EINE REISE ZUM MOND
"LKW Walter, Nordverkehr, Pangl - grüß Gott!"
"Ich grüße Sie, Herr Pangl, mein Name ist Palme vom Österreichischen Fußball-Bund. Ich rufe Sie an, um Sie zu fragen, ob Sie sich vorstellen können, für uns zu arbeiten."
"Herr Palme, wenn Sie einen LKW aus Schweden bestellen wollen, gerne, aber mit Fußball haben wir nichts zu tun. Ich glaube, Sie sind falsch verbunden."
Ich lege auf. Kann sich ja nur um eine Verwechselung handeln. Meine fußballerischen Erfahrungen beschränken sich bis dahin auf den Außendecker-Posten beim UFC Peppino Stotzing. Dass der ÖFB mehr zu tun hat, als alle paar Wochen ein Länderspiel auszutragen, ist mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst.
Es klingelt erneut. "Herr Pangl, warum legen Sie auf? Ich möchte Sie nochmal fragen: Würden Sie gerne beim Österreichischen Fußball-Bund arbeiten? Und legen Sie bitte nicht gleich wieder den Hörer auf die Gabel."
Okay, dass sich jemand zweimal nacheinander verwählt, ist dann doch unwahrscheinlich. Und ÖFB? Seit ich sechs Jahre alt bin und den Kurier von hinten lese, interessiere ich mich für Fußball. Blödsinn, ich liebe diesen Sport! Und jetzt ruft mich jemand mit einem schwedisch klingenden Namen an, will aber keinen Transport, sondern mir einen Job im Fußball anbieten. Ausgerechnet mir?
Obwohl ich noch immer von einer Verwechselung ausgehe, sage ich: "Na gut, Herr Palme. Ich glaube zwar nach wie vor, dass Sie falsch verbunden sind, aber wenn ich behaupten würde, dass mich das, was Sie sagen, nicht interessiert, müsste ich lügen."
"Folgendes, Herr Pangl: Der ÖFB veranstaltet am Freitag, dem 6. Dezember 1985, seine Weihnachtsfeier in der Eventpyramide in Vösendorf. Treffen wir uns doch vorher um 18 Uhr dort im El Dorado, dann erkläre ich Ihnen alles."
"Wenn Sie meinen - ich bin dort."
Auf dem Weg nach Hause schwirrt mir der Anruf im Kopf herum wie eine lästige Fliege. Mal angenommen, dieser Herr Palme meint es ernst - wie kommt er ausgerechnet auf mich? Beim Abendessen sage ich: "Mama, Papa, heute hat mich jemand vom ÖFB angerufen."
"Was, die ÖVP?", ruft meine Mutter.
"Nein, ÖFB, Österreichischer Fußball-Bund."
"Aha, und was wollen die von dir?" Das laute Klappern der Teller in der Abwasch signalisiert mir, dass meine Mutter das Unheil kommen ahnt.
"Ein Herr Palme hat mich gefragt, ob ich dort arbeiten will."
"Die verwechseln dich doch. Warum sollten sie ausgerechnet dich fragen?" Das Klappern in der Spüle wird lauter.
"Ich weiß es nicht, Mama. Ich habe eh gleich aufgelegt, aber dann hat er nochmal angerufen." Viel fehlt nicht und die Teller bekommen erste Sprünge.
"Ja, aber, Bub! Jetzt hast du so einen guten Job beim LKW Walter. Du wirst doch wohl nicht kündigen und dort hingehen?"
"Mama, ich gehe zumindest zu dem Gespräch. Selbst wenn sie mich verwechseln, habe ich ja nichts zu verlieren. Aber anhören möchte ich es mir schon."
"Also, ich würde nicht hingehen!" Rumms, landet das Besteck in der Spüle.
Dann schaltet sich mein Vater, selbst begeisterter Fußballer und Grün-Weißer durch und durch, in das Gespräch ein. "Naja, es ist Fußball. Schaust halt mal."
Meine Mutter hat natürlich recht. Nach meiner Matura an der BHAK Eisenstadt und dem Präsenzdienst beim Bundesheer habe ich mich bei drei Firmen beworben. Beim Hofer als Einzelhandelskaufmann und Leiter für sechs Filialen. Bei der Lauda Air als Flugbegleiter, obwohl ich in meinem bisherigen Leben noch nie ein Flugzeug von innen gesehen habe. Und bei LKW Walter, einem international agierenden Transportunternehmen aus Wiener Neudorf, direkt an der Südautobahn. Für einen kleinen Buben aus Stotzing, dessen spektakulärste Reisen Wallfahrten nach Maria Taferl oder Maria Dreieichen waren und der das Ausland nur aus den Erzählungen anderer kennt, war das das Tor in die große, weite Welt. Zehn Monate ist es gerade einmal her, dass mich Diplomkaufmann Franz Krauter mit dem Satz packte: "Willkommen in unserer Familie!" Ich habe einen riesigen Spaß, Transporter zwischen Schweden und Österreich hin und her zu dirigieren und für die richtige Beladung und die nötige Auslastung zu sorgen. Das ist kein Job, den man leichtfertig in den Wind schießt. Doch wenn der Fußball ruft, ist es unmöglich, sich taub zu stellen.
Also investiere ich. In einen neuen Haarschnitt, ein pastellgrünes Hemd, eine dazu passende Krawatte und ein dunkles Sakko. Ganz nach dem Motto: Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck. Mit einer Klarsichtfolie unter dem Arm, in der mein Maturazeugnis steckt, betrete ich um kurz vor 18 Uhr das El Dorado. Und spiele in meinem Kopf immer noch die Möglichkeit durch, wie ich gesichtswahrend aus der Nummer herauskomme, wenn die ganze Geschichte doch auf einem Irrtum basiert.
Ich werde von einem schlanken Mann mit dünnen, blonden Haaren begrüßt. "Herr Pangl, schön, dass Sie da sind. Heinz Palme mein Name. Ich habe Herrn Professor Gerhard Hitzel mitgebracht, das ist unser U18-Teamchef."
Nett, dass er ihn vorstellt, aber als eifriger Leser des Sportteils sind mir Name und Gesicht natürlich bekannt. Womöglich doch kein Missverständnis? Palme legt gleich los: "Wir suchen einen Mann für einen Job im Nachwuchs des ÖFB: Sitzungen, Administration, Protokolle, das volle Programm. Andererseits müssen Sie viel unterwegs sein, U-Nationalteams im Ausland betreuen, Reisen organisieren. Wäre das etwas für Sie?"
Genauso gut hätte er mich fragen können, ob ich mich für einen Lottosechser erwärmen kann.
"Wir müssen aber noch eins ergänzen ."
"Aha, jetzt kommt der Haken", denke ich. Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.
". es ist ein unglaublich zeitintensiver Job. Sie sind auch an Wochenenden im Einsatz, es gibt keinen fixen Büroschluss. Wir müssen voraussetzen, dass Sie damit leben können."
Er will anscheinend auf Nummer sicher gehen. Falls er sich dachte, damit ein Ausschlusskriterium ins Feld zu führen, liegt er falsch. Viel Arbeit hat mich noch nie abgeschreckt, im Gegenteil. Mein Vater hat immer 40 Stunden auf dem Bau geschuftet und sich am Abend und an den Wochenenden um unsere Nebenerwerbslandwirtschaft gekümmert. Meine Mutter arbeitete stets von früh bis spät in der Bäckerei meines Großvaters. Ich habe da wie dort oft mitgeholfen, war bei der Weinlese genauso dabei wie beim Brotausfahren. Ich sage also aus voller Überzeugung: "Arbeit und Zeitaufwand sind bei mir nie ein Problem."
Die beiden Männer schauen sich mein Zeugnis an, stolpern kurz über den Vierer in Mathe und freuen sich über meine guten Noten in Englisch und Französisch. "Fremdsprachen werden Sie brauchen." Langsam dämmert mir, dass es ernst werden könnte. Und tatsächlich sagt Palme: "Gut, dann kommen Sie nächste Woche mal zu uns in die Mariahilfer Straße. Wir haben einen neuen Generalsekretär, den Herrn Ludwig, der muss auch noch sein Okay geben. Aber das wird wohl nur Formsache, von unserer Warte aus passt das."
Das geht mir jetzt doch etwas zu schnell. "Moment", sage ich. "Ich habe noch zwei Anmerkungen. Erstens: Sie haben gesagt, ich muss fliegen. Ich weiß zwar, wo der Flughafen ist, war aber noch nie jenseits der Passkontrolle."
"Kein Problem! Beim ersten Mal wird jemand dabei sein, der Ihnen zeigt, wie das funktioniert. Und zweitens?"
"Warum ich, Herr Palme? Warum haben Sie ausgerechnet mich angerufen?"
"Das kann ich Ihnen erklären."
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man im Leben oft für Dinge belohnt wird, bei denen man es sich zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich ereignen, beim allerbesten Willen nicht vorstellen kann. Es gilt das Gesetz von Ursache und Wirkung. Zum Beispiel, als ich in der 3. Klasse der Handelsakademie in Eisenstadt war. Wir brauchten einen Klassensprecher, und der Job war ungefähr so begehrt, wie einen Austria-Fanshop in Hütteldorf zu führen. Keiner erbarmte sich. Auch als der Klassenvorstand zum dritten Mal fragte, starrten alle nur auf den Boden. Ich war bis dahin eher eine graue Maus, stand oft im Schatten von Stärkeren, Größeren, Besseren. Doch als die Klassengemeinschaft auseinanderzubrechen drohte, stand ich zum ersten Mal in meinem Leben auf und stellte mich der Verantwortung. Nicht gerade ein Traumjob, den Mitschülern wegen der 12,50 Schilling für die Busfahrt am Wandertag hinterherzurennen, aber einer muss ihn ja machen. Also ließ ich mich...