten.
Auf einer Plakatwand in St. Pauli ragte er meterhoch hinauf und tanzte. Oder so was Ähnliches. Eigentlich war es eine riesige dünne Schattenfrau. Sie hatte ihre Arme erhoben wie für einen unsichtbaren Tanzpartner und trug einen langen Rock, der melancholisch um ihre Beine schwang. Fast meinte man, von irgendwo die Klänge eines Dreivierteltaktes herüberwehen zu hören, zu dessen Tumtata Tumtata die Schattendame ihren einsamen Walzer tanzte. Zum Leben erweckt wurde sie von einem dicken roten Sonnenball, der hinter ihr melodramatisch am Firmament versank. Nosferatu meets Bacardi-Werbung, dachte ich noch im Vorbeiradeln und dass mir das Ganze vage bekannt vorkam.
Die Schatten, Dido, du musst die Schatten sehen - sie sind das Wesentliche.
Schnell, schnell weiter. Schon kamen die ersten Hafenkräne in Sicht, bunte Schemen, die aus einer dichten Nebelsuppe ragten. Der Herbst lag wie ein großes, graues Laken über der Elbe und verschluckte alles mit seinem diesigen Atem - die Werften, den Michel, die Landungsbrücken, an denen sich die Barkassen drängelten. Das einzig Erfreuliche an dieser Tag gewordenen Depression war die Luft: Es roch nach Salzwasser, Fisch, Schiffsdiesel, geröstetem Kaffee. Hafenduft - das beste Parfüm, das ich kenne.
Ich radelte hinunter bis zum Fischmarkt, blieb stehen und starrte ein paar Momente lang gedankenblind in den grauen Morgen - bis eine Möwe auf einem Tampen neben mir mit lautem Gekreische ihren Hering verteidigte. Da endlich machte es klick in meinem Kopf, und mir wurde klar, was ich da gerade gesehen hatte. Wessen Schatten auf dem Plakat an der Häuserwand seinen einsamen Walzer getanzt hatte. Ich spürte, wie es in mir ganz leer wurde - als täte sich ein riesiger Raum auf, angefüllt mit: nichts. Auch mein Gehirn schien jede normale Tätigkeit eingestellt zu haben, blinkte nur noch rot für «Störung».
Wie in Zeitlupe drehte ich mich um und fuhr zurück. Langsam, im Schritt-Tempo, so als müsste ich einen ganzen Pferdewagen hinter mir herziehen. Und im Grunde war es auch so. Es war mein halbes Leben, das ich hinter mir herzog - oder zumindest ein wesentlicher Teil davon.
Ein kurzer Blick auf die Schriftzüge des Plakats genügte, um zu bestätigen, was ich im Grunde bereits gewusst hatte: Ich selbst war es, die da tanzte. Ein Schatten meiner selbst - aufgenommen vor vielen Jahren, in einem anderen Leben, einer anderen Zeit. Ich spürte Tränen, die mir die Luft abdrückten, und versuchte zu schlucken. Doch der Hals war zu eng, alles schien plötzlich zu eng. Ich setzte mich wieder aufs Fahrrad und sauste los, als seien Höllenhunde hinter mir her.
Als ich in die kleine Straße oberhalb des Hamburger Hafens einbog, bekam ich zumindest wieder Luft. Auch die in Sturmstärke durch meinen Kopf wirbelnden Bilder beruhigten sich so weit, dass ich beim Bäcker an der Ecke in ganzen Sätzen Franzbrötchen und ein Käse-Baguette ordern konnte. Und dann war es zum Glück auch nicht mehr weit, bis ich den kleinen Laden im Erdgeschoss eines gelben Jugendstilhauses erreichte, das hinter zwei Platanen fast verdeckt war: Hans Petersens «Antiquariat für Bücher aller Art» - wo ich zwei Tage in der Woche jobbte.
Das mit dem «aller Art» ist so ein Spleen von Hans. Eigentlich verkauft er hauptsächlich Krimis, Heftromane und Kochbücher aus einer Ära, als die deutsche Hausfrau Broccoli noch für einen Zwergstaat im Südpazifik hielt. Doch nachdem ihm im Jahr zuvor ein pensionierter Studienrat eine Kiste mit einer zerfledderten Schiller-Gesamtausgabe, einer Mengenlehre-Fibel sowie einer DDR-Version des «Struwwelpeters» überlassen hatte, sah Hans das geistige Spektrum seines Sortiments jäh erweitert. Also war er auf eine Leiter gestiegen und hatte mit grünem Acryllack «Bücher aller Art» auf das Ladenschild gepinselt.
Unter diesem Schild nun saß Lord Nelson und begehrte Einlass. Lord Nelson war ein Kater. Zumindest dem Anschein nach. In Wirklichkeit war er ein Tyrann. Ein Kater gewordener Charakterfehler, dessen jäh wechselnde Launen selbst hartnäckig miez-miez rufende Katzenfreunde eines Besseren belehrten. Sobald ich die Tür aufgeschlossen hatte, quetschte er sich an mir vorbei in Richtung Sofa - einem Möbel, das ausschließlich von ihm bewohnt wurde. Wir anderen mussten mit Holzstühlen vorliebnehmen - wir waren ja auch nur Menschen.
Ich kochte Kaffee und begann, eine neue Bücherlieferung zu sortieren, bis Hans kam und irgendwie komisch war. Und wenn Hans komisch ist, ist das schon ziemlich komisch. Denn Hans Petersen ist der netteste Mensch, den ich kenne. Trotz seiner beachtlichen Größe fühlt man sich bei ihm niemals klein. Wenn er einen mit seinen blauen Hans-Albers-Augen ansieht und sein langes Gesicht, das mehr Furchen hat als ein Kartoffelacker, zu einem Grinsen verzieht, ist die Welt einfach in Ordnung. An diesem Morgen aber druckste er komisch rum.
«Hans, was ist los?»
Er setzte sich. Brummte ein wenig.
«Nu ja», fing er an und nestelte an seinem senffarbenen Pullover herum - Hans ist schrecklich farbenblind. «Du hast ja nie viel über ihn gesagt .»
Jetzt wurde er tatsächlich etwas rot im Gesicht.
«Aber ein-, zweimal hast du seinen Namen erwähnt und . ach, Deern, so was fällt ja selbst einem ollen Döskopp wie mir auf», sagte er in seinem typischen Hamburger Singsang - mit Vokalen so lang wie der Mississippi.
«Hans?»
«Na ja, am besten liest du es einfach selbst.»
Er reichte mir das Hamburger Abendblatt.
Es war gleich auf der Titelseite: ein Foto, das fast die halbe Seite einnahm. Darauf ein knorriger alter Baum in einer kargen Landschaft. Sein Schatten malte ein seltsames Muster auf den Boden, als wäre der Baum in einem Spinnennetz gefangen. Meine Hände zitterten, als ich die Zeitung aufschlug. Seite drei. Da war die Ankündigung zum Titelbild:
Schattenwege
Die erste Ausstellung von Lukas Lenzendorf seit acht Jahren.
Ab Mittwoch in der Galerie «Kunstpark West»
Ich hatte es natürlich gewusst. Von dem Moment an, als das Plakat mit der Schattenfrau in mein Bewusstsein gesickert war. Und ich hatte es all die Jahre gefürchtet. Unter dem Artikel war ein Foto. Seine Augen waren noch dieselben. Wach. Nett. Ein wenig spöttisch. Mehr Falten drum herum.
Er trägt eine Krawatte. Mein Gott, wie kann er eine Krawatte tragen? Er hasst Krawatten. Ich lauf doch nicht als Pinguin herum, hatte er immer gesagt. Die haben aber keine Krawatten, hatte ich erwidert, die haben einen Frack. Ach, du weißt schon, was ich meine. Und dann hatte er gegrinst, bis kleine Lichter in den eisblauen Augen tanzten.
Er hatte also eine Ausstellung. Seine erste große Ausstellung seit Jahren. Na schön. Was scherte es mich? Sollte er doch. Ich reichte Hans die Zeitung zurück.
«Danke.»
Er legte den Kopf schief. «Och Deern, nimm dir das doch nicht so zu Herzen. Muss ein ganz dummer Bengel sein, dass er so eine wie dich .», er wedelte mit der Hand durch die Luft, «na, was immer euch zwei passiert ist.»
«Danke, Hans. Ist schon okay. Ich räum jetzt noch die Kiste hier aus, dann gibt's Frühstück, ja?»
«Hm.»
«Hm?»
«Es ist wirklich okay. Lange her. Nur noch eine Erinnerung, sonst nichts.»
«Na, denn is ja gut, Lütte.»
Hans sah mich noch immer forschend an, doch zum Glück öffnete sich in diesem Moment die Ladentür, und eine gedrungene Gestalt schob sich in den Laden.
«Spooky-Ears», seufzte ich und stupste Hans an die Schulter: «Du bist dran.»
Keiner von uns beiden wusste, wie die alte Dame wirklich hieß. Sie kaufte seit Jahren ihre Arzt-Romane bei Hans. Was an sich eine Sache von fünf Minuten wäre. Doch Spooky-Ears, so genannt wegen ihrer großen, spitz zulaufenden Mr.-Spock-Ohren, machte daraus stets ein Spektakel in zwei Akten.
Zunächst rollte sie ihre großen Eulenaugen hinter der Hornbrille und zischte durch gelbe Vorderzähne finstere Schmähungen auf den Wetter-Verantwortlichen - «Petrus, diese Flitzpiepe». Danach kam...
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