Schweitzer Fachinformationen
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»Das Essen ist fertig, gnädige Frau«, sagte ich. »Kommen Sie bitte zu Tisch.«
Sie erwiderte nichts. Auf ihren Stock gestützt, blieb sie reglos stehen. Also ging ich zu ihr, hakte mich bei ihr ein und führte sie zu ihrem Stuhl. Sie grummelte nur. Ich ging in die Küche hinüber, holte ihr Tablett und stellte es vor sie hin. Sie betrachtete es, rührte aber das Essen nicht an. Als sie murrend den Hals vorstreckte, fiel mir ein, was ich vergessen hatte. Ich holte ihre Serviette heraus und band sie ihr hinter den großen Ohren fest.
»Was gibt's denn heute abend?« fragte sie. »Was hast du uns da wieder zusammengekocht?«
»Auberginen mit Knoblauch. Wie Sie es gestern gewünscht haben.«
»Die von heute mittag?«
Ich schob ihr den Teller näher hin. Sie nahm ihre Gabel und stocherte missmutig in ihrer Aubergine herum. Nachdem sie sie ein wenig zerteilt hatte, begann sie zu essen.
»Ihr Salat steht auch schon da«, sagte ich und ging in die Küche. Ich nahm mir auch eine Aubergine, setzte mich und begann selbst zu essen.
Nach einer Weile rief sie: »Salz! Recep, wo ist denn das Salz?«
Ich stand auf, ging hinüber und sah, dass sie das Salz neben sich stehen hatte. »Da ist es doch.«
»Das sind ja ganz neue Sitten. Warum gehst du rüber, während ich esse?«
Ich antwortete nicht.
»Kommen sie jetzt morgen oder nicht?«
»Doch doch, sie kommen schon«, sagte ich. »Wollten Sie nicht salzen?«
»Was schert dich das! Sie kommen also?«
»Morgen mittag. Wie per Telefon angekündigt .«
»Was gibt es noch zu essen?«
Ich trug die halbgegessene Aubergine ab und brachte ihr auf einem sauberen Teller ein leckeres Bohnengericht. Als sie auch darin lustlos herumstocherte, ging ich nach nebenan, setzte mich und aß nun ebenfalls. Nach einer Weile rief sie »Pfeffer«, aber ich tat so, als hätte ich nichts gehört. Als sie »Obst« rief, ging ich hinüber und stellte ihr die Obstschale hin. Ihre knochige, dünne Hand fuhr wie eine müde Spinne langsam über die Pfirsiche. Dann hielt sie inne.
»Die sind ja alle faul! Wo hast du denn die her, unter dem Baum aufgeklaubt?«
»Die sind nicht faul«, sagte ich, »sondern reif. Das sind ausgezeichnete Pfirsiche, und sie sind gekauft. Sie wissen doch selbst, dass es hier keine Pfirsichbäume mehr gibt.«
Sie ging nicht darauf ein, sondern griff zu einem Pfirsich. Ich ging wieder hinüber, um meine Bohnen fertigzuessen, aber bald hieß es schon wieder: »Die Serviette! Recep, wo bist du denn! Mach sie mir ab!«
Ich eilte hinüber, und als ich nach ihrer Serviette griff, sah ich, dass sie auch den Pfirsich nur halb gegessen hatte.
»Soll ich Ihnen wenigstens noch eine Aprikose geben? Sonst haben Sie hinterher wieder Hunger und wecken mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf.«
»Nein danke«, sagte sie. »So weit ist es zum Glück noch nicht mit mir, dass ich dein Fallobst essen muss. Jetzt mach sie schon ab!«
Ich knüpfte ihr die Serviette auf. Als sie sich den Mund damit abwischte, zog sie die Stirn in Falten und sah aus, als würde sie beten. Dann stand sie auf.
»Bring mich hoch!«
Sie stützte sich auf mich, und wir stiegen die Treppe hinauf. Auf der neunten Stufe blieben wir stehen, um zu verschnaufen.
»Hast du ihre Zimmer hergerichtet?« fragte sie außer Atem.
»Hab ich.«
»Na gut, also weiter«, sagte sie und stützte sich noch mehr auf mich.
Auf der letzten Stufe angelangt, rief sie aus: »Neunzehn, Gott sei Dank!« Dann ging sie in ihr Zimmer.
»Machen Sie das Licht an!« rief ich ihr hinterher. »Ich gehe jetzt ins Kino.«
»Ins Kino! Ein erwachsener Mensch! Bleib wenigstens nicht zu lang weg.«
»Ist gut.«
Ich ging wieder hinunter, aß meine Bohnen auf und spülte das Geschirr. Dann nahm ich die Schürze ab, die Krawatte saß noch, ich nahm meine Jacke, die Brieftasche war drin. Ich ging aus dem Haus.
Vom Meer wehte es kühl herüber, das tat mir gut. Die Feigenblätter raschelten leise. Ich schloss die Gartentür hinter mir und ging auf den Strand zu. Am Ende unserer Gartenmauer beginnen der Gehsteig und die neuen Betonhäuser. Die Leute sitzen auf ihren Balkons und in ihren winzigen Gärten, sie haben Fernseher und sehen die Nachrichten; vor den Holzkohlengrills sitzen die Frauen, auch sie bemerken mich nicht. Auf den Grills Fleisch und Rauch: Familien, Leben, ich beobachte das gerne. Wenn der Winter kommt, ist nichts davon übrig, dann höre ich in den leeren Straßen meine eigenen Schritte und erschauere. Mich fror jetzt, ich zog die Jacke an und bog in eine Seitenstraße ein.
Ein seltsamer Gedanke, dass sie alle gleichzeitig vor dem Fernseher sitzen und essen! Ich spaziere herum. In einer der Straßen, die auf den kleinen Platz hinausgehen, stieg ein aus Istanbul heimkommender müder Ehemann aus dem Auto, ging mit seiner Tasche eilig ins Haus, um nichts von den Nachrichten und vom Essen zu verpassen. Als ich wieder ans Ufer ging, hörte ich die Stimme Ismails.
»Nationale Lotterie, Ziehung in sechs Tagen!«
Er sah mich nicht. Und ich gab keinen Laut von mir. Fortwährend mit dem Kopf nickend, ging er durch die Tischreihen eines Restaurants. Er wurde zu einem Tisch gerufen und hielt einem kleinen Mädchen mit weißem Kleid und Haarschleife sein Bündel mit Lotterielosen hin. Das Mädchen wählte mit Bedacht eines aus, die Eltern setzten dazu ein wohlgefälliges Lächeln auf, ich drehte mich weg, ich schaue nicht mehr hin. Wenn ich Ismail etwas zugerufen und er mich gesehen hätte, dann wäre er eilig zu mir hergehinkt. Mensch, Bruderherz, warum schaust du denn nie bei uns vorbei, hätte er dann gesagt. Und ich: Weil ihr so weit weg wohnt, und noch dazu ganz oben auf dem Hügel. Und er: Ja, stimmt schon, wenn ich damals, als Dogan uns das Geld gab, nicht auf dem Hügel, sondern hier was gekauft hätte, ach Recep, wenn ich nicht gedacht hätte, dort oben beim Bahnhof ist es günstiger, sondern hier am Ufer gekauft hätte, dann wäre ich heute Millionär. Ja: Immer der gleiche Dialog. Und seine hübsche Frau sitzt immer da und schweigt. Warum soll ich also hin zu ihnen? Aber manchmal will ich schon, wenn ich in Winternächten so gar niemanden zum Reden habe, dann will ich schon und gehe auch hin, aber es läuft immer aufs gleiche hinaus.
In den Strandlokalen herrscht gähnende Leere. Überall läuft der Fernseher. Hunderte von Teegläsern sind aneinandergereiht und glänzen blitzsauber im starken Lampenlicht. Alles wartet darauf, dass die Nachrichten vorbei sind und die Menschen auf die Straße gehen. Unter den leeren Tischen sitzen Katzen. Ich gehe weiter.
Am Hafendamm sind Boote an Land gezogen. Der kleine schmutzige Strand ist menschenleer. Es hat vertrocknetes Moos ans Ufer geschwemmt, Flaschen, Plastikunrat. Das Haus des Bootsverleihers Ibrahim soll abgerissen werden, angeblich auch das Kaffeehaus. Als ich die hell erleuchteten Fenster des Kaffeehauses sah, wurde mir plötzlich warm ums Herz. Vielleicht ist dort jemand, irgendeiner, der nicht Karten spielt, dann reden wir, er fragt, wie's mir geht, und ich erzähle, er hört zu, und ich frage ihn, wie es ihm geht, und er erzählt, und ich höre zu. Wir schreien fast, um den Fernsehlärm und das Stimmengewirr zu übertönen: Freundschaft. Vielleicht geht er ja auch ins Kino mit.
Doch als ich das Kaffeehaus betrat, war es mit meiner Vorfreude auch schon wieder vorbei, denn es saßen wieder die beiden jungen Kerle da. Als sie mich erblickten, schauten sie sich sofort aufgekratzt lachend an, aber ich habe euch nicht gesehen, ich schaue auf meine Uhr, ich suche einen Freund. Da vorne links sitzt Nevzat und sieht den Kartenspielern zu. Ich setzte mich zu ihm. Froh lächelte ich ihn an.
»Hallo, wie geht's?«
Er gab keine Antwort.
Ich sah ein wenig zum Fernseher hin, die Nachrichten gehen zu Ende. Dann blickte ich auf die Karten, die auf den Tisch flogen, und auf den kiebitzenden Nevzat und wartete das Ende der Runde ab, doch als es soweit war, sprachen und lachten sie nur untereinander und nicht mit mir. Dann spielten sie weiter, konzentriert, und wieder ging es zu Ende. Als die Karten erneut verteilt wurden, hatte ich das Gefühl, endlich etwas sagen zu müssen.
»Die Milch war gut, Nevzat, die du mir heute morgen verkauft hast.«
Er nickte, ohne den Blick von den Karten zu wenden.
»Es gibt nichts Besseres als frische Vollmilch.«
Er nickte wieder. Ich sah auf meine Uhr, fünf vor neun. Dann sah ich eine Weile geistesabwesend auf den Fernseher, bis ich merkte, dass die jungen Kerle gickernd lachten. Als ich die Zeitung sah, die sie in Händen hielten, erschrak ich: Mein Gott, ist etwa wieder so ein Bild drin? Sie sahen nämlich abwechselnd auf mich und auf die Zeitung und lachten dazu dreckig. Kümmre dich nicht darum, Recep! Trotzdem dachte ich: Manchmal bringen sie so ein Bild in der Zeitung und schämen sich nicht dabei, und wie bei den Bildern von nackten Frauen oder von Bärenbabys im Zoo schreiben sie dann einen blödsinnigen, unqualifizierten Text dazu. Ich drehte mich zu Nevzat und sagte gedankenlos: »Wie geht's dir so?«
Kurz wandte er sich zu mir und murmelte dabei etwas, aber da ich in Gedanken ganz bei dem Bild war, fand ich nichts zu sagen und ließ mir so die Gelegenheit zu einem Gespräch entgehen. Belemmert sah ich wieder zu den beiden Jungen hin. Als unsere Blicke sich trafen, grinsten sie noch mehr. Ich sah wieder weg. Auf den Tisch flog gerade ein König. Die Kartenspieler fluchten, freuten und ärgerten sich. Dann begann ein neues Spiel; Karten und Freuden wurden neu verteilt: Ist etwa wirklich ein Bild drin? Mir kam ein Gedanke.
»Cemil!«...
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