Schweitzer Fachinformationen
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Am nächsten Mittag trabte ich mit der Plastiktüte wieder in die Boutique Champs-Élysées. Die Türglocke schellte, und erst dachte ich schon, es sei niemand in dem Geschäft, das mir wieder sehr dunkel und kühl vorkam. In die geheimnisvolle Stille hinein zwitscherte plötzlich der Kanarienvogel. Schließlich erblickte ich Füsun schemenhaft zwischen einem Wandschirm und einem riesigen Alpenveilchen. Sie war vor der Umkleidekabine mit einer dicken Kundin beschäftigt. Diesmal trug sie die Bluse mit dem Hyazinthen-, Feldblumen- und Blattmuster, die ihr so gut stand. Als sie mich erblickte, lächelte sie freundlich .
»Ach, du hast zu tun«, sagte ich und deutete mit dem Kopf zur Umkleidekabine.
»Hab's gleich«, erwiderte sie in so vertraulichem Ton, als sei ich ein Stammkunde.
Der Kanarienvogel hüpfte in seinem Käfig umher, während mein Blick unruhig über die in einer Ecke gestapelten Modezeitschriften und den aus Europa importierten Trödel schweifte. Mir drängte sich wieder das auf, was ich hatte vergessen und übergehen wollen. Wenn ich Füsun ansah, kam es mir nämlich vor, als ob ich sie schon lange kennen würde. Sie glich mir irgendwie. Auch meine eigenen Haare waren so wie die ihren früher dunkel und lockig gewesen und erst mit der Zeit glatt geworden. Mir war, als könnte ich mich leicht in sie hineinversetzen, sie tief im Inneren verstehen. Die Bluse, die sie anhatte, ließ ihren natürlichen Teint und das jetzt gefärbte Blond ihrer Haare noch besser zur Geltung kommen. Schmerzlich fiel mir wieder ein, dass meine Freunde über sie gesagt hatten, sie sei »wie aus dem Playboy«. Ob sie wohl mit ihnen geschlafen hatte? Gib die Tasche zurück, nimm dein Geld und geh. Du verlobst dich bald mit einem wunderbaren Mädchen. Ich sah nach draußen auf den Nisantası-Platz, doch auf der beschlagenen Schaufensterscheibe erschien sogleich der traumhafte Widerschein von Füsuns Gestalt.
Die dicke Frau verließ schließlich ächzend den Laden, ohne etwas zu kaufen, und Füsun legte die Röcke wieder zusammen, die sie anprobiert hatte. »Gestern abend habe ich Sie auf der Straße gesehen«, sagte sie, und ihr Gesicht schien dabei nur noch aus dem großen, anziehenden Mund zu bestehen. Erst dieses süße Lächeln ließ mich gewahren, dass ihre Lippen zartrosa geschminkt waren. Ihr Lippenstift der Marke Misslyn war preiswert und daher sehr verbreitet damals, bei ihr wirkte er aber ganz besonders.
»Wann denn?« fragte ich.
»Am Abend. Sie waren mit Sibel zusammen. Ich stand auf der anderen Straßenseite. Sie waren wohl auf dem Weg zum Essen?«
»Ja.«
»Sie passen fabelhaft zusammen!« sagte sie in dem Ton, in dem ältere Herrschaften sich über das Glück junger Leute entzückt zeigen.
Ich fragte nicht, woher sie Sibel eigentlich kannte. »Ich hätte da eine Bitte«, sagte ich und zog verlegen die Tasche hervor. »Ich möchte die da zurückgeben.«
»Selbstverständlich können wir sie umtauschen. Ich könnte Ihnen diese schicken Handschuhe dafür geben oder diesen Hut hier, ganz neu aus Paris. Hat Sibel die Tasche denn nicht gefallen?«
»Ich möchte sie nicht gegen etwas umtauschen«, entgegnete ich betreten, »sondern das Geld zurückbekommen.«
Sie sah überrascht drein, fast furchtsam. »Warum?« fragte sie.
»Anscheinend ist es keine echte Jenny-Colon-Tasche, sondern eine Fälschung«, raunte ich.
»Wie bitte?!«
»Ich verstehe ja nichts davon«, sagte ich hilflos.
»So etwas kommt bei uns nicht vor!« erwiderte sie heftig. »Möchten Sie Ihr Geld sofort zurück?«
Ihr Gesicht war schmerzlich verzogen. Mein Gott, dachte ich, warum hast du die Tasche nicht einfach fortgeworfen und Sibel gesagt, du hättest das Geld wiederbekommen! »Schau, das hat mit dir und mit Senay nichts zu tun. Wir Türken schaffen es eben, alles, was in Europa gerade Mode ist, nachzumachen und zu fälschen«, sagte ich, um ein Lächeln bemüht. »Für mich oder überhaupt für uns genügt es schon, dass eine Tasche zu gebrauchen ist und dass sie gut aussieht, aber von wem sie stammt und ob es ein Original ist, spielt keine Rolle.« Aber daran glaubte ich ja nicht einmal selbst.
»Ich gebe Ihnen das Geld schon zurück«, sagte sie knapp. Ich senkte schicksalsergeben den Blick, als schämte ich mich meiner Grobheit.
Doch so verlegen ich war, ich merkte doch, dass irgend etwas nicht stimmte und Füsun nicht tun konnte, was doch eigentlich zu tun war. Sie sah auf die Registrierkasse, als sei jene irgendwie verhext, und rührte sich nicht vom Fleck. Als ich sah, dass ihr rot angelaufenes Gesicht zu zucken begann und ihr die Tränen kamen, ging ich besorgt auf sie zu.
Sie weinte leise. Ich weiß nicht mehr genau, wie es kam, aber ich umarmte sie, und sie lehnte weinend den Kopf an meine Brust. »Entschuldige, Füsun«, flüsterte ich. Ich streichelte ihre weichen Haare, ihre Stirn. »Vergiss das bitte. Es ist doch bloß eine gefälschte Tasche.«
Sie zog die Nase hoch wie ein Kind, schluchzte ein paarmal und weinte weiter. Ihren Körper zu berühren, ihre Brüste zu spüren, sie so plötzlich ganz einfach im Arm zu halten, machte mich schwindlig. Um das immer stärker werdende Begehren vor mir selber zu verbergen, rettete ich mich in die Illusion, Füsun schon ewig lang zu kennen und vertraut mir ihr zu sein. Sie war meine widerspenstige kleine Schwester, dieses hübsche, liebe Ding! Vermutlich weil ich um unsere entfernte Verwandtschaft wusste, erschien sie mir mit ihren langen Armen und Beinen, dem leichten Knochenbau und den schmalen Schultern plötzlich wie ein Abbild von mir. Wenn ich ein Mädchen und zwölf Jahre jünger wäre, hätte ich also so einen Körper. »Da gibt es doch nichts zu weinen«, sagte ich und streichelte dabei ihr langes blondes Haar.
»Ich kann jetzt die Kasse nicht aufmachen«, erklärte mir Füsun. »Wenn Senay mittags nach Hause geht, sperrt sie die Kasse immer ab und nimmt den Schlüssel mit. Das tut mir wirklich leid jetzt.« Sie lehnte wieder den Kopf an meine Brust und weinte. Ich fuhr ihr sanft übers Haar. »Ich arbeite hier, um unter Leuten zu sein, und nicht wegen des Geldes«, schluchzte sie.
»Man kann auch für Geld arbeiten«, erwiderte ich einfältig.
»Ja, schon«, sagte sie mit traurigem Kinderblick. »Mein Vater ist pensionierter Lehrer. Vor zwei Wochen bin ich achtzehn geworden, da wollte ich ihm nicht mehr auf der Tasche liegen.«
Aus Furcht vor dem sexuellen Tier, das sich in mir regte, nahm ich die Hand von ihren Haaren. Sie begriff sofort, riss sich zusammen, und wir gingen ein wenig auf Abstand.
Sie rieb sich die Augen und sagte dann:»Bitte sagen Sie niemandem, dass ich geweint habe.«
»Versprochen, Füsun, das bleibt unter uns.«
Ich sah, dass sie lächelte. »Die Tasche lasse ich schon jetzt da«, sagte ich, »und das Geld hole ich dann später.«
»Sie können die Tasche hier lassen, aber das Geld sollten Sie nicht selber abholen. Senay wird bestreiten, dass die Tasche gefälscht ist, und Ihnen Schwierigkeiten machen.«
»Dann tausche ich sie eben um.«
»Das kann ich nicht mehr zulassen«, sagte sie mit dem Stolz eines empfindlichen jungen Mädchens.
»Das ist doch nicht von Bedeutung«, beschwichtigte ich.
»Für mich schon«, sagte sie entschieden. »Wenn Senay ins Geschäft kommt, lasse ich mir das Geld von ihr geben.«
»Ich will aber nicht, dass sie dir dann Schwierigkeiten macht.«
»Keine Sorge, ich habe mir schon etwas ausgedacht«, sagte sie unbestimmt lächelnd. »Ich werde einfach sagen, dass Sibel die gleiche Tasche schon hat und deshalb diese hier zurückgeben will. Einverstanden?«
»Gute Idee. Dann sage ich Senay das gleiche.«
»Nein, sagen Sie lieber gar nichts zu ihr«, entgegnete Füsun rasch. »Sie versucht sonst sofort, mehr aus Ihnen herauszukitzeln. Kommen Sie am besten gar nicht mehr ins Geschäft. Ich bringe das Geld Tante Vecihe.«
»Lassen wir meine Mutter lieber aus dem Spiel, sie ist furchtbar neugierig.«
»Wo soll ich das Geld denn sonst hinbringen?« fragte Füsun ratlos.
»Meine Mutter hat in der Tesvikiye-Straße 131 im Merhamet Apartmanı eine Wohnung. Bevor ich nach Amerika ging, war ich dort manchmal zum Lernen oder Musikhören. Die Wohnung hat einen schönen Hinterhof. Mittlerweile halte ich mich wieder jeden Nachmittag zwischen zwei und vier dort auf und arbeite.«
»Gut, dann bringe ich das Geld dorthin. Was hat die Wohnung für eine Nummer?«
»Vier«, sagte ich fast flüsternd. Beim Hinausgehen brachte ich gerade noch drei Worte über die Lippen. »Zweiter Stock. Wiedersehen!«
Mein Herz hatte nämlich die Situation sofort begriffen und schlug wie verrückt. Bevor ich die Tür hinter mir schloss, nahm ich noch einmal meine ganze Kraft zusammen und sah Füsun an, als sei alles völlig normal. Als dann draußen auf der Straße eine wirre Mischung aus Scham, Reue und Glücksvisionen über mich herfiel, erschien mir in der Mittagshitze dieses Frühlingstages in Nisantası auf mysteriöse Weise plötzlich alles um mich herum ganz gelb. Meine Beine trugen mich unter Vordächern und blau-weiß gestreiften Markisen von Schatten zu Schatten, und als ich in einem Schaufenster eine gelbe Wasserkaraffe erblickte, kaufte ich sie auf der Stelle. Es ereilte sie nicht das Schicksal der meisten Spontankäufe, sondern sie stand fast zwanzig Jahre lang erst bei meinen Eltern und danach bei meiner...
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