Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die Polizei ist sehr schnell zur Stelle. Ich sitze etwas abseits auf der Straße in der Hocke und fühle mich vollkommen blutleer. Das Geräusch des zerplatzenden Schädels auf dem Asphalt läuft in meinem Kopf in einer Endlosschleife, als zwei Beamte, ein Mann und eine Frau, auf mich zukommen. Sie tragen kurze schwarze Jacken und dazupassende Hosen. Ich muss ihnen meinen Namen genannt haben, oder sie wissen, wer ich bin, denn sie sprechen mich mit vollem Namen an.
»Bjørk Isdahl«, sagt die Frau. »Sie haben angerufen, nicht wahr?«
Ich schüttele langsam den Kopf. Verstehe einfach nicht, warum Azora mich zur Zeugin ihres Selbstmords gemacht hat.
»Haben Sie nicht?«
»Hä?« Erst jetzt werde ich wieder auf die Beamten aufmerksam.
»Sie haben die Tote gefunden?«
Die Worte wollen nicht aus meinem Mund. »Sie ist gesprungen.«
»Haben Sie das gesehen?«
Ich starre vor mich hin. Der Körper im freien Fall, das Geräusch, es will nicht aus meinem Kopf. Ich schüttele wieder und wieder den Kopf, starre vor mich hin, bis mir endlich klar wird, dass ich mich zusammenreißen muss.
»Ja, ich habe sie fallen sehen.«
»Verstehe«, sagt die Frau. »Wohnen Sie in der Nähe? Arbeiten Sie hier?«
»Nein«, antworte ich. »Ich war mit ihr verabredet.«
»Sie kannten die Tote?«
»Ich habe vor ein paar Jahren ein Praktikum in einer Drogenklinik gemacht. Lebensrad. Sie war da eine Weile Patientin. Sie hat mich heute Abend angerufen.«
»Dann können Sie sie identifizieren?«, fragt die Polizistin.
»Azora, sie wurde Azora genannt. Den Nachnamen kenne ich leider nicht.«
»Was wollte sie?«
Der Mann ist neben mir in die Hocke gegangen. Seine Freundlichkeit macht mir bewusst, wie hart ich zu Azora war. Hat sie mir meine Gleichgültigkeit angehört? Meinen Unwillen, sie zu treffen? Hätte ich entgegenkommender sein müssen?
Ich versuche, den Beamten zu erklären, warum ich in das Treffen eingewilligt habe.
»Sie hat mich immer wieder bedrängt. Ich wollte dem ein Ende machen, bevor es eskaliert.«
Sie nicken, verständnisvoll, bekommen meine Kontaktdaten und helfen mir, ein Taxi zu rufen. Ich fahre nicht nach Hause, sondern zu Kristian. Erkläre ihm am Telefon, was passiert ist, damit er versteht, dass ich es nicht auf einen neuerlichen Streit abgesehen habe.
Als ich in seine Wohnung komme, legt er die Arme um mich, streichelt mir den Rücken und hält mich lange fest. Ich drücke mein Gesicht an seine Brust und klammere mich an ihn. Am liebsten würde ich die ganze Nacht so stehen bleiben. Kein Reden, keine Anklagen, keine lauten Stimmen. Einfach nur hier stehen, die Wärme und den Duft des anderen spüren.
Meine Augen laufen über, als er sich aus meiner Umklammerung löst. All das, was im letzten Jahr passiert ist, spült gleichsam aus mir heraus. Die Tränen fließen, die Schultern beben. Ich beuge mich vor und öffne die Schnürriemen meiner Stiefel, hänge meine Jacke auf und wische mir das Gesicht mit der Serviette ab, die Kristian mir reicht. Dann führt er mich ins Wohnzimmer, platziert mich auf dem Sofa und legt mir eine weiche Decke um die Schultern. In der Küche kocht er einen Tee, drückt mir den Becher in die Hände und gießt sich selbst ein Glas Rotwein ein.
Er passt so gut in diese Wohnung, in meiner war er viel zu groß, füllte die Zimmer auf fast beklemmende Weise aus. Hier, unter den hohen Decken und zwischen den klassischen Möbeln, die so schwarz wie seine Haare sind, fügt er sich in das Interieur wie auf einem inszenierten Foto. Wieso denke ich an derart triviale Dinge, nachdem sich gerade vor meinen Augen jemand das Leben genommen hat? Ich zwinge mich, mich auf Kristian zu fokussieren, der sich mir gegenüber hingesetzt hat.
»Willst du darüber reden?«, fragt er.
Ich trinke einen Schluck von dem brühheißen Tee. Die Kamille entkrampft meine Muskeln. Endlich finde ich eine Art Ruhe und beginne langsam zu reden. Ein ums andere Mal wiederhole ich, was Azora gesagt hat, was ich gedacht und getan habe. Kristian hört geduldig zu. Zwischendurch stellt er eine Frage, die meiste Zeit aber lässt er mich einfach reden.
»Ich kriege das nicht zusammen«, sage ich nach einer Weile. »Sie hat mich angerufen. Weil sie reden wollte. Warum nimmt sie sich dann das Leben?«
»Sie hat sich nicht unbedingt zurechnungsfähig angehört.«
Ich schüttele den Kopf. »Vielleicht nicht, sie hat aber gesagt, dass sie mir etwas Wichtiges erzählen wollte. Und es scheint ihr wirklich ernst gewesen zu sein.«
Er sieht mich verwundert an. »Aber du kanntest sie doch gar nicht?«
Ich denke an frühere Gespräche mit ihr. Ich habe Kristian nie davon erzählt, doch jetzt strömt aus mir heraus, wie unwohl ich mich bei diesem Praktikum gefühlt habe und was für ein schlechtes Gewissen ich hatte, die angebotene feste Stelle abgelehnt zu haben, obwohl ihnen Leute fehlten. Und dann diese Frau. Azora. Sie wollte einfach nicht nachgeben.
»Das ging mir alles zu nah. Ich konnte mit diesen Drogenabhängigen nicht arbeiten. Nicht nur wegen ihr, aber .«
»Verstehe«, sagt Kristian. Er beugt sich vor und legt beide Hände um das Rotweinglas.
»Anfangs, als ich noch neu in der Klinik war, wirkte es so, als würde sie mich nicht kennen«, fahre ich fort. »Dann hat sie plötzlich behauptet, mich schon als Kind gekannt zu haben.«
»Aber das stimmte nicht?«
Ich stelle den Becher auf den Tisch und schiebe ihn in die Mitte.
»Vielleicht war sie auf derselben Schule, was weiß ich. In einer der Klassen über mir. Vielleicht eine Nachbarin, an die ich mich nicht erinnere. Sie war definitiv ein paar Jahre älter als ich. Ich hab es nie rausgekriegt, vermutlich war das alles nicht real.«
Eine Weile sitzen wir da, ohne etwas zu sagen. Ich schlage die Decke enger um mich. So war es schon immer mit Kristian und mir. Die Stille zwischen uns war nie peinlich.
»Wie geht es dir?«, fragt er schließlich. »Ich meine . sonst so?«
Ich ziehe den Becher wieder zu mir, trinke, bevor ich antworte. Versuche zurückzuhalten, was er nicht hören will. Ringe meiner Stimme Zuversicht ab, als ich sage: »Abs will nächste Woche mit mir sprechen.«
Er nickt langsam. Stellt das Weinglas ab, aus dem er kaum etwas getrunken hat.
»Du . sollst zurück?«
»Ich hoffe es.«
»Sicher, dass das klug ist?«
Die Frage ärgert mich, obwohl ich wusste, dass sie kommen würde.
»Warum fragst du?«
Er hebt beschwichtigend die Hände. »Ich meine nur .«
»Du siehst doch, wie es mir nach einem Jahr zu Hause geht.« Ein Kloß wächst in meinem Hals. Ich versuche, seinem Blick standzuhalten. »Du hast doch selbst gesagt, dass .«
»Sie hätten dir eine Entschädigung zahlen müssen.«
»Ich habe einen unschuldigen Mann sterben lassen, Kristian. Für so etwas wird man nicht entschädigt, eigentlich kommt man dafür ins Gefängnis.«
Er stöhnt. »Jetzt hör aber auf. Der Mann stand unter Verdacht. Außerdem hast du ihn nicht .«
»Weil ich ihn für schuldig gehalten habe .«
Er sieht mich skeptisch an und schweigt eine ganze Weile. Es wirkt so, als müsste er die folgenden Worte von weither holen.
»Ich weiß nicht, aber es braucht doch sicher mehr als das Votum einer einzelnen Person bei der Polizei, um jemanden ins Gefängnis zu bringen. Du musst endlich damit aufhören, dir das anzukreiden.«
Ich drehe mich hin und her, winde mich aus der Decke, als wollte ich gehen.
»Haben wir nicht genug über dieses Thema geredet? Jens Ellingsen ist tot. Und das war mein Fehler.«
Wieder sieht er mich wortlos an. Aus seinen dunklen Augen strahlt etwas, das ich nicht recht deuten kann. Ich weiß, dass er mich liebt und gern hätte, dass ich über Nacht bleibe. Er hat es nicht gesagt, aber er wünscht sich, dass wir wieder als Paar zusammenfinden. Gleichzeitig hasst er meine Arbeit, sowohl die, die ich habe, als auch die, zu der ich zurückwill. Er ist überzeugt, dass sie mich kaputtmacht. Es gab eine Zeit, in der diese Ängste berechtigt waren, doch mittlerweile habe ich wieder alles unter Kontrolle.
»Entschuldigung«, sagt er, ohne mich anzusehen.
»Wofür?«
Er hebt den Blick. »Du hast etwas Grausames erlebt, und alles, was ich tue, ist .«
Er hält inne, reibt sich das Gesicht, steht auf und geht in die Küche. Ich starre in die Leere, die er hinterlässt, und lausche auf meinen Herzschlag. Ich könnte über Nacht bleiben. Seine Wärme spüren, ihn in mich eindringen lassen. Mit seinem Atem an meinem Ohr einschlafen und seine dunklen Arme um mich spüren. Mein Körper beginnt sanft vor Lust zu zittern, doch ein Geräusch macht dem allen jäh ein Ende. Das verfluchte Geräusch des zerschmetternden Schädels.
Es ist sicher besser, zu Hause zu schlafen.
»Was ist?«, fragt Kristian.
Er steht mit einer hochgezogenen Augenbraue vor mir, lächelt zärtlich, als hätte er meine Gedanken gelesen. Plötzlich erinnere ich mich an das Gefühl, das ich hatte, als ich auf Azora wartete. Dass mich jemand beobachtet.
»Bestimmt bilde ich mir das nur ein .«
»Was?«
»Ich hatte das Gefühl, nicht allein zu sein.« Mein Hals schnürt sich zu.
Kristian sieht mich an. Ich weiß, was er denkt. Er will eine stabile Lebensgefährtin, die die liebende Mutter seiner zukünftigen Kinder werden kann. Nicht einen Menschen, der Tod und Schande mit nach...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.