Schweitzer Fachinformationen
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geb. Trebo, vulgo Angela dal Tabac
Angela kam im Juli 1882 als jüngstes von fünf Geschwistern auf die Welt. Ein Sommer, den sie lange nicht vergessen haben, in St. Vigil. Drei Wochen hatte es durchgeregnet. Die Wiesen wurden überschwemmt und der Bach, der damals noch durch die Ortschaft floss und noch nicht reguliert war, riss die Heuernte mit sich. Das Wasser aus den Brunnen konnte man auch nicht mehr trinken, ohne es vorher abzukochen.
Auch das Geburtshaus der Angela hatte damals großen Schaden genommen. Die Ciasa dal Tabac. Auf Deutsch: das Tabakhaus. Es heißt immer noch so. Obwohl es dort schon eine halbe Ewigkeit keinen Tabak mehr zu kaufen gibt.
Das Haus liegt gleich neben der Kirche von St. Vigil. Das einzige Haus neben der Kirche, wohlgemerkt. Und an dessen Stelle stand angeblich schon ein Haus, bevor es dort überhaupt eine Kirche gegeben hat.
Zur Zeit der Geburt von Angela ein Bauernhaus. Wahrscheinlich das kleinste von St. Vigil. Kaum zum Ernähren einer Familie geeignet. Ein winziger Gemüsegarten hinter dem Haus, gerade mal ein paar Quadratmeter groß und eine kleine Futterwiese, die so wenig Heu abwarf, dass man maximal eine Kuh und eine Ziege durch den Winter bringen konnte.
Viel mehr hätte auch nicht in den Stall gepasst, der ein Teil des Hauses war. Wand an Wand mit dem Vieh hat man gelebt, mit entsprechender Geruchsbegleitung. Aber das störte niemanden, der dort wohnte. Man kannte es ja nicht anders.
Wie der Name verrät, wurde im Haus mit Tabak gehandelt. Geschäftsräumlichkeiten gab es nicht, nur ein kleines, lieblos gezimmertes Kästchen, das gleich neben der Eingangstür hing. Das war's. Aber immerhin konnte man dort Pfeifen-, Kau- und Schnupftabak erwerben. Tabak niedriger Qualität selbstverständlich. Den feinen, teuren Tabak, wie er in Bruneck verkauft wurde, hätte sich auch niemand leisten können oder wollen. Oft klopfte es noch spät in der Nacht, wenn einer im Vollrausch seinen Tabakbeutel verloren hatte.
Was für andere ein Zusatzeinkommen bedeutet hätte, von dem man sich die eine oder andere Extravaganz leisten konnte, war für die Familie von Angela überlebensnotwendig. Jeder Kreuzer, der mit Tabak verdient wurde, half, die Mägen zu füllen.
Vor allem die Winter stellten die Familie jedes Jahr vor eine Herausforderung. Denn dann musste man sich eine Kuh vom Nachbarn ausborgen, sonst wäre es im Stall zu kalt geworden. Eine Kuh allein hätte nie genug Körperwärme erzeugen können, um den Stall auf erträglicher Temperatur zu halten, wäre erfroren. Die Ziege gleich mit, ohne eine Gastkuh. Als Gegenleistung musste die geborgte Kuh gemolken und die Milch an den Besitzer abgeliefert werden.
Im Keller war eine Werkstatt eingerichtet, in der Angelas Vater Schlitten reparierte und auf Bestellung auch baute. Es waren die großen Heuschlitten, mit denen man im Winter Heu von den hoch gelegenen Wiesen herunterbrachte.
Das Heu wurde nach der Mahd in kleinen luftdurchlässigen Hütten, die direkt auf der Wiese standen, zwischengelagert, bis der Schnee ermöglichte, das Heu ohne größeren Aufwand in die unten gelegenen Höfe zu bringen. Eine nicht ganz ungefährliche Arbeit. Jedes Jahr gab es Verletzte, manchmal Tote zu beklagen. Denn so ein eingeschneiter großer Stein war leicht zu übersehen, der Schlitten schwer zu steuern und kaum zu bremsen. Da gab es eine Menge zu reparieren nach einem Winter.
"Vor dem Oktober brauch ich den Schlitten nicht, Tabac", sagten die einen.
"Lass dir nur Zeit. Bezahlen tu ich, wenn ich ihn hol!", die anderen. Und wieder: eine Nebeneinkunft, die nicht viel einbrachte.
Mit ihrem ältesten Bruder, Paul, hat die Angela nur ein paar Jahre verbracht. Er war um fast neun Jahre älter als sie und hat, sobald es ihm möglich war, das Haus verlassen. Offenbar war ihm klar, dass hier nichts zu holen sein würde, er besser dran wäre, würde er sein Glück in der Welt da draußen suchen.
"Pass auf auf dich! Und ich werde jeden Tag beten für dich, damit dir nichts passiert", hat die Angela zum Abschied gesagt.
Mit dem Geld, das er sich als Hilfsarbeiter bei einem Bäcker in St. Lorenzen verdient hatte, ging er nach Triest. Alle paar Wochen kam ein kurzer, ziemlich lieblos formulierter und auch nicht besonders informativer Brief von ihm. "Es geht mir gut, habe Arbeit und ein sauberes Zimmer."
Dann kam gar nichts mehr. Ein Jahr lang hat man nicht gewusst, ob er noch lebt, und wenn ja, wo und wie. Jeden Tag nach der Schule lief die Angela zur Post und fragte, ob ein Brief vom Paul gekommen wäre. Nach ein paar Wochen klopfte sie nur noch an eines der Fenster, bekam ein Kopfschütteln als Antwort und ging in die Kirche, um für ihren Bruder zu beten.
Sein erstes und gleichzeitig letztes Lebenszeichen kam in Form eines Briefes aus der Kolonie Assab. Eine italienische Kolonie am ostafrikanischen Südufer des Roten Meeres, im heutigen Eritrea.
Der Ton des Briefes war ganz anders als bisher. Detailreich beschrieb der Bruder die Gegend, seine Arbeit, die Leute, Gerüche, Speisen und Pflanzen und wie glücklich er jetzt wäre. Er wisse zwar noch nicht wann, aber er würde sicher in ein paar Jahren nach Hause kommen, nachdem er sein Glück gemacht haben werde. Und demnächst würde er für alle Geschenke schicken.
Die Angela legte diesen Brief unter ihr Kopfkissen. Voll der Vorfreude auf die Geschenke und die Rückkehr des Bruders. Aber da kam nichts mehr. Kein Brief. Auch keine Geschenke. Nur eine Todesnachricht. Offenbar wurde er in einer Spelunke von einem Italiener im Streit erstochen, wie Zeugen berichteten. Der wäre dann geflüchtet, wurde nie gefunden.
Der Gedanke, dass ihr Bruder jetzt tot war und - in ihrer Vorstellung - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Himmel, beruhigte die Angela. Sie wusste jetzt, wo er war und wie es ihm ging. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Was sollte ihm schon passieren?
"Er ist jetzt bei den Engeln", sagte die Mutter.
"Amen!", sagte die Angela.
Denn dass der Bruder jetzt im Himmel war, war der Angela Information genug, um froh für ihren Bruder zu sein.
Als die Angela neun Jahre alt war, erkrankten sie, ihr jüngerer Bruder Carlo und ihre beiden älteren Schwestern nicht nur zeitgleich, sondern auch gleichzeitig an Diphtherie und Scharlach. In den Wochen, die folgten, wurde die Sterbeglocke oft geläutet. Fast die Hälfte aller Kinder soll gestorben sein, in St. Vigil und auch in Enneberg.
Nicht nur, weil die Bevölkerung geschrumpft war, auch weil einige vom Glauben abgefallen waren, war die Kirche am Sonntag nicht mehr so gut besucht wie vor dem Ausbruch der Krankheit. Und die, die die Kirche besuchten, waren leise. Als wären die Ruhe und ihr Schweigen eine Art Vorwurf an einen Gott, der so etwas zulässt. Ein lautloser Protest gegen den da oben.
Die Angela konnte das viele Sterben nicht davon abhalten, jeden Tag zum Gebet und sonntags zur Messe zu gehen. Wahrscheinlich, weil sie überlebt und bei ihr das Rosenkranzbeten funktioniert hatte. Auch, als ihre beiden Schwestern starben, blieb ihr Glaube unerschütterlich.
"Die werden nicht genug gebetet haben. Wenn das Beten nicht fürs Überleben gereicht hat, reicht das dann fürs Himmelreich?", fragte sich die Angela.
Ihr Bruder Carlo überlebte ebenfalls. Allerdings nur knapp. Die Diphtherie hinterließ schwere Schäden an der Herzmuskulatur und den Nieren. Und diese Schäden begleiteten ihn für den Rest seines kurzen Lebens. Bei der Angela war die Krankheit ohne irgendwelche Folgen vorübergegangen.
Vielleicht war es der Tod des älteren Bruders in Afrika, vielleicht auch der Tod der Schwestern, die Angela zu einem tiefgläubigen Menschen gemacht haben. Vielleicht beides.
Jedenfalls wurde in ihr ein durch nichts und niemanden zu erschütterndes Vertrauen geweckt, dass der Allmächtige in seiner Gerechtigkeit, Güte und Weisheit immer einen Plan hatte, jedes Ereignis schon seinen Grund haben würde. Einen Grund, den der Mensch ihrer Meinung nach weder hinterfragen konnte noch sollte.
Ihr daraus resultierender Gleichmut wurde - nicht nur von ihrer Familie - als Gleichgültigkeit wahrgenommen, als Ignoranz allem und allen gegenüber. Damit tat man ihr aber unrecht. Sie sah das Leben einfach als Aufgabe, die man - so gottgefällig wie möglich - zu erledigen hatte, um sich der Belohnung durch ein ewiges Leben würdig zu erweisen. Nicht mehr und nicht weniger.
Dass ihr bei der Erledigung dieser Aufgabe deshalb zu wenig Zeit blieb, um auf die Gefühle anderer zu achten, war nur logisch.
"Sie macht es sich zu einfach, mit ihrem Glauben", sagten die einen.
"Sie macht es sich einfach zu schwer, mit ihrem Glauben", die anderen.
Nachdem sie die Schule gleichermaßen mit einem Minimum an Talent wie Einsatz zu Ende gebracht hatte, bekam sie eine Stelle als Kindermädchen bei einem Richter in...
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