Schweitzer Fachinformationen
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Mich vor vier Mördern bloßzustellen? Wie blöd kann man sein? Ich ließ mich auf die Rückbank des Taxis fallen und schob die Sonnenbrille zurecht, die die unwirtliche Landschaft noch grauer färbte. Öffnete das Fenster und schloss es gleich wieder, weil es draußen nach Gülle stank.
Mir fielen die Augen zu, und meine Gedanken gingen zurück zu der Diskussion vor drei Jahren. Der letzten vor der Verhaftung von Ellingsen.
»Sind wir wirklich hundertprozentig sicher?«, hatte der Chef der Ermittlungsabteilung des Kriminalamts, Absalon Lund, immer wieder gefragt. »Ist das unser Mann?«
Ich weiß noch genau, wie er, der Mentor, zu dem ich aufsah, vor dem überfüllten Schreibtisch stand. Normalerweise der Inbegriff eines Wikingers, ein Fels in der Brandung, der stoische Ruhe ausstrahlte. Doch an diesem Tag waren seine roten Haare zerzaust, das Gesicht mager unter dem wildwüchsigen Bart. Die Finger umklammerten das Phantombild eines großen weißen Mannes in dunkelblauer Jeans, langärmeligem Pullover und einer tarnfarbenen Wollmütze mit einem gelben Zeichen an der Seite. Das Zeichen war entscheidend, die Zeugin war sich sicher gewesen. Eine Art Logo in Form eines Hirschkopfes, bei dem nur ein Teil des Geweihs intakt war.
Die anderen waren sich nicht hundertprozentig sicher, ich mir hingegen schon. Dabei hatten wir nur Indizien. An einer Wand in Ellingsens engem Büro hingen Fotos der beiden dunkelhaarigen Mädchen. Lyra und Henriette. Zwei weibliche Requisiten in der Inszenierung eines Mannes. Zum Sterben verurteilt, weil die Fantasie eines anderen Menschen wertvoller war als ihre Leben.
»A primal condition«, sagte ich.
Abs hob den Kopf. »Und das ist was?«
Ich zeigte auf die Karte hinter ihm. »Das Feuchtgebiet am Øyeren als letzte Ruhestätte für die Opfer könnte eine Rückkehr zur Natur symbolisieren.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Und?«
»Die Tat ist für ihn eine Notwendigkeit, die er nicht auf die leichte Schulter nimmt. Dass er die beiden in einem beliebten Naherholungsgebiet abgelegt hat, sagt uns, dass er wollte, dass sie schnell gefunden werden. Damit sie nicht irgendwo im Wasser verrotten.«
»Und was willst du uns damit sagen?«
»Dass es ein Wunder ist, dass du nicht noch mehr Eltern besuchen musstest.«
Er trat einen Schritt vor. Ich konnte ihn inzwischen recht gut lesen, was nicht immer der Fall gewesen war. Er war skeptisch, dass die Indizien vor Gericht standhielten.
»Wir müssen uns absolut sicher sein, bevor wir ihn festnehmen, Bjørk. Wir haben eine einzige Chance, diesen Typ zu überraschen, und das muss klappen.«
Ich nahm ihm die Phantomzeichnung aus der Hand und schnippte mit dem Finger auf das Papier. Nach den monatelangen Ermittlungen kannte ich den Typ mit der tarnfarbenen Mütze besser als irgendwer sonst. Ich sah immer wieder vor mir, wie er die Mädchen studierte. Sich ihre Verhaltensmuster einprägte und auf den richtigen Augenblick wartete, bis er dann irgendwo im Dunkeln zuschlug. Wenn ich mir ihre letzten Minuten vorstellte, wenn sie erkannten, was geschehen würde, brachte mich das immer aus der Fassung. Hatten sie das Geräusch der harten Sohlen hinter sich gehört? Die Erregung gerochen, vielleicht ohne zu wissen, was es war?
Es deutete absolut alles auf Ellingsen hin. Er passte genau ins Bild.
»Du willst also warten, bis der nächste Jogger eine Tote findet?«, fragte ich.
»Hör auf.« Abs Stimme war hart und frustriert und sein großer, breiter Körper wirkte mit einem Mal irgendwie gedrückt. »Schon mal was von begründetem Verdacht gehört?«
»Verdammt!«, sagte ich. »Der Verdacht ist begründet. Er wurde weniger als einen Kilometer vom Fundort der Leiche bei einer Verkehrskontrolle gestoppt. An seinem Arbeitsplatz wurden Spuren der Kleider von beiden Mädchen gefunden. Und die Kommentare seinen Kollegen gegenüber deuten eine Verbindung an.«
»Das sind alles nur Indizien.«
»Nehmt ihn fest, während wir das noch einmal durchgehen. Tu es für die beiden Teenager, die sechs Tage lang vergewaltigt und mit einem Stich in den Hinterkopf, genau in die Medulla oblongata, getötet wurden.«
Abs stellte eine dreckige Tasse beiseite, schob seinen Hintern auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn du dich irrst, sind wir beide fertig. Das ist dir klar, oder?«
»Unter normalen Umständen wäre ich ganz deiner Meinung«, sagte ich. »Dann wäre ich auch fürs Warten, für eine Fortsetzung der Überwachung. Aber wir haben es hier nicht mit einem verschmähten Lover oder irgendeinem Ex zu tun. Unser Täter ist ein erwachsener Mann, der garantiert schon früher getötet hat. Derart perfekte Morde begeht man nicht, ohne zu üben.«
»Wenn du dich irrst, sind wir erledigt.«
»Ich irre mich nicht. Er ist es. Und wir haben keine Zeit.«
Abs stand auf. Wanderte durch den Raum. Das Team war erschöpft. Technische, taktische und elektronische Funde wurden seit Monaten analysiert. Die ganze Nachbarschaft war abgeklappert und Familien und Freunde verhört worden. Bekannte Sexualstraftäter, Follower in den sozialen Medien, Männer, die in der Gegend gesehen worden waren. Wie ein Trawler, der sein Netz über den Meeresboden zieht, hatten wir nichts ausgelassen. Und erst kürzlich hatten wir auch noch diverse namenlose Funde und Vermisstenmeldungen sowie vermutlich illegal eingewanderte Migranten unter die Lupe genommen, um sicherzugehen, dass nicht noch mehr Mädchen Opfer desselben Täters geworden waren.
»Glaubst du, dass er aufhört?«, fragte ich.
Abs schüttelte den Kopf. Wir waren ein eingespieltes Team, aber so erschöpft hatte ich ihn noch nie gesehen.
Nein, der Täter war noch nicht fertig. In diesem Punkt waren wir uns einig, aufgrund einer Sache, die wir noch nicht an die Medien weitergegeben hatten. Eine Art Muster.
Vor dem Verschwinden der beiden Mädchen waren ihre Haustiere ebenfalls verschwunden.
Und beide Mädchen waren mit gelben, dreieckigen Ohrmarken getaggt worden. Wie sie für das Markieren von Tieren benutzt wurden.
»Wir sind da.«
Ich rieb mir das Gesicht und öffnete die Augen. Das Taxi hielt vor einem sandfarbenen Haus im Zentrum von Oslo. Der Fahrer zog seelenruhig meine Karte durch das Lesegerät. Als er endlich fertig war, nahm ich sie ihm aus den klammen Fingern und stieg aus.
»Hallo, Sie haben die Quittung vergessen!«, rief er auf gebrochenem Norwegisch hinter mir her, aber ich war bereits auf dem Weg über den glühend heißen Bürgersteig.
Eine Frau stand am Eingang und rauchte. Anfang fünfzig, lila Kaftan, kein Schmuck. Mit dem pflaumenfarbenen, in Schnecken hochgesteckten Haar sah sie aus wie eine gealterte Prinzessin Leia.
»Sie haben den Weg gefunden«, sagte sie.
Ich erkannte die Stimme von dem Telefongespräch am Vorabend, erinnerte mich aber nicht mehr an ihren Namen.
Zum Glück half sie mir auf die Sprünge. »Rita Waage, Journalistin. Willkommen zum True-Crime-Podcast Durch die Dunkelheit.«
Ihre Stimme war seltsam monoton, die matten Augen nicht so neugierig, wie ich es von einer Journalistin erwartet hätte. Ich bereute es bereits, sie nicht gegoogelt oder mir wenigstens einige ihrer Podcasts angehört zu haben. Rief mir das Versprechen ins Gedächtnis, das ich mir gegeben hatte, alles nur Erdenkliche für ein normales Leben mit einem stabilen Einkommen zu tun. Für meine Tochter.
Ich reichte ihr die Hand. »Bjørk Isdahl.«
Ihr Händedruck war überraschend schlaff, aber lang. Was für eine Journalistin mochte sie sein? Arbeitete sie für eine der großen Zeitungen? Beim Fernsehen? Von so einem Podcast konnte man doch wohl nicht leben? Am Telefon hatte es sich so angehört, als könnte das Interview meiner Karriere einen gewaltigen Schub geben. Jetzt fragte ich mich, ob es die Mühe wirklich wert war.
»Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten«, sagte sie. »Sind Sie wieder bei der Polizei?«
Ein schwarzer Käfer lag auf dem Rücken neben meinen Füßen. Als ich ihn mit der Schuhspitze umdrehen wollte, sah ich, dass seine Unterseite trocken und aufgeplatzt war. Im letzten Monat war nicht ein Tropfen Regen gefallen, und mein Gehirn zerschmolz, konnte nicht klar denken und traf die falschen Entscheidungen. Wie eben meine Beichte in der Gruppe oder die Einwilligung zu diesem Interview.
»Ich war externe Beraterin für die Polizei.«
»Aber Sie haben noch immer Ihre Kontakte?«
Ich zog meine Hand weg, damit sie nicht mitbekam, wie ich erstarrte. Rita hatte garantiert gründlich über mich recherchiert, und ich fragte mich, ob es für dieses Interview einen Hintergedanken gab. War sie eine von denen, die Lyra und Henriette vergessen hatten, nachdem bekannt geworden war, dass der Hauptverdächtige der Polizei sich in Untersuchungshaft das Leben genommen hatte? Eine von denen, die den Sturm losgetreten hatten, als offiziell bekannt war, dass ich die Festnahme empfohlen hatte.
»Denken Sie an etwas Spezielles?«, fragte ich.
Rita nahm ein Päckchen Camel heraus, zündete sich eine neue Zigarette mit der alten an und rauchte hektisch weiter.
»Meine Freundin Hege ist seit mehr als einem Tag nicht zu Hause erreichbar.«
Trotz des warmen Nachmittagslichts war ihre Haut blass.
»Könnte es sein, dass sie einfach nicht ans Telefon geht?«
Rita warf einen Blick über die Straße und schnippte die Asche von der Zigarette.
»Hege und ich kennen uns seit über zwanzig Jahren. Das ist sehr untypisch.«
»Haben Sie schon mit der Polizei...
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