Schweitzer Fachinformationen
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Am Kai von Plymouth
Wenige Tage später saß auf einem Schemel vor einer Spelunke am Sutton Harbour ein großer hagerer Mann mit mittellangen dunklen Haaren auf dem schmalen Schädel. Erste Falten durchzogen sein Gesicht. Er mochte um die vierzig Jahre alt sein. Die Farbe auf der Stirn und den blank rasierten Wangen hatte Johann Reinhold Forster von seinen Exkursionen mitgebracht, zusätzlich zu den Pflanzen, die nun zwischen saugenden Blättern sorgfältig geordnet und gepresst in seinem Londoner Quartier lagen. Sammeln und ordnen wären nicht nötig gewesen, in England schon gar nicht, denn in der Umgebung von London gab es keine neuen Pflanzen mehr zu entdecken. Auch keine Schmetterlinge und keine Käfer. Die Muscheln am Strand der Themse kannte jedes Kind. Aber er sammelte. Das tat er schon in jungen Jahren. Sammeln war ihm zur zweiten Natur geworden, und er hatte einiges dabei entdeckt. Damit prahlte er nicht, stellte seine Erfolge aber auch nicht unter den Scheffel. Immerhin waren Gelehrte wie Carl von Linné auf ihn aufmerksam geworden, Politiker auch, dass er nun den Ruf erhalten hatte, sich an Cooks nächster Reise zu beteiligen, kam nicht von ungefähr.
Was an Johann Reinhold Forster auffiel, waren seine unverhältnismäßig großen und ausdrucksstarken Augen. Da wurde ein Charakter offenbar. Bereits ein erster Blick verriet, dass sie zu einem jähen Wechsel fähig waren. Er konnte verständnisvoll und gütig schauen, neugierig und abweisend, auch zornig und das im Wechsel weniger Sekunden. Güte und Zorn im Ausdruck waren ungerecht verteilt. Sie verhielten sich gegeneinander etwa wie drei zu sieben Teilen. Beachtlich waren seine Ohren, ziemlich groß, doch immerhin eng anliegend, beachtlicher aber war, was er mit ihnen hören konnte oder wollte. Vieles ließ er an sich vorbeirauschen, erreichte die Blödigkeit, von der er meinte, dass sie eine wäre, diese Ohren und sein Hirn, so fuhr er aus der Haut, brüllte herum, tobte und warf seinem Gegenüber Unflätigkeiten an den Kopf. Kurzum, er besaß einen problematischen Charakter und deshalb kaum Freunde. Das aber glich er aus durch einen Fleiß, der seinesgleichen suchte, wenn er auch dem Jahrhundert der Gelehrsamkeit nicht fremd war. Fleiß und Gewissenhaftigkeit verschafften ihm, wenn schon nicht Freunde, so doch Anerkennung in der Gelehrtenrepublik, die sich feudaler Arroganz und religiöser Engstirnigkeit nur noch notgedrungen unterwarf. Sein Tag maß achtzehn Arbeitsstunden und das bedeutete, dass er zur Winterszeit neun Stunden Kerzen brennen musste. Seinen Augen war das nicht bekommen, aber er weigerte sich, eine Brille zu tragen. Oft blinzelte er, rieb sich die Augen, die schon bei leichten Winden tränten. Bei seiner Sammelwut in Feld und Flur und an den Stränden ein Ärgernis, zumal in England, wo der Wind allgegenwärtig ist.
Johann Reinhold war mit einem einspännigen Karren auf den Kai gefahren, der nicht einer unter vielen war in Plymouth, sondern der größte und bedeutungsvollste. Von hier aus war der Freibeuter Francis Drake zu seinen Kaperfahrten aufgebrochen und aufgrund seiner außerordentlichen Erfolge zum Vizeadmiral befördert und sogar geadelt worden. Seine Weltumsegelung nahm hier 1577 ihren Anfang. Die sagenhafte Terra Australis Incognita hatte er nicht entdeckt, und das war auch gut so, denn nun, mit besserer Ausrüstung und eben erst erfundenen Instrumenten, bestand die reale Chance, sie wirklich zu sehen und zu betreten, die günstigste Gelegenheit, noch größeren Ruhm zu ernten. Ruhm und Anerkennung waren nur das Eine. Natürlich käme Forster beides zupasse. Was ihn aber wirklich trieb, war Wissbegierde. Sein enges Umfeld hatten die Altvorderen schon mehrfach ausgeschritten. Doch nun: Südwärts segeln bis ans Ende der Welt! Cooks Resolution würde sich einreihen in die Phalanx der Schiffe, die hier zu großen und kühnen Taten ausgelaufen waren. Die Mayflower konnte man getrost dazu rechnen. Sie hatte 1620 hier gelegen und geladen, 133 Menschen waren an Bord gegangen, um von diesem Kai für immer abzulegen und die Neue Welt zu besiedeln. Die Männer nannte man wenig später Pilgerväter, leider waren deren Enkel eben dabei, sich gegen das Mutterland zu erheben. Jetzt lag die Resolution an diesem berühmten Kai, und ihre Leinen zerrten an den Eisenringen, die sie hinderten, in See zu gehen. Bald käme sie frei, und er würde dabei sein, bei ihrer großen Fahrt um die Welt! Resolution! Entschlossenheit! Ein Name ganz nach seinem Herzen.
Johann Reinhold sah auf das Schiff, und bei aller Freude kam es ihm erbärmlich klein vor. Das war es auch. Knapp hundertzehn Fuß in der Länge, knapp sechsundachtzig in der Breite, drei nicht sehr hohe Masten und zwei Decks. Dunkles Holz, wohin er sah. Die aschgrauen Segel waren bereits an den Rahen angeschlagen. Diese dickbäuchige Arche soll für Jahre mein Zuhause werden? Arche, das traf's. Eben wurden ein paar Schweine, mehrere Hunde, Schafe und Ziegen die Gangbretter hochgetrieben, Käfige voller Hühner vor die Geschützpforten gehoben und hineingezerrt. Die Tiere bellten, meckerten, gackerten aufgeregt, und über allem schwebte der Geruch von Pferdemist und frischem Teer. Vom Achterkastell ließ ein Papagei saftige Flüche hören. Johann Reinhold lachte in sich hinein, denn er verstand alles. Viel Worte machte das Tier nicht, aber es schrie jedes lauthals heraus und es war zudem ein wenig polyglott. Scheiße, Suffköppe hallte es über den Kai. Auf Englisch, Französisch und Spanisch. Whoreshit, schimpfte das knallbunte Federviech, und Johann Reinhold verstand auch diese seltene Vokabel. Er sprach fließend Englisch, wenn er es wollte sogar Jargon, denn er war bereits seit sechs Jahren im Land und hatte in dieser Sprache, die er bereits als Zwölfjähriger weitgehend beherrschte, seine Studenten unterrichtet. Er zog die Taschenuhr, klappte sie auf. Endlich! In wenigen Minuten sollte seine Karre entladen werden, auf der sich Kisten und Kasten stapelten. Sie enthielten alles, was er in der Eile der letzten Tage zusammentragen konnte: Papier, Papier. Papier in allen Formaten, dazu Hunderte Federn, Behälter voller farbiger Tinten, Streusand, Aquarellfarben, und - das war besonders wichtig - englische Bleistifte, in Holz gebettete Graphitstäbe, die selbst unter den widrigsten Umständen funktionierten. Viele Seiten würde er beschreiben, zwischen dem gröberen Papier sollten noch unbekannte Pflanzen getrocknet und gepresst werden. Große Gläser, kleine Gläser, Röhrchen, Korken jeden Formats, Kästchen, um all die Insekten aufzunehmen, die er auf dem zu entdeckenden neuen Kontinent sehen, fangen und genauestens untersuchen und klassifizieren wollte. Dünne Netze, Fässchen voll Alaun, Arsenik und Tabakstaub zum Präparieren unbekannter Tiere. Bretterbündel, die sich zu Kisten zusammensetzen ließen. In denen sollten, wenn man denn dazu kommen würde, Gegenstände verstaut werden, die sie von den Wilden auf den Südseeinseln, die man ja anlaufen musste, wenn in der Nähe des südlichen Pols Winter herrschte, im Tausch gegen allerhand Krimskrams erhalten würden. Cook, der es wissen musste, hatte ihm empfohlen eiserne Nägel und kleinere Messer, eventuell auch ein paar schlichte Beile mitzunehmen. Er hatte diesen Rat befolgt. Weitere Truhen enthielten Bücher, Messgeräte, ein Mikroskop, in einem mittelgroßen Kasten lag seine Pistole nebst der dazu notwendigen Munition, auch ein ausziehbares Fernrohr, Präparationsbestecke, Werkzeuge und etwas Zinngeschirr. Messer, Gabel und Löffel konnte er am Gürtel tragen oder in die Stiefel stecken, wenn er sie nicht einfach an eine Wand hängte. Alle Kleider, die er besaß, steckten in einem Sack, er hatte sie hineingestopft, wie sie ihm eben in die Hände fielen. Hosen, Hemden, ein paar Strümpfe, drei Lagen Leinen, Nadel, Faden - aus. Putz und Tand und Firlefanz? Das war was für Frauenzimmer. Nein, es gab Wichtigeres. Ob alle diese Sachen reichen werden, uns über die Jahre zu tragen? Da gab es nichts zu überlegen. Es musste reichen. Und wenn er etwas vergessen hatte? Auf See war es zu spät. Was sich nicht an Bord befand, ließ sich nicht mehr beschaffen in den Jahren, die nun vor ihnen lagen. Seine Kammer, die er gestern zum ersten Male betreten durfte, maß dreieinhalb mittlere Schritte im Geviert. Das sagte alles. Plötzlich krachte und schepperte es vernehmlich. Johann Reinhold fuhr von seinem Schemel hoch. Er stürmte zur Karre, brüllte, schlug dem Fuhrknecht seine Rechte ins Gesicht und trommelte mit den Fäusten auf den Rücken des sich ängstlich Duckenden. Der Mann hatte eine Kiste hart aufgesetzt. Wahrscheinlich war dabei einiges zu Bruch gegangen. Von hinten trat Georg an seinen Vater heran, legte einen Arm um seine Schultern und sagte - nichts. Der Wütende hielt ein und beruhigte sich. Sein Sohn hatte ihn schon oftmals wieder auf den Boden geholt. Auch diesmal tat seine ruhige und ausgleichende Art ihre Wirkung. Ganz sachte klopfte Georg auf die rechte Tasche im Wams seines Vaters. Da steckte der Horaz, ohne diese Sammlung der Oden und Sentenzen des alten Römers ging Johann Reinhold seit vielen Jahren nicht aus dem Haus. Das Büchlein sah noch immer ziemlich neu aus, denn sein Besitzer las nur selten in ihm. Er konnte jede Zeile auswendig und so besaß er, was ihn und seinen Charakter betraf, wenig Hoffnung. Quintus Horatius Flaccus, eben dieser Horaz, sagte: Den Himmelsstrich, nicht ihr Innerstes wechseln, die das Meer überschiffen. Georg schaute auf den Vater. Er liebte, er verehrte ihn. Alles, was er konnte und wusste, verdankte er ihm. Er war ihm ähnlich in vielen Dingen. Seinen problematischen Charakter habe ich zum Glück nicht geerbt, dachte er, da komme ich wohl nach der Mutter. Die ist stets milde gestimmt, schimpft selten, und brüllen...
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