Schweitzer Fachinformationen
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Eins
Je älter man wird, desto größer wird der Kindergarten.
Der Morgen ließ einen jener Altländer Tage vermuten, die sich nicht entscheiden können, was sie werden wollen, und deshalb in einem unansehnlichen Grau verharren. Dieses Wetter gibt »Fifty Shades of Grey« eine ganz neue Bedeutung, dachte Berlotti, als er das Portal hinter sich zuzog und jemanden seinen Namen rufen hörte.
Suchend ließ er den Blick schweifen und sah den Schlossverwalter unter den jahrhundertealten Eichen auf sich zueilen. Berlotti ging ihm entgegen und traf ihn auf Höhe des von einer hohen Buchshecke umgebenen Rosengartens. Moritz Schönbeck war untersetzt und trug stets ein gutmütiges, meist sogar fröhliches Gesicht spazieren, das ihm an diesem frühen Morgen allerdings abhandengekommen zu sein schien.
»Gut, dass ich Sie treffe, Herr Berlotti. Ich wollte fragen .«
Schönbeck sah auf den Boden, als läge unter dem Kies das Satzende verborgen. Berlotti dämmerte, dass es sich um keine zufällige Begegnung handelte. Verlegen blickte der Schlossverwalter zu Berlotti herauf, der ihn um einen halben Kopf überragte, obwohl er selbst nicht gerade ein Riese war.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Berlotti. »Ich bin auf dem Weg zur Arbeit .«
»Als Ihre Frau Mutter anrief, nachdem Ihr Haus gebrannt hatte, und mich fragte, ob ich einen Ort wüsste, wo Sie vorübergehend unterkommen könnten . also .«
Die Hände in den Taschen, trat Schönbeck von einem Fuß auf den anderen und suchte noch immer nach den richtigen Worten. Auch die Frühlingsanfangssonne schien nicht so recht zu wissen, wohin mit sich, und hielt sich bedeckt hinter der dichten Wolkendecke. Berlotti ahnte inzwischen, worauf der Mann hinauswollte. Und nicht nur, weil er das Wort »vorübergehend« dezent betont hatte.
»Wissen Sie schon, wie lange Sie noch bleiben?«, brachte Schönbeck schließlich zerknirscht hervor. Er hatte einen roten Kopf, der auch deshalb überdeutlich zutage trat, weil sich sein Haarausfall von der hohen Stirn und den Geheimratsecken bis zur kreisrunden Tonsur am Hinterkopf vorgearbeitet hatte. »Ich bin ja nur der Verwalter, und der eigentliche Pächter steigt mir langsam aufs Dach.«
Der Mann war sich dessen bewusst, dass er rot war, und schien sich seiner Scham zu schämen. Berlotti tat er leid. Und er selbst schämte sich, dass der Mann überhaupt in solch eine Situation geraten war. Er hatte sich nie wirklich daran gewöhnt, plötzlich Schlossherr zu sein. Nachdem Unbekannte Berlottis Elternhaus mit Molotowcocktails in Brand gesetzt hatten, hatte seine Mutter einige Bekannte angerufen, die fast alle ihre Hilfe angeboten hatten. Am Ende hatte sie aus einer ganzen Reihe an Möglichkeiten wählen können, und Berlotti hatte es nicht überrascht, dass sie ausgerechnet das Angebot von Moritz Schönbeck angenommen hatte, einem ehemaligen Stammkunden ihrer Pizzeria in Neu Wulmstorf, vorübergehend im Dachgeschoss von Schloss Agathenburg unterzukommen.
Von der ersten Minute an hatte sie die Rolle als Burgfräulein in dem Schloss am Rande des Alten Landes auf halber Strecke zwischen Elbe und Stade eingenommen. Seitdem führte sie in jeder freien Minute ihren großen Bekanntenkreis im Schlossgarten herum, als hätte sie ihn selbst angelegt, oder wirbelte in der Küche, von der aus allerdings das Schlosscafé bewirtschaftet werden musste. Mehr als einmal hatten Gäste des Cafés bestellen wollen, wonach es im ganzen Schloss duftete - Spinatlasagne, mit Antipasti belegte Focaccia, Vitello tonnato, Pasta alla puttanesca -, und waren enttäuscht von dannen gezogen, weil es zwar hervorragende Kuchen, aber eben kein italienisches Drei-Gänge-Menü gab.
Berlotti wollte gerade antworten, als das Smartphone in seiner Sakkoinnentasche vibrierte. Er sah aufs Display und warf Schönbeck einen entschuldigenden Blick zu, während er abnahm.
»Katharina? Kann ich gleich zurückrufen?«
»Moin, Chef, falls du schon in Hamburg bist, kannst du gleich wieder umdrehen.« Im Hintergrund war eine Radiostimme zu hören, die über eine Terminierung der verschobenen Wahl zur Hamburger Bürgerschaft berichtete. »Ich bin auf dem Weg in deine Richtung. Sebastian Weller hat mich kontaktiert.«
»Weller? Da klingelt was bei mir, ich komm nur gerade nicht drauf.« Berlotti gab dem Schlossverwalter mit dem Zeigefinger zu verstehen, dass er gleich wieder für ihn da sein würde. »Der Streifenpolizist, der uns im Journalistenfall auf die Spur des Täters geführt hat?«
»Genau der. In Neuenfelde liegt eine merkwürdig verstümmelte Leiche, so was hätte er noch nie gesehen, nicht mal im Fernsehen. Ich hab gesagt, wir übernehmen das.« Und dann, etwas verunsichert, schob sie nach: »War doch okay, oder?«
»Verstümmelte Leichen sind mein Spezialgebiet«, entgegnete Berlotti und fing sich einen verstörten Blick von Schönbeck ein. »Schick mir die Adresse, ich bin schon so gut wie unterwegs.«
Er legte auf, rieb sich die Augen und strich sich durch die dunkelbraunen, mittellangen Locken. »Wie mein Vater immer zu sagen pflegt: >L'ospite è come il pesce, dopo tre giorni puzza.<«
Erwartungsgemäß sah ihn sein Gegenüber ratlos an, weshalb er hinzufügte: »>Besuch ist wie Fisch, nach drei Tagen beginnt er zu stinken.<«
»Das habe ich nicht . So war es nicht gemeint!«
Berlotti winkte ab. »Wir sind Ihnen sehr dankbar für die großzügige Gastfreundschaft, die wir niemals so lange hätten beanspruchen dürfen. Ich kümmere mich darum, versprochen.«
Als sich die Andeutung eines Lächelns in Schönbecks pausbäckigem Gesicht breitmachte, traute sich auch die Morgensonne zaghaft hinter einer Wolke hervor, deren Umrisse Berlotti an ein Gummibärchen erinnerten. Während er noch über dessen tieferen Sinn nachdachte, stieg er in seinen Fiat 500 Cabrio und machte sich auf den Weg.
***
Neuenfelde lag, vom Schloss Agathenburg aus gesehen, am entgegengesetzten Ende des Alten Landes. Mit Francop und Cranz stellte es den Osten und zugleich Hamburger Teil des Alten Landes dar. Sehnsüchtig dachte Berlotti an das Haus seiner Eltern in Rübke, das nur wenige Kilometer vom neuen Tatort entfernt war, und wunderte sich gleichzeitig darüber, dass es sich schon wieder wie Heimat angefühlt hatte, obwohl er kaum mehr als ein paar Tage darin gewohnt hatte, ehe er daraus vertrieben worden war. Aus Protest ignorierte er auch diesmal wieder die unsägliche Autobahn durchs Alte Land und lenkte seinen dunkelgrauen Fiat Cinquecento über die Panoramastrecke durch Mittelnkirchen und Jork, vorbei an endlosen Obstbaumreihen.
Ich muss schnell eine ordentliche Behausung finden, ging es ihm durch den Kopf. Gleich morgen würde er noch einmal Druck bei der Versicherung machen und auf eine rasche Entscheidung drängen, damit die Gelder für ein Ausweichquartier endlich bewilligt würden. Die Wohngebäudeversicherung seiner Eltern, die angeblich nur unzureichend gegen Brandstiftung abgedeckt war, hatte einen ebenso unanständigen wie unzulässigen Versuch unternommen, sich vor der Zahlung der Versicherungssumme zu drücken. Er musste das lösen. Und seine Eltern zurück in ihre Heimat, zurück auf ihr Grundstück im Alten Land verfrachten. Denn alte Bäume verpflanzte man nicht. Seine Eltern hatten mit der Migration nach Deutschland vor fast vier Jahrzehnten schon genug Wurzeln gekappt. Dann und erst dann bestand die Aussicht, zu so etwas wie Normalität zurückkehren zu können.
Was Katharina wohl damit gemeint hatte, die Leiche sei merkwürdig verstümmelt? Bevor er eine Antwort darauf finden konnte, funkte schon eine weitere Frage dazwischen. Warum war Weller, ein Hamburger Streifenpolizist, als Erster an einem Tatort im Alten Land? Und vor allem: Warum rief er ausgerechnet Katharina an? Berlotti war nicht entgangen, dass Weller sich bei ihrer ersten und seines Wissens bislang einzigen Begegnung für die Kollegin interessiert hatte. Umgekehrt hatte sie kein Interesse gezeigt. Oder hatte er sich getäuscht? In diesem Zusammenhang kamen ihm die Gerüchte über seine Kollegin in den Sinn: »Die Braut, die sich nicht traut.« - »Schon Anfang dreißig, aber total bindungsunfähig.« - »Flüchtet sich in belanglose Abenteuer.« Aber selbst wenn zwischen Weller und ihr etwas lief, was ging es ihn an?
Ein Traktor bog aus einer Einfahrt auf die Straße, sodass Berlotti eine Vollbremsung hinlegen musste und mehrmals laut hupte. Vom Fahrer ignoriert, tuckerte er nun mit zwanzig Stundenkilometern seinem Tatort entgegen.
Gelber Löwenzahn sprenkelte die sattgrünen Wiesen neben der Fahrbahn. Und darüber sprossen Millionen Blüten aus wenige Stunden zuvor noch nackten Zweigen und öffneten ihre weißen Köpfe Richtung Sonne. So weit das Auge reichte, waren die Äste der Kirschbäume über Nacht aufgesprungen und trugen dicke Knospen. Es war nur eine Frage von Tagen, bis sie seine Heimat in einen rosa-weißen Blütenteppich verwandelten. Und die Apfelbäume würden ebenfalls nicht mehr lange auf sich warten lassen.
»Auf Wiedersehen im Alten Land«, wollte ihn bereits ein Schild verabschieden, vor dem er aber abbog. Kurz darauf stellte er seinen Wagen am Friedhof von Neuenfelde ab. Er hatte schon mitbekommen, dass für manche Bewohner des Alten Landes Neuenfelde als Hamburger Stadtteil allenfalls geografisch dazugehörte. Angeblich störte es die Neuenfelder wiederum wenig, die das Naserümpfen der Altländer gleichmütig zur Kenntnis nahmen.
Altländer war nun einmal Altländer, egal, in welchen Winkel der Region es einen verschlagen hatte.
Neben ihm standen vier weitere Zivilfahrzeuge. In den beiden Polizeiautos saß niemand. Obwohl...
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