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Intermezzo mit Kai und Funky (I)
Kai Sichtermann wurde 1951 in Kiel geboren. 1969 zog er nach Berlin, wo er ein Jahr später zusammen mit Rio Reiser, R.P.S. Lanrue und Wolfgang Seidel Ton Steine Scherben gründete. Er spielte erst Gitarre, dann Bass. 1973 ist er aus der Scherben-Kommune in Berlin ausgezogen, auch nach Fresenhagen ging er nicht mit, weil ihm das ganze Vorhaben "zu chaotisch" erschien. Darum ist er auch auf dem Album Wenn die Nacht am tiefsten nicht dabei. Ende 1975 wurde er aber wieder Mitglied der Band und spielt bis heute Bass bei Ton Steine Scherben.
Funky K. Götzner wurde 1953 in Reichenberg bei Würzburg geboren. Er kam 1974 zu Ton Steine Scherben, die nach dem Ausstieg von Olaf Lietzau einen neuen Drummer gesucht hatten. Das "K." steht für Klaus, seinen Spitznamen "Funky" bekam er, nachdem er per Zeitungsanzeige Anschluss an eine Funk-Band gesucht hatte. Funky K. Götzner ist noch heute mit Ton Steine Scherben unterwegs und spielt Schlagzeug bzw. Cajon.
Das Interview mit Kai und Funky fand telefonisch statt, die beiden saßen zusammen in Berlin.
Kai: Meine erste Begegnung mit Nikel war gleichzeitig auch Nikels allererste Begegnung mit Ton Steine Scherben. Er hatte uns im September 1970 bei unserem Konzert auf Fehmarn gesehen und dann irgendwie rausbekommen, wo wir in Berlin wohnten. Kurze Zeit später stand er plötzlich vor der Tür unserer Wohnung in der Görlitzer Straße 74, nicht weit weg von der Mauer. Da trug er schon seinen legendären Ziegenbart; Nikels Aussehen war ja in all den Jahren immer wieder ein Thema, weil es so, sagen wir mal: originell war.
Damals, bei unserem ersten Kennenlernen, hat Rio anschließend noch ein bisschen mit ihm geredet, und wir sind irgendwie auf die Idee gekommen, dass er organisatorisch was bei uns machen könnte. Das fand Nikel gleich super, und so ist er dann nach und nach bei uns in die Managerrolle reingeschlittert.
Er hat zu der Zeit in einer kleinen Zweizimmerwohnung in der Weimarischen Straße in Berlin-Wilmersdorf gelebt. Ich weiß noch ganz genau, dass wir immer an der U-Bahn-Haltestelle Bundesplatz aussteigen mussten, wenn wir ihn besuchten. Ein Zimmer der Wohnung war immer so zugestellt, dass es eigentlich unbewohnbar war. Es war kein Müll, der darin lagerte, sondern aller mögliche Kram, den er nicht wegwerfen wollte. Er konnte sich einfach von nichts trennen. Das andere Zimmer war sein Wohn- und Schlafzimmer. Das war schon eine wirklich seltsame Wohnung, die er damals hatte.
Funky: Ich bin 1974 zum ersten Mal zu den Scherben in die WG am Tempelhofer Ufer gekommen. Ich hatte mich bei ihnen als Schlagzeuger beworben und war zusammen mit ein paar anderen Kandidaten zum Vorspielen eingeladen worden. Auf mich hat das alles einen ziemlich verrückten Eindruck gemacht, weil ich mir die legendäre und sagenumwobene Scherben-WG komplett anders vorgestellt hatte. Schlotterer hat mir, nur mit einer Lederjacke bekleidet, die Tür geöffnet. Dann kam Nikel um die Ecke, der sah schon allein wegen seines Ziegenbarts skurril aus. Er trug so ein seltsames Hemd mit Sternchen. Dann war da noch Uli Hammer im Seidenanzug, den er sich selbst geschneidert hatte. Der war über und über mit Plastikdiamanten von Woolworth bestickt. Dazu hatte er sich einen Oberlippenbart stehen lassen. Irgendwie sah er aus wie ein Plantagenbesitzer aus den Südstaaten der USA. Die Zimmerdecke war von Britta Neander mit Sternen bemalt worden. Insgesamt war das alles sehr erschlagend für mich und ich war, sagen wir es mal ganz vorsichtig, erstaunt. Als sie mich dann als neuen Drummer akzeptiert hatten und ich regelmäßig in der Wohnung war, wurde es nicht weniger skurril. Ständig waren Menschen da, die man vorher noch nie gesehen hatte. Manchmal kam man in die WG und wusste gar nicht, wer da gerade in der Badewanne lag. Nikel habe ich damals als denjenigen erlebt, der versucht hat, das ganze Chaos in geordnete Bahnen zu lenken. Er war der Organisator, hat dafür gesorgt, dass die Platten fertiggestellt werden. Die Cover haben wir in der WG immer eigenhändig zusammengetackert. Außerdem war Nikel derjenige, der am erfolgreichsten versucht hat, Geld ranzuschaffen. Er hat die komplette Buchhaltung gemacht. Wir waren finanziell in dieser Phase der Bandgeschichte in wirklich großer Not, chronisch pleite. Dadurch war Nikel schon darauf trainiert, uns mit Essen zu versorgen. Er ist ab und an mit Bernhard Käßner losgezogen und hat Supermärkte abgeklappert: Einer hat den Verkäufer abgelenkt, und der andere hat schnell einen Sack Kartoffeln auf die Ladefläche unseres alten Hanomag geworfen. Die beiden haben sich im Laufe der Zeit immer neue Tricks ausgedacht, wie sie mit dem bisschen Geld, was sie zur Verfügung hatten, die ganze WG satt bekommen konnten.
Kai: Das Geld war schon vorher, eigentlich seit Bestehen von Ton Steine Scherben, immer knapp. Wir haben oft gehungert, "Kohldampf geschoben", haben wir das genannt. Dieses ganz schlimme Hungern endete aber in dem Moment, als Nikel zu uns gestoßen ist. Er hat es immer irgendwie geschafft, Essen ranzuschaffen. Das waren selbstverständlich nicht immer opulente Mahlzeiten, aber irgendwas gab's immer. Einmal hat er einen Salat gemacht mit Fanta als Dressing und Gummibärchen als Beilage. Diese Mahlzeit ist in die Bandgeschichte eingegangen. Das war in Fresenhagen und es waren nur noch diese drei Zutaten verfügbar. Leider war ich an dem Tag nicht dort, aber die Geschichte wurde über die Jahre so oft erzählt, dass sie absoluten Kultstatus hat. Ab dem Moment, als Nikel da war und sich gekümmert hat, habe ich nicht mehr gehungert.
Funky: Bei ihm kam noch hinzu, dass er ein unglaubliches Zahlengedächtnis hatte. Wo andere schon längst den Taschenrechner gezückt haben, hat er noch alles locker im Kopf ausgerechnet. Trotzdem waren immer alle Abrechnungen, egal ob die von Konzerten oder von Plattenverkäufen, absolut korrekt.
Kai: Oh ja, ein gutes Zahlengedächtnis hatte er wirklich. Auch was Telefonnummern angeht. Man konnte Nikel nach jeder Telefonnummer fragen, er wusste die immer sofort auswendig, die Antwort kam immer wie aus der Pistole geschossen.
Funky: Mir fällt aus der Zeit am Tempelhofer Ufer auch noch eine lustige Anekdote ein. Das muss so 1974/75 gewesen sein. Damals herrschte in dem Haus ein totales Chaos, wir waren ständig in Geldnot und Nikel war zu einem Meister der Improvisation geworden. Egal wie widrig die Umstände auch waren, er hat sich nie unterkriegen lassen, hat immer einen unglaublichen Optimismus ausgestrahlt. Auf jeden Fall klingelte es an unserer WG-Tür und wir wussten aus Erfahrung, dass es meistens nichts Gutes zu bedeuten hatte, wenn es klingelte. Oft war es die Polizei oder ein Nachbar, der sich über den Lärm beschweren wollte, weil wir mal wieder im Wohnzimmer probten. Auf jeden Fall klingelte es, Nikel ging mit mir zur Tür, öffnete, und vor uns standen zwei Finanzbeamte. Einer fragte höflich, ob ein Herr Pallat hier wohnen würde. Nikel zögerte keine Sekunde und sagte sofort: "Pallat? Den kenne ich nicht. Habe ich nie gehört. Wer soll das denn sein? Nee, da sind Sie hier falsch." Das hat er so überzeugend gespielt, dass die beiden direkt wieder abgezogen sind, und wir haben uns vor Lachen nicht mehr eingekriegt. Das war typisch für Nikel, er war immer schlagfertig und originell.
Kai: Nikel konnte aber nicht nur wahnsinnig charmant sein, er konnte auch richtig grantig werden. Einmal sind wir nach einem Konzert in ein Restaurant gegangen, um was zu essen und zu trinken. Wir hatten damals lange Haare und sahen auch ansonsten nicht aus wie, sagen wir mal, Finanzbeamte. Wir kamen also als ziemlich wilde Truppe reinmarschiert und wurden einfach nicht bedient. Man hat uns schlicht und ergreifend ignoriert. Also sind wir aufgestanden und rausgegangen, Nikel ging als Vorletzter. Auf dem Tresen stand ein großes Sparschwein aus Porzellan, das er im Vorbeigehen gepackt und mit voller Wucht auf den Boden geschmissen hat. Es ist in tausend Teile zersplittert. Da mussten wir natürlich unsere Beine in die Hand nehmen und wegrennen, so schnell wir konnten, weil die ganzen Kerle, die in dem Restaurant saßen, sofort hinter uns hergelaufen kamen. Erwischt hat uns aber keiner von denen.
Funky: Die ganze Art und Weise, wie Nikel sich künstlerisch ausgedrückt hat, wie er sich als Entertainer dargestellt hat, war schon einzigartig. Er war ja nicht gerade ein Genie am Saxofon. Wenn ich gemein wäre, würde ich jetzt sagen, dass ich immer froh war, wenn er das Instrument nicht angefasst hat. Aber dafür war er umso besser, wenn es darum ging, besondere Ausdrucksformen zu finden. Zum Beispiel die Art und Weise, wie er beim Singen die Textzeilen betont hat, das macht man eigentlich nicht so, aber Nikel war das völlig egal. Er hat sein Ding durchgezogen und es einfach so gemacht, wie er wollte. Mal hat er die Betonung auf ein Wort gelegt, mal auf einen Satz, aber irgendwie hat es immer gepasst. Als würde er sein eigenes musikalisches Universum um sich herum erschaffen. Das fand ich immer total erstaunlich und ich habe mich oft gefragt, wie er das hinbekommt. Von allen Künstlern, die ich kenne, konnte nur Nikel auf diese ganz besondere Art performen. Natürlich kann man auch sagen, dass Nikel bei jedem normalen Casting sofort durchgefallen wäre, aber für ihn war es stimmig.
Kai: Nicht nur für ihn, auch Rio mochte seinen besonderen Gesangsstil. Deshalb war er ja auch der Einzige, der neben Rio live und auf Platte gesungen hat. Meistens "Guten Morgen", das war zusammen mit "Paul Panzers Blues" sein Szene-Hit. Nikel selbst hatte die Idee, sich bei Konzerten völlig nackt in einen Schlafsack vorne auf die Bühne zu legen, bevor das Lied begann. Wir sollten dann anfangen...
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