Schweitzer Fachinformationen
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AM MORGEN
»Der Nachthemdärmel, mein Rücken . Die ganze Klasse . Und die Laken . Herrje, das ganze Bett ist klatschnass! Alles ist nass, und ich bin aufgewacht!« dachte Cevdet. Es war wirklich alles nass, so wie er es gerade geträumt hatte. Grummelnd drehte er sich im Bett herum und dachte erschrocken an seinen Traum zurück, in dem er in der Knabenschule von Kula vor seinem Lehrer gesessen hatte. Dann fuhr er von seinem nassgeschwitzten Kopfkissen hoch. »Genau, wir saßen vor dem Lehrer, und in der ganzen Schule stand uns das Wasser bis zu den Knien. Aber warum? Ach ja, weil es von der Decke herabtropfte! Das salzige Wasser lief mir über Stirn und Brust und verteilte sich im ganzen Raum. Der Lehrer zeigte mit seinem Stock auf mich und rief: Alles nur wegen diesem Cevdet!« Ihn schauderte bei der Vorstellung, wie der Lehrer ihn so anprangerte und die anderen Schüler sich zu ihm umdrehten und ihn vorwurfsvoll ansahen, insbesondere sein zwei Jahre älterer Bruder, dessen Blick voller Verachtung war. Doch der Lehrer, der manchmal die gesamte Klasse durchprügelte, ohne mit der Wimper zu zucken, und der einen Schüler mit einer einzigen Ohrfeige bewusstlos schlagen konnte, kam merkwürdigerweise doch nicht, um ihn wegen des herabtropfenden Wassers zu bestrafen. »Ich war anders als die anderen, ich war allein, und sie verachteten mich«, dachte Cevdet. »Aber keiner wagte es, mich auch nur anzurühren, obwohl doch die ganze Schule mit Wasser voll lief!« Plötzlich wirkte der Alptraum nur noch wie eine nette, harmlose Erinnerung. »Ich war allein und anders als sie, aber sie trauten sich nicht, mich zu bestrafen.« Beim Aufstehen fiel ihm ein, wie er einmal aufs Schuldach gestiegen war und dabei Ziegel zerbrochen hatte. »Wie alt war ich damals? Sieben? Jetzt bin ich siebenunddreißig und verlobt, und bald werde ich heiraten.« Ganz aufgeregt wurde er beim Gedanken an seine Verlobte. »Ja, bald heirate ich, und dann . Aber was trödele ich da herum! Es ist bestimmt schon spät!« Er eilte zum Fenster und sah zwischen den Vorhängen durch. Es herrschte ein seltsam nebliges Licht draußen. Die Sonne war jedenfalls schon aufgegangen. Kopfschüttelnd besann er sich darauf, dass er ja neuerdings eine Uhr hatte: Nach alttürkischer Zeit war es halb eins. »Jetzt aber Beeilung!« brummte er und eilte auf die Toilette.
Während er sich wusch, verbesserte sich seine Laune. Beim Rasieren fiel ihm der Traum wieder ein. Ihm stand ein Besuch im Konak von Sükrü Pasa bevor, weshalb er den neuen, blitzsauberen Anzug anlegte, ein Hemd mit gestärktem Kragen und eine Krawatte, die ihm besonders elegant erschien. Schließlich setzte er den Fes auf, den er für die Verlobungsfeier eigens hatte aufbügeln lassen. Er besah sich in dem kleinen Tischspiegel, doch obwohl der Anblick ihn überzeugte, legte sich ein leichter Schatten über seine Seele. Dass er so aufgeregt war, wenn er in schicker Kleidung zum Konak seiner Verlobten fuhr, musste doch etwas Lächerliches an sich haben. Ein wenig wehmütig schlug er die Vorhänge zurück. Die Minarette der Sehzadebası-Moschee waren in Nebel gehüllt, aber die Kuppel war gut sichtbar. Die Laube im Garten nebenan erschien ihm grüner denn je. »Es wird wohl heiß werden heute.« Unter der Laube leckte sich ausgiebig eine Katze. Ihm fiel etwas ein, und er streckte den Kopf zum Fenster hinaus: Ja, das Coupé stand schon vor dem Haus. Die Pferde wedelten mit dem Schwanz, und der Kutscher rauchte, während er auf Cevdet wartete. Dieser nahm seine Zigaretten, sein Feuerzeug und die Brieftasche an sich, steckte seine Uhr nach einem letzten Blick darauf ein und verließ das Zimmer.
Die Treppe ging er so polternd hinunter wie immer. Und wie immer stand daraufhin gleich Zeliha am Treppenabsatz und eröffnete ihm lächelnd, sein Frühstück stehe bereit.
Cevdet versuchte, sich mit einem hingebrummten »Keine Zeit, muss sofort weg!« an der alten Frau vorbeizudrücken, aber sie protestierte: »Aber doch nicht ungefrühstückt!« Und als sie seine unentschlossene Miene sah, lief sie gleich in die Küche.
Cevdet sah ihr verzagt hinterher, aber davonstehlen konnte er sich nicht mehr. Er überlegte, wie er die Frau nach seiner Heirat loswerden könnte. Sie war eine weitläufige Verwandte von ihm, und die beiden lebten zusammen wie Mutter und Sohn. Als er neun Jahre zuvor das Haus in Haseki gekauft hatte, hatte er sie zu sich genommen, in der Annahme, sie würde sich weniger in sein Leben einmischen als die viel näheren Verwandten, die er in der Gegend hatte. Zeliha war arm und alleinstehend, und dafür, dass sie Cevdet den Haushalt besorgte und für ihn kochte, durfte sie in dem kleinen vierzimmrigen Holzhaus das Erdgeschoss bewohnen. Cevdet sah wieder einmal, wie wohnlich sie sich dort eingerichtet hatte. »Wie soll ich sie nur dazu bewegen, dass sie von mir wegzieht?« Nach der Heirat konnte sie nicht bei ihm bleiben, denn in dem Eheleben, dass er sich ausmalte, war für eine solche Frau kein Platz. So wie er sich die Sache vorstellte, musste er danach zum Hauspersonal ein distanziertes Verhältnis haben, und eine Art Mutter-Sohn-Beziehung ziemte sich da nicht mehr. Zeliha ahnte das wohl. Da sie über die bevorstehende Heirat und den Umzug auf die andere Seite des Goldenen Horns Bescheid wusste, war sie in letzter Zeit besonders eifrig um Cevdet bemüht. Nun kam sie mit einem Teller in der Hand aus der Küche geeilt.
»Einen Kaffee brauchst du doch auch, Junge. Warte, ich -«
»Ich habe wirklich keine Zeit!« unterbrach Cevdet sie. Lächelnd nahm er das Marmeladenbrot vom Teller, das ihn anstrahlte wie der junge Tag. Er lächelte auch wieder, als er der Frau dafür dankte. Beim Hinausgehen aber wurde ihm schmerzlich bewusst, dass es kein liebevolles Lächeln war, sondern ein mitleidiges, weil er sich von der Frau ja trennen musste. Um nicht grußlos zu gehen, drehte er sich noch einmal um und sagte: »Es kann spät werden heute abend«, aber sein Gewissen wurde dadurch nicht leichter.
Als er auf das Coupé zuging, fiel ihm der Traum wieder ein: »Ich bin eben anders als die anderen, aber keiner bestraft mich dafür!« Das brachte ihn wieder ins Lot. Kaum aber erblickte er den Kutscher, war es um seine gute Laune schon wieder geschehen. Wie alle Kutscher, die über das Privatleben ihrer Kunden gut auf dem laufenden sind, sah der Kerl ihn nämlich an, als wollte er sagen: »Tja, Freundchen, ich weiß ganz genau, was du den ganzen Tag so treibst und was in dir vorgeht!« Cevdet lächelte auch ihn an und fragte ihn nach seinem Befinden. Dann hieß er ihn in sein Geschäft in Sirkeci fahren, setzte sich in die Kutsche und biss in sein Marmeladenbrot.
Das Coupé rüttelte zwischen den Holzhäusern von Vefa hindurch. Das Fahrzeug, das in so einem Viertel ganz besonders auffiel, hatte Cevdet für drei Monate angemietet, da es ihm für die Verlobungs- und die Hochzeitsfeier standesgemäß erschien. Als er zwei Monate zuvor erfahren hatte, dass Sükrü Pasa einwilligte, ihm die Hand seiner Tochter zu geben, war er sogleich nach Feriköy geeilt, wo so stattliche Kutschen vermietet wurden, und mit einem Vermieter über drei Monate handelseinig geworden. Beim Haus des Pasas wollte er nicht mit einer gewöhnlichen Mietskutsche vorfahren, aber der Kauf eines Coupés war mit seinen kaufmännischen Grundsätzen nicht zu vereinbaren, denn zusammen mit der Entlohnung des Kutschers und den Stallkosten hätte er sich übernommen. Er biss wieder von seinem Brot ab. Er liebte Marmelade. »Aber diesen Wagen hier länger als drei Monate zu behalten wäre auch verrückt!« dachte er. »Bei der Miete! Langfristig wäre ein Kauf natürlich doch besser . Aber dann müsste ich mich bei den Ausgaben im Laden einschränken. Was soll ich also tun? Diese Hochzeit kommt mich teuer zu stehen, aber das ist nun mal alles notwendig.« Er blühte wieder auf bei dem Gedanken an seine Heirat, an das neue Leben, von dem er jahrelang geträumt hatte, an das Haus, das er kaufen würde, an die nun zu gründende Familie und an seine Verlobte, deren Gesicht er erst zweimal gesehen hatte. Ihm kam zwar in den Sinn, dass viele der Passanten ihn wohl verachteten, weil er mit einem so protzigen Gefährt unterwegs war, aber seiner guten Laune tat das keinen Abbruch. Wieder biss er in sein Brot. »Wenn mich so etwas bekümmern würde, wäre ich doch erst gar nicht Kaufmann geworden!« dachte er. »Und weil sie eben vor derlei zurückschrecken, trauen sich Muslime nicht, Handel zu treiben . Aber ich bin anders! Hm, und wenn meine Frau nun eine solche Kutsche will?« Wieder dachte er voller Genugtuung an seine Verlobte und an sein künftiges Leben. Es gefiel ihm, Nigân, die er doch erst zweimal gesehen hatte, in Gedanken als seine Frau zu bezeichnen. Der Weg führte nun abwärts, und sanft schaukelte die Kutsche hin und her. »Wenn mein Geschäft das hergibt, dann kaufe ich eben eine Kutsche, Liebling!« murmelte er und stopfte sich den letzten Bissen Brot in den Mund. Dann sah er auf seine Finger wie ein Kind, das plötzlich nichts mehr zu essen in der Hand hat. »Diese Heirat wird wohl alles verschlingen, was ich habe!«
Die Kutsche war an der Hohen Pforte vorbei fast bis an den Bosporus hinuntergefahren und nun in eine Seitengasse eingebogen. Der Nebel hatte sich aufgelöst, und es herrschte wieder grelles Sommerlicht. Cevdet schwitzte in seiner Kutsche. »Es wird wohl furchtbar heiß! Was werde ich heute anfangen? Ich muss so schnell wie möglich das Geschäftliche erledigen, und dann schaue ich vielleicht bei meinem Bruder vorbei.« Der Gedanke an seinen Bruder, der in einer Pension in Beyoglu krank daniederlag, löste bei Cevdet Unbehagen aus. »Und mit Fuat wollte ich zu Mittag essen. Er ist ja aus Saloniki zurück. Und am Nachmittag fahre ich nach...
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