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Mit beiden Händen zog er von innen die Schiebetür zu. Abgesehen von ein paar Ritzen, durch die spärlich Licht fiel, war es im Schrank jetzt vollkommen dunkel. Als wären die Augen geschlossen.
Nichts lenkte mehr ab. Auf Strümpfen bahnte er sich vorsichtig einen Weg. Es war eine gedämpfte, fast geräuschlose Welt, in die er sich begab; eine, die ihn mit tausend Flügeln streifte, berührte; die tollpatschig immer wieder über sein Gesicht strich.
Anfangs war da eine gewisse Absichtlichkeit, aber die verlor sich rasch. Er stolperte über unsichtbare Schuhe, über Stiefel, Halbschuhe, Sandaletten, Pumps; er trat auf Kartons und auf Schuhspanner aus Holz oder Plastik, auf Schrankpapier, das unter seinem Gewicht verrutschte. Er trat auf etwas, das ihn zunächst erschreckte, weil es weich war und nachgiebig: Schuhe aus Segeltuch. Gleich darauf stieß er mit dem großen Zeh gegen etwas Hartes. Zögernd und auf alles gefasst umfuhr er das Ding mit dem Fuß. Eine flache, vielleicht einen Zentimeter dicke Scheibe.
Zedernholz. Um die Motten fernzuhalten.
Wachsam tastete er sich weiter.
Er hatte diese überraschende und abgründige Welt letzten Sommer in Paris entdeckt, als ihn gewisse Nachforschungen in das Schlafgemach und schließlich in den begehbaren Schrank der Tante geführt hatten. Und jetzt brauchte er dank des gutmütigen Dr. Dewens und seiner eigenen Simulationskünste bis zu den Ferien nicht mehr in die Schule, durfte zu Hause in Othmarschen bleiben, in dem Palast, in dem sein Vater, der Reeder, ihn und die Schwester gefangen hielt.
Er hatte Finn von seiner Entdeckung erzählt, von den Trips, die man im Schrank unternehmen konnte, aber diese hatte ihn eingedenk des Vorfalls mit Baladines Strümpfen nur komisch angesehen, ohne näher darauf einzugehen.
Es war Neujahr, ein diesiger Vormittag. Von unten war Dilya zu hören, die das Frühstücksgeschirr abräumte. Der Reeder war beim Joggen. Finn steckte in ihrem Zimmer.
Von der Stille im Raum nur durch ein dünnes Furnier getrennt, kämpfte er sich durch den Andrang von Stoffen wie durch dicht gestaffelte Vorhänge. Bügel um Bügel schob er beiseite, teilte die Dunkelheit wie Portieren, von denen jede ihn dem Ziel seiner Wünsche näherbrachte. Portieren aus Seide oder Wolle oder schwerem Loden teilte er, oder aus Jersey, der sich kühl anfühlte. Er steigerte sich hinein und hatte bald den Eindruck, in eine ihm unbekannte Welt vorzustoßen.
Und während er an Blusen, Schals, Pelzmänteln vorbeiruderte, an Kostümen und Hosenanzügen, Strickkleidern und Abendroben, vorbei an Weichem und Kratzigem und an der Glätte von Leder, da geschah es, dass er glaubte, Stimmen zu hören, Stimmen, die von einem Ort her auf ihn zukommen, der sich mit jedem Wort, das fällt, stärker ausdehnt, mit jedem Gedanken, der daran anschließt, bis er selbst Teil dieses Ortes geworden ist.
Er kann nicht beschwören, dass die Stimmen wirklich da sind, vielleicht werden sie von seinem Kopf nur erfunden, aber die Stoffe, die er sorgsam zwischen den Fingern befühlt, gehen ungehindert als Aspekte von etwas ganz anderem in diesen Ort ein. Von den Bildern, die sich einstellen, wird er überrascht, von ihrer Intensität und Kraft. Manchmal streckte er den Arm aus, um die wolkigen Gebilde, die er vor sich sah, mit den Fingerspitzen zu berühren, aber natürlich griff er durch sie hindurch ins Leere.
Was ihn über diesen eigentümlichen Pfad führte, waren neben seinen erkundenden Händen die Gerüche – war das Gemisch aus Staub und Vergänglichkeit, das den Klamotten, die einmal seine Mutter getragen hatte, wie ein verjährter Zauber entstieg. Es roch süßlich. Es benebelte ihn. Es zog ihn magisch an. Manchmal bildete er sich auch ein, Puder zu riechen oder Parfum – den Duft angenommener, ihm noch rätselhafter Weiblichkeit. Tief nahm er diesen Duft in sich auf.
Es war mittlerweile das fünfte Mal, dass er den Schrank mit dem Vorsatz betrat, Baladine zu besuchen oder seine abhandengekommene Mutter – in einem eigentlich unnützen, klobigen Möbel, in dem ihre Sachen aufbewahrt wurden, wahrscheinlich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, denn niemand kümmerte sich mehr darum.
Der Schrank befand sich zusammen mit anderen ausgelagerten Möbeln in einem verwaisten Zimmer im ersten Stock, dem ehemaligen Spielzimmer.
Finns Reaktion war eindeutig und zeigte ihm, dass sie von dem, was er da veranstaltete, nicht viel hielt. Eigentlich überhaupt nichts. Obwohl er sie in das Geheimnis seiner Reisen einweihte. Die ganze Sache war ihr suspekt. Das ließ sie ihn deutlich spüren.
»Du hast schmutzige Gedanken«, tadelte sie. »Die Mädchen in meiner Klasse mögen dich nicht.«
»Die Mädchen in deiner Klasse sind mir völlig egal«, entgegnete er. »Sie interessieren mich nicht. Sie sind viel zu jung.«
»Zu jung? Dass ich nicht lache. Du hast ja gerade mal den Stimmbruch hinter dir.«
Doch es war Finn anzusehen, dass sie dem Bruder die »Reisen« nicht abnahm. Sie fragte sich, was er zwischen all den Frauenklamotten wirklich trieb – Klamotten, die im Übrigen längst aus der Mode waren.
Zog er sie sich an?
Vielleicht hatte sie mal irgendwo etwas über solche Typen gelesen.
Vor dem inneren Auge sah sie Laurens den Kopf schütteln.
Mit fünfzehn war sie in einem misstrauischen Alter.
Zumal der Vorfall mit den Strümpfen der Tante noch allen deutlich vor Augen stand. Letzten Sommer …
Natürlich suchte er bei der Mutter nicht das, was er im Schrank von Baladine gesucht hatte. Beides hing nur auf eine vertrackte und ihm unverständliche Weise miteinander zusammen.
Die Gedanken daran verscheuchte er gleich wieder.
War das, was er da im Dunkeln trieb, normal?
Natürlich war es normal. Es handelte sich nur um eine Reise.
Er musste zugeben, dass man allerdings genau das bezweifeln konnte. Die Umstände sprachen ja dafür, dass es um irgendwas Verbotenes ging. Wozu sonst die Geheimnistuerei? Doch wohl, um sich der Kontrolle zu entziehen. Das war schwerlich zu bestreiten.
Unbestreitbar war für ihn aber auch, dass seine Kindheitserinnerungen ihm das Recht verliehen, den Schrank wie ein Reservat zu betreten. Ein Reservat war ein geschützter Bezirk, eine Schonung. Ein Reservat gewährte Zuflucht.
Niemandem sollte es einfallen, an diesem Recht zu rühren. Schon gar nicht seiner Schwester.
Als er das letzte Mal den Schrank verlassen hatte, hatte ihn Finn überrascht. Sie lag auf dem alten Sofa, das unter dem Fenster stand, und wartete ab. Wartete, bis er wieder hervorkam. Sie belauerte förmlich sein Treiben hinter dem senfbraunen Furnier. Es war ihr ungeheuer, und irgendwie hoffte sie, ihm eines Tages vom Gesicht ablesen zu können, was er im Inneren des hölzernen Ungetüms anstellte.
»Kannst du dir vorstellen, dass Männer auf Tampons eifersüchtig sind?«, fragte sie ihn sogar, um ihm eine Falle zu stellen.
Man muss Laurens’ Reisen näher erklären.
Natürlich besucht er im Schrank nicht seine reale Mutter, es war komplizierter. Seine Mutter war ja nicht tot; sie war nur wie tot. Es hieß, dass sie viel unterwegs sei, da sie angeblich für das Reisemagazin einer orientalischen Fluggesellschaft arbeitete. Sie lebe in Marrakesch und habe wieder ihren Beruf als Fotografin ergriffen.
Genau genommen unternimmt Laurens, wenn er durch den Schrank reist, eine Fahrt zu einem namenlosen Woanders, wo es für Typen wie Darius keinen Platz gibt. Für grobschlächtige Leute war das Woanders viel zu vage. Paradoxerweise war es aber bei aller Vagheit körperlich erfahrbar. Das Woanders nährte sich von der Dunkelheit und von der tiefen Ruhe, die in dem Möbel herrschte; von dem wenigen Raum zwischen den Kleidern, der in Wahrheit Landschaften und ganze Kontinente in sich barg; von den verführerischen Ausdünstungen der Stoffe.
Der Schrank war eine Wunderkammer. Eine Raum- und Zeitmaschine. Zum Beispiel liebte es Laurens, wenn er in das elterliche Haus seines Freundes Mika versetzt wurde, nur ein paar Straßen weiter. Das geschah in jüngster Zeit öfter. Hier sah er sich oben unter dem Dach, wo die Kinderzimmer lagen, an einer besonders engen Stelle darauf hinarbeiten, dass Mikas Schwester Lia endlich in der Tür zu ihrem Zimmer erschien und natürlich so tat, als sei sie von seiner Anwesenheit völlig überrumpelt. Lia trug Strumpfhosen und darüber ein dünnes schwarzes Sporttrikot. Sie wusste genau, dass Laurens nach der Schule mit ihrem Bruder mitkam, denn die beiden rumpelten so laut die Treppe herauf, dass es unmöglich zu überhören war.
Er sah sich dastehen und das Spiel erdulden, das jetzt folgte, die vorhersehbaren, unerträglichen Verzögerungen, aus denen es zu großen Teilen bestand. Sie dienten einer mehrfachen Brechung in Lias Bewusstsein, die sich so selbst weismachen konnte, in die Kammer, deren Durchgang er mit seinem Körper versperrte, unbedingt eintreten zu müssen. Mit einem elektrisierenden Glimmen in den Augen kam sie näher, um ihren Körper an seinem in Zeitlupe vorbeizudrücken und sein Herz mit ihren harten Knospen in Aufruhr zu versetzen.
Laurens war stehen geblieben, setzte die Reise jetzt aber fort. Umweht vom Geist der Mutter, war ihm in der Welt des Schranks viel mehr erlaubt als in der Realität. Was er hier erlebte, schien ihm so viel realer zu sein als alles, was die Realität an Erlebnissen bot, so viel intensiver, dass er sich gegen die Existenz der sichtbaren Welt entschied. Es gab sie nicht. Sie existierte so wenig wie die Mutter. Für ihn und Finn gab es keine Mutter. Sie war so wenig real wie die Realität. Beide waren...
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