Schweitzer Fachinformationen
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Am Nachmittag des 31. Dezember 1944 macht sich die fünfundzwanzigjährige Verkäuferin Annemarie Schmidt aus Berlin-Pankow hochschwanger auf den Weg in das alte, ausgebrannte Reichstagsgebäude, um dort ihre Zwillinge zur Welt zu bringen. Sie hat einen leeren Wäschekorb und eine Wolldecke dabei, weil der Zwillingskinderwagen, den sie bestellt hat, kriegsbedingt noch nicht geliefert worden ist.
Es ist bitterkalt. Der Atem gefriert und bildet kleine weiße Rauchwolken vor ihrem Gesicht. Sie trägt warme Wollsocken, Handschuhe und einen dicken Wintermantel. Das letzte Stück am Spreeufer entlang - vom Bahnhof Friedrichstraße zum Osteingang des Reichstags, höchstens vierhundert oder fünfhundert Meter - muss sie zu Fuß gehen. Ihr kommt es endlos vor.
Immer wieder muss sie ausweichen, in Deckung gehen und in Luftschutzkellern Zuflucht suchen, weil auch am letzten Tag des Jahres, einem Sonntag, der Krieg keine Pause macht. Obwohl kaum noch ein Gebäude heil ist, weil nahezu alle Häuser in der Mitte Berlins bereits zerstört sind, kommen immer wieder neue Bomber, um ihre Sprengladungen über der Reichshauptstadt abzuwerfen.
Das letzte Flakgeschütz, das auf einem der vier Türme des Reichstagsgebäudes steht und unaufhörlich Salven in die Luft schießt, kann nichts mehr ausrichten. In einer Feuerpause gelingt es Annemarie, das von Soldaten bewachte und mit Sandsäcken verbarrikadierte Portal des Gebäudes zu erreichen. Sie zeigt einen Passierschein vor und wird von einem Sanitäter in den Keller geführt.
Dort herrscht Hochbetrieb. Vor einem Jahr hat die Charité ihre Entbindungsstation in das historische Gemäuer im ehemaligen Alsenviertel verlegt, weil das massive Fundament des alten Parlamentsgebäudes Schutz und Sicherheit verspricht. Trotzdem wackeln die Wände, wenn draußen die Bomben detonieren.
Das elektrische Licht flackert und geht schließlich ganz aus. Kerzen werden angezündet. Warmes Wasser wird in einem mit Brennholz befeuerten Kessel zubereitet, der zugleich den kahlen Raum heizt, den man als Kreißsaal hergerichtet hatte. Die Hygieneverhältnisse lassen zu wünschen übrig. Leinentücher und Binden werden knapp.
In diesem Chaos bringt Annemarie Schmidt ihre Zwillinge zur Welt - zuerst, zehn Minuten vor Mitternacht, Alexander, und eine Dreiviertelstunde später Bruno. Er ist der erste Säugling im neuen, sein Bruder Alexander der letzte im alten Jahr. Und genau das bringt wenige Tage später einen deutschen Bürokraten zur Verzweiflung.
Hermann Meyer ist stellvertretender Leiter des für das Reichstagsgebäude zuständigen Standesamtes Tiergarten und am Vormittag des 4. Januar 1945 gekommen, um die Geburten der letzten Tage zu beurkunden.
Vor ihm auf dem Tisch liegt wie immer das in marmorierte schwarze Pappe gebundene Geburtenbuch der Charité, eine große Kladde, die von außen aussieht wie ein altes Klassenbuch und von innen wie das Kassenbuch eines Buchhalters. Penibel sind in ihm alle Entbindungen seit 1925 dokumentiert. Vorne links in der ersten Spalte stehen Datum und genaue Uhrzeit der Geburt, dann von links nach rechts Name und Vorname des Säuglings, Name, Vorname und Anschrift der Mutter und, soweit bekannt und vorhanden, des Vaters. In einer weiteren Rubrik steht, welcher Arzt und welche Hebamme anwesend waren, wie viel Pfund der oder die Neugeborene auf die Waage brachte und schließlich, unter der Rubrik: »Besondere Merkmale«, ob und wenn ja, welche Besonderheiten es festzustellen gibt. Es ist das Logbuch der Entbindungsstation.
Der Standesbeamte Meyer ist ein Hundertfuffziger. So nennen die Berliner die Unentwegten, die auch im Angesicht der unabwendbaren Niederlage immer noch zu hundertfünfzig Prozent an den Endsieg glauben. Er trägt das runde Parteiabzeichen mit dem Hakenkreuz am Revers und sieht mit seinem angeklatschten dunklen Haar, dem scharfen Scheitel und dem rechteckigen Oberlippenbart sogar ein bisschen aus wie der Führer.
Weil er ein wenig zu zackig die Tür aufgerissen und den Arm zum Deutschen Gruß hochgerissen hat, ist das Hitler-Bild, das neben der Tür hängt, verrutscht. Meyer versucht vergeblich, es wieder geradezurücken. Es gelingt ihm nicht. So oft er es auch justiert, das Bild rutscht immer wieder in die Schieflage.
Wegen seines Namens muss Meyer in den letzten Kriegsjahren manchen bösen Spott ertragen. Seit der Ober-Nazi Hermann Göring verkündet hat, er wolle Meyer heißen, wenn es einem feindlichen Bomber je gelänge, Bomben auf deutsche Städte zu werfen, heißt der Reichsmarschall im Volksmund nur noch Hermann Meyer. Deshalb wird, wenn der Standesbeamte Hermann Meyer sich irgendwo mit seinem Namen vorstellt, immer geraunt und gekichert. »Meyer wie Göring?«, tuscheln die Leute und lachen hinter vorgehaltener Hand. Er erträgt es mannhaft, ein deutscher Beamter darf sich nichts anmerken lassen. Innerlich aber kocht er.
Auch heute ist ihm nicht entgangen, dass die Schwestern und Ärzte in der Entbindungsstation zu grinsen begannen, als sie seiner ansichtig wurden. Er hat also bereits eine etwas erhöhte Betriebstemperatur, und als die Oberschwester das vor ihm liegende Geburtenbuch nun lediglich geraderückt, nicht aber aufschlägt, wie sie es sonst immer tut, damit er die aktuelle Seite nicht suchen muss, spürt Meyer, dass irgendetwas nicht stimmt.
Misstrauisch öffnet er die Kladde, und als er die Stelle schließlich findet, schnappt er erst einmal nach Luft. Es dauert ein paar Sekunden, bis er - das ganze Ausmaß des Frevels begreifend, den er vor sich sieht - »Wer hat das geschrieben?« brüllt und mit dem Zeigefinger anklagend auf den schwarzen Doppelstrich deutet, der den Übergang des Jahres 1944 in das Jahr 1945 markiert. Über dem Strich steht »Prost Neujahr!« und darunter hat ein Witzbold geschrieben: »Führer befiehl, wir tragen die Folgen.«
Meyer weiß natürlich, dass das die Verballhornung eines Nazi-Slogans ist, den Joseph Goebbels ersonnen hat, um die Deutschen auf den totalen Krieg einzustimmen. Er wird rhythmisch gebrüllt, er steht millionenfach auf Transparenten und Spruchbändern, an Hauswänden und Bunkern, manchmal sogar auf Tassen und Tellern: »Führer befiehl, wir folgen!« Und nun hat jemand sich getraut, genau das ins Geburtenbuch zu schreiben, was der Volksmund aus der großen Propagandalüge gemacht hat: »Führer befiehl, wir tragen die Folgen.«
Meyer zitiert den diensthabenden Oberarzt herbei und fragt erneut mit bebender Stimme: »Wer hat das geschrieben?« Der Oberarzt zuckt bedauernd die Schultern. Er hatte am Jahreswechsel frei. Nun lässt Meyer alle antreten, die in der Silvesternacht Dienst hatten. Jeder wird einzeln befragt. Ohne Ergebnis.
Meyer droht damit, das Geburtenbuch beschlagnahmen und grafologische Gutachten anfertigen zu lassen. Jeder weiß, die Drohung geht ins Leere. Ohne Kladde kann der Standesbeamte keine Geburt beurkunden. Aber beurkunden muss er nun mal, dafür ist er schließlich da.
Zum Schluss kommt Meyer auf die Idee, selbst den Gutachter zu spielen. Noch einmal lässt er alle antreten, die in der fraglichen Nacht Dienst hatten. Sie müssen unter seiner Aufsicht mit der Hand den frechen Satz aufschreiben, der Meyer so erbost hat.
Doch es gibt keine Übereinstimmungen. Meyer tobt, und je mehr er tobt, desto ohnmächtiger wirkt er. Solange er keinen Namen hat, zerplatzen die von ihm angedrohten Konsequenzen - Polizei, Gestapo, Untersuchungshaft, Volksgerichtshof - wie Knallerbsen.
Es dauert etwa eine Stunde, bis er die Untersuchung entnervt und ergebnislos abbricht. Danach aber kommt er erst recht ins Schwitzen. Es ist schon schlimm genug, dass er nicht herausgefunden hat, wer der Übeltäter war, der den Führer schmähte. Noch schlimmer ist das, was jetzt auf ihn zukommt: Er soll die Geburt von zwei Brüdern beurkunden, die nicht am gleichen Tag und noch nicht einmal im gleichen Jahr zur Welt gekommen, aber unzweifelhaft Zwillinge sind.
Im Geburtenbuch steht der eine, Alexander, über und der andere, Bruno, unter dem Doppelstrich. Meyer nimmt sich die Kindsmutter vor. Das Fräulein Anna Maria Magdalena Schmidt, genannt Annemarie, soll ihm erklären, wie es dazu kommen konnte. Aber Annemarie Schmidt kann es ihm nicht erklären. Es hat sich einfach so ergeben. Erst kam Alexander, dann Bruno. Dazwischen war der Jahreswechsel.
Das Problem lässt sich nur lösen, indem man entweder die Eintragung im Geburtenbuch ignoriert oder den gesunden Menschenverstand. An den appelliert jetzt die Kindsmutter. Sie kniet vor dem Standesbeamten Meyer nieder und fleht ihn an, das Geburtsdatum ihrer beiden Söhne einheitlich entweder auf den 31. Dezember 44 oder auf den 1. Januar 45 zu legen. Sonst könnten die beiden doch nie am gleichen Tag Geburtstag feiern.
Meyer versucht, die Verantwortung abzuwälzen und bei seiner vorgesetzten Dienststelle eine Weisung einzuholen. Es funktioniert nicht. Die Telefonleitungen sind tot. Er muss selbst entscheiden. Und deshalb entscheidet er, wie sollte es anders sein, gegen den gesunden Menschenverstand: Was im Geburtenbuch steht, ist amtlich und muss dementsprechend auch vom Standesamt Tiergarten beurkundet werden.
Ordnung muss sein im Deutschen Reich. Auch und vor allem im Krieg. Immerhin wird den beiden Neugeborenen in ihren Geburtsurkunden ausdrücklich bescheinigt, dass sie im Reichstagsgebäude geboren worden sind. In der Spalte »Besondere Merkmale« hat der Arzt Dr. Eberhard Maus, der Bruno nach der Geburt untersuchte, in sauberer Sütterlinschrift etwas eingetragen, was nur Mediziner verstehen: »Naevus caeruleus infra venter felis«.
Die Verkäuferin Annemarie...
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