Schweitzer Fachinformationen
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Was ich in der Buchhandlung verdiente, war meiner Mutter zu wenig. Ich sollte wenigstens das Geld für eine Paukschule bezahlen können, um mich auf die Zulassungsprüfung für die Universität vorzubereiten. Seit dem Verschwinden meines Vaters verstand ich mich immer besser mit meiner Mutter. Meinen Entschluss, Schriftsteller zu werden, belächelte sie milde. Erst mal sollte ich an eine gute Universität.
Eines Tages ging ich nach der Schule aus irgendeinem Antrieb zum Kleiderschrank meiner Eltern und stellte fest, dass die Sachen meines Vaters weg waren. Nur sein Geruch nach Tabak und kölnisch Wasser lag noch in der Luft. Wir sprachen nie mehr von meinem Vater, und das Bild, das ich von ihm hatte, löste sich allmählich auf.
Bevor ich ins letzte Schuljahr kam, zogen wir zu Sommeranfang ans Marmarameer, nach Gebze, wo ein Onkel von mir uns umsonst in einem Anbau wohnen ließ. Es war so gedacht, dass ich zunächst bei dem Onkel arbeiten und Geld ansparen sollte, um den Rest der Sommerferien in der Buchhandlung in Besiktas und in der Paukschule zu verbringen. Deniz wusste, wie leid es mir tat, aus Besiktas wegzumüssen, und er bot mir an, den Sommer über in der Buchhandlung zu übernachten.
Ich wurde von meinem Onkel dazu eingeteilt, in einem größeren Obstgarten über Kirsch- und Pfirsichbäume zu wachen. Ich sah sogleich eine Laube mit einem Tisch darunter und stellte mir schon vor, wie gemütlich ich dort lesen würde, doch da täuschte ich mich gründlich. Es war Kirschenzeit, und immer wieder fielen freche Krähenschwärme lauthals krächzend über die Bäume her, und zudem versuchten Kinder sowie Arbeiter von einer benachbarten Großbaustelle, bei mir Obst zu stehlen.
In einem Garten nebenan wurde ein Brunnen gegraben. Ich ging manchmal hinüber und sah zu, wie der Brunnenbauer unten mit Spitzhacke und Schaufel hantierte und seine beiden Gehilfen den Aushub auf einen Haufen leerten.
Die Gehilfen stemmten sich in die beiden Kurbeln der hölzernen Seilwinde, die dabei lustig quietschte, und wenn der volle Eimer bei ihnen anlangte, schütteten sie die Erde in eine Schubkarre. Während der eine Gehilfe, etwa in meinem Alter, die Schubkarre wegfuhr, rief der andere, ein etwas älterer, großgewachsener Junge, in den Brunnen: »Er kommt!« und ließ den Eimer wieder zu seinem Meister hinab.
Tagsüber kam der Meister nur selten herauf. Zum ersten Mal sah ich ihn, als er in einer Mittagspause rauchte. Er war ähnlich groß, schlank und gutaussehend wie mein Vater, aber nicht so ruhig und freundlich, sondern eher jähzornig. Seine Gehilfen putzte er regelmäßig herunter. Denen war es wohl nicht recht, wenn ich das mitbekam, und so hielt ich mich, wenn der Meister oben war, vom Brunnen lieber fern.
Mitte Juni waren eines Tages vom Brunnen her fröhliche Rufe und Schüsse zu hören. Der Meister war auf Wasser gestoßen, worauf der Grundstücksbesitzer aus Rize herbeigeeilt war und Freudenschüsse abgegeben hatte. Es lag ein angenehmer Pulvergeruch in der Luft. Der Grundstücksbesitzer verteilte an den Meister und die Gehilfen Geld. Den Brunnen brauchte er für die Baustellen, die auf dem Gelände entstehen sollten, denn die Wasserleitung aus Gebze reichte noch nicht bis dorthin.
An den folgenden Tagen hörte ich den Meister nie mehr auf die Gehilfen schimpfen. Mit einem Pferdewagen schaffte er Zementsäcke und Eisen herbei. Eines Nachmittags goss er Beton in den Brunnen und fertigte eine eiserne Abdeckung an. Da es am Brunnen nun fidel zuging, gesellte ich mich öfter zu den dreien.
Eines Nachmittags ging ich zum Brunnen und dachte, es sei niemand dort, doch auf einmal trat zwischen Oliven- und Kirschbäumen Meister Mahmut hervor, mit einem Teil für den Motor in der Hand, den er am Brunnen installieren wollte.
»Du scheinst dich ja wirklich für die Sache zu interessieren, Junge.«
Ich dachte an die Romanhelden bei Jules Verne, die sich durch die ganze Erde gruben und am anderen Ende wieder herauskamen.
»Ich habe einen neuen Auftrag bei Küçükçekmece. Meine Gehilfen kommen nicht mit. Hättest du vielleicht Lust?«
Angesichts meiner zweifelnden Miene versicherte mir der Meister, ein Brunnenbaugehilfe bekomme viermal so viel Tagegeld wie der Wächter eines Obstgartens, und in zehn Tagen sei die Arbeit erledigt und ich könne wieder nach Hause.
Meine Mutter zu Hause sagte kategorisch: »Nein! Du wirst mir kein Brunnenbauer, sondern studierst gefälligst!«
Ich aber hatte mir in den Kopf gesetzt, schnell Geld zu verdienen. Meiner Mutter rechnete ich vor, bei Meister Mahmut könne ich in knapp zwei Wochen so viel Geld bekommen wie bei meinem Onkel in zwei Monaten, und danach werde ich genug Zeit für die Paukschule, die Zulassungsprüfung und meine geliebten Bücher haben. Ich drohte meiner Mutter gar.
»Wenn du es mir nicht erlaubst, haue ich einfach ab.«
Mein Onkel sagte schließlich: »Wenn der Junge arbeiten will, dann lass ihn doch. Ich werde mich mal erkundigen, was der Meister so für einer ist.«
Ohne mich trafen sich meine Mutter und Meister Mahmut im Anwaltsbüro meines Onkels im Rathausgebäude. Es wurde vereinbart, dass nicht ich in den Brunnen hinabsteigen sollte, sondern ein anderer Gehilfe. Mein Onkel sagte mir danach, wie viel Geld ich pro Tag bekommen würde. Zu Hause packte ich in einen kleinen alten Koffer meines Vaters ein paar Hemden und meine Turnschuhe.
Als der Lieferwagen, der mich zur Brunnenstätte bringen sollte, an dem regnerischen Tag auf sich warten ließ, brach meine Mutter in unserer kargen Behausung mit dem lecken Dach ein paar Mal in Tränen aus und sagte, ich solle doch bleiben, denn sie werde mich so sehr vermissen, und vielleicht täten wir da aus unserer Geldnot heraus etwas Falsches.
»Ich steige ja nicht hinab in den Brunnen«, wiederholte ich immer wieder, während ich schon mit dem Köfferchen in der Hand dastand, ganz aufrecht und entschlossen, aber doch auch leicht amüsiert, wie mein Vater damals, wenn er wieder mal vor Gericht musste.
Schließlich kam der Lieferwagen und parkte hinter der Moschee. Als der rauchende Meister Mahmut mich herausstaffiert mit dem Koffer auf sich zugehen sah, musterte er mich lehrerhaft lächelnd.
»Komm, steig ein, wir fahren los«, sagte er. Ich setzte mich zwischen ihn und den Fahrer von Hayri, jenem Geschäftsmann, der den Brunnen bauen ließ. Unterwegs wurde erst einmal eine Stunde lang nicht geredet.
Als wir über die Bosporus-Brücke fuhren, sah ich nach links auf Istanbul hinunter, auf mein Gymnasium in Kabatas, und ich versuchte, in Besiktas einzelne Häuser zu erkennen.
»Keine Sorge, der Brunnen ist schnell gebaut«, sagte Meister Mahmut, »und dann kannst du in dein Paukstudio.«
Dass er über meine Sorgen Bescheid wusste, war mir nur recht, und ich fasste Vertrauen zu ihm. Nach der Brücke ging es zäh weiter, sodass wir erst aus der Stadt hinausgelangten, als uns die Abendsonne direkt ins Gesicht stach.
Der Begriff »aus der Stadt hinaus« könnte den Leser in die Irre führen. In Istanbul wohnten damals nicht fünfzehn Millionen Menschen wie heute, sondern ganze fünf Millionen. Sobald man über die Stadtmauer ein wenig hinaus war, wurden die Häuser immer rarer, kleiner und ärmlicher, und man sah Fabriken, Tankstellen, vereinzelte Hotels.
Lange fuhren wir an der Eisenbahnlinie entlang, dann, bei Einbruch der Dunkelheit, bogen wir von der Hauptstraße ab. Den See von Büyükçekmece hatten wir da schon hinter uns. Hin und wieder sah ich ein paar Zypressen, einen Friedhof, eine Betonmauer, einen menschenleeren Platz. Meist aber war gar nichts zu erkennen, und sosehr ich auch zum Fenster hinausstarrte, hatte ich keine Ahnung mehr, wo wir uns befanden. Manchmal sahen wir die Neonlampen einer Fabrik oder eine Familie, die im gelben Lichtschein beim Abendessen saß. Dann ging es eine steile Straße hinauf. In der Ferne wurde der Himmel ab und zu durch Blitze aufgehellt, nie aber in der öden Gegend, durch die wir fuhren. Manchmal tauchte in einem plötzlichen, mir unerklärlichen Lichtschein endloses Brachland ohne Baum noch Mensch auf, das augenblicklich wieder im Dunkel verschwand.
Irgendwann hielten wir mitten in der Einöde. Da weder ein Haus noch irgendein Licht zu sehen waren, dachte ich zunächst, an dem alten Lieferwagen sei etwas kaputtgegangen.
»Hilf mir mal beim Abladen«, sagte Meister Mahmut.
Gemeinsam luden wir Kochgeschirr, zwei zusammengezurrte Decken, in Plastik gewickelte Utensilien, Bretter, die Einzelteile der Winde und Grabgerätschaften ab. Dann verabschiedete sich der Fahrer und fuhr davon. Da merkte ich erst so recht, wie finster es war, und ich fürchtete mich. Irgendwo zuckte ein Blitz, aber der Himmel hinter uns war sternenklar. In noch weiterer Ferne sah ich wie gelben Nebel den Widerschein der Istanbuler Lichter in den Wolken.
Der Boden war feucht und stellenweise sogar völlig durchnässt. Wir brauchten eine Weile, bis wir auf dem ebenen Gelände eine einigermaßen trockene Stelle fanden, zu der wir unsere Sachen tragen konnten.
Mithilfe der Stangen, die wir dabeihatten, versuchte der Meister ein Zelt aufzubauen, was sich allerdings recht mühsam gestaltete. Man sah die Pflöcke nicht richtig, sah die Schnüre nicht richtig, und mir verkrampfte sich in der Finsternis das Herz. »Hier sollst du halten, nicht da«, raunzte Meister Mahmut mich an.
Wir hörten eine Eule rufen. Ich fragte mich, ob wir das Zelt wirklich aufbauen mussten, wo es doch nicht mehr regnete, aber die Entschlossenheit, mit der der Meister zu Werke ging,...
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