2 Schwimmen
Ich malte und zeichnete gerne, oder schnitt Dinge aus einem abgelaufenen Versandhauskatalog aus, um sie in neuer Konstellation auf ein Papier zu kleben. Das machte mir viel Spaß. So formte ich eine neue Welt, förderte auf alle Fälle meine Kreativität.
Meine Art, dies zu tun, gefiel meinem Vater nicht, denn er maßregelte mich oft, doch die rechte Hand dafür benutzen zu müssen, weil sie die schönere Hand sei. Das verstand ich nicht. Meine linke Hand war schöner, schon allein, weil die all das konnte, was mit der rechten nicht möglich war. Außerdem sah der hübsche Ring aus dem Kaugummiautomaten an der linken Hand viel besser aus als an der rechten, weil die Finger etwas dünner waren. Warum sollte ich nun die Schere mit rechts halten, obwohl das nicht ging? Sah er das denn nicht? Um es ihm zu beweisen, steckte ich die Finger der rechten Hand durch die Löcher der Schere, konnte aber die nötige Kraft sowie die ideale Haltung nicht aufbringen, auch wenn ich mich noch so sehr anstrengte. Dabei erst fiel mir richtig auf, wie unbeweglich das rechte Handgelenk war.
»Du musst das nur üben«, sagte Vater, »üben, üben, üben. Dann kannst du das.«
Als er mich wieder alleinließ, wechselte ich die Schere in die linke Hand und fuhr wie gewohnt mit meiner Bastelei fort. Nein, wusste ich, ich würde das nicht üben, weil mir klar war, dass es nicht ging; er hingegen konnte das nicht wissen, weil er zwei normal funktionierende Hände hatte. Genauso hielt Vater es hinsichtlich der bevorstehenden Schule. Wenn ich dort Schreiben lernen würde, müsse ich auf jeden Fall mit rechts schreiben, weil die rechte Hand die schönere sei. Das sah ich anders. Aber mein Vater ließ auch hier keine Ausreden zu. So übte ich, mit der rechten Hand einen Stift zu halten und zu schreiben. Es ging, doch nach kurzer Zeit ging nichts mehr. Das Handgelenk fühlte sich steif an. Ich musste danach die Hand ein paar Mal auf und ab bewegen, dann konnte ich weitermachen.
Meine Eltern kamen aus einer Zeit, wo man einfach das machte, was sein musste, und es so zu machen war, wie es schon immer gemacht wurde. Da fragte niemand nach, warum. Alles wurde immer so gemacht, ohne nachzufragen. Alles im Leben wurde mir so vermittelt. Doch in mir war von Anfang an ein Widerstand, mit dem ich als Kind nicht weiterkam, schon allein wegen dieses kurzen Arms. Vielleicht würde sich etwas ändern, wenn ich erwachsen war, dachte ich. Ich wollte ganz viel anders machen, als man es nun von mir forderte, das war mir bereits klar, doch der blöde Arm würde bleiben.
Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, einen Stift in der rechten Hand zu halten, doch so gut fühlte es sich nicht an.
Ich hasste es, etwas tun zu MÜSSEN. Da hörte ich noch später immer wieder den Druck meiner Eltern. Ich wollte lieber das tun, was ich WOLLTE. Das jedoch war zu dieser Zeit keine Option. »Was sollen denn die Leute denken?«, war der Lieblingssatz meiner Mutter, ganz gleich, ob es um die Pflege des Gartens, um Hausarbeiten oder eben um das Ansehen ging, das so zu sein hatte, dass niemand etwas darüber sagen konnte; das bezog auch mich mit ein.
Schämten sie sich etwa wegen mir und des kurzen Arms? Dafür aber konnte ich doch nichts? Ich fragte nicht nach, und sie sagten dazu auch nichts, es war nur so ein unbehagliches Gefühl.
So war ich auf die Schule vorbereitet, wo ich Schreiben mit einem Griffel auf eine Schiefertafel lernte. Außerdem wollte ich nicht aus der Reihe tanzen, so machte ich es, wie es gefordert wurde, wobei es mich sehr störte, dass der Stift nicht sanft, wie ein Kugelschreiber auf Papier, sondern hart, holprig und manchmal quietschend über den Untergrund fuhr. Schrecklich. Erwartungsgemäß war das Schreibergebnis genauso schrecklich. Und nach einer halb vollgekritzelten Reihe versteifte sich das rechte Handgelenk wie gewohnt, dass es sogar leicht wehtat. Ich bewegte daraufhin reflexartig die Hand auf und ab, bis es leicht knackte.
Zu Hause hatte ich mit einem Bleistift auf Papier geübt; das war mir leichter gefallen. Erst im zweiten Schuljahr schrieb ich mit einem Füller in ein Heft. Von der Technik her war es viel angenehmer als der Griffel, doch meine Schrift war auch in den weiteren Schuljahren nicht als Schönschrift zu bezeichnen. Es fing stets relativ leserlich an, doch mit der Zeit wurden die Buchstaben krakeliger, weil es die komplette Hand anstrengte und sich mein Handgelenk immer bald versteifte, wie bereits vorher oft geschehen.
Mit links zu schreiben, wie es heute akzeptiert wird, war damals keine Option.
Im fünften Schuljahr war ein Mädchen in meiner Klasse, das mit links schrieb, und ich fragte mich, warum ich das nicht auch gedurft hatte. Um nun noch zu wechseln, war es zu spät; ich hätte es erst mit links neu lernen müssen.
Zurück zu meinen schulischen Anfängen. Da erfuhr ich den ersten Schwimmunterricht, der den Grundstein für meine persönliche Katastrophe setzte.
Mit der ersten Schwimmstunde hielten Hänseleien Einzug in mein Leben. Heute würde man das als Mobbing bezeichnen. Doch, was haben Kinder mit Mobbing am Hut? Wir alle wissen, wie direkt und verletzend sie sein können.
Genau das musste ich erfahren, als die Lehrerin uns nach den Trockenübungen am Beckenrand ins Wasser schickte. Diese Übungen hatte ich nur mit dem linken Arm durchführen können, was sie nicht registriert hatte. Ich hatte gleich gemerkt, dass ich nicht schwimmen können würde, und machte mir schon die vielfältigsten Gedanken, wie ich das erklären sollte.
Alle sprangen ins Wasser, außer mir. Ich hatte Angst, weil ich etwas nicht so konnte wie die anderen, und vor der riesigen Menge an Wasser, das mir zu viel war und eklig nach Chlor stank.
»Na los, spring rein«, forderte die Lehrerin mich auf.
Ich begann zu weinen. »Ich kann das mit dem Arm doch nicht«, schluchzte ich.
»Unsinn. Natürlich kannst du das«, beharrte sie.
Bevor ich mich weiter zur Wehr setzen und Worte der Erklärung finden konnte, hörte ich die anderen Kinder lachen und spürte plötzlich einen Stoß im Rücken, woraufhin ich nach vorne fiel und im Wasser landete.
Alles wurde schwarz um mich herum. Echte Todesangst durchflutete mich. Ich stellte mir vor, dass dies das Sterben war, von dem ich schon mal gehört hatte. Ich strampelte panisch mit den Beinen, schluckte dabei das ekelhafte Wasser. Es war der schlimmste Moment in meinem bisherigen Leben.
Glücklicherweise spürte ich auf einmal wieder den Boden unter meinen Füßen, konnte stehen. Schwer atmend und noch immer weinend musste ich erst einmal realisieren, was mir da passiert war.
Ich lebte also noch.
Und die Kinder lachten noch immer.
»So«, hörte ich die Lehrerin rufen, »und jetzt mach die Übungen von vorhin.«
Ich war entsetzt. Was hatte sie an meiner Erklärung nicht verstanden? War ich immer dazu verdammt, meine Unfähigkeit unter Beweis zu stellen? Na gut, dachte ich, soll sie sehen, dass ich nicht gelogen hatte, und versuchte es. Was nicht funktionierte, wusste ich vorher: Der rechte Arm ließ sich nicht anheben, er hing samt der Schulter und dem halben Kopf unter Wasser. So nützten mir die Schwimmübungen mit dem linken Arm rein gar nichts.
»Es geht nicht«, rief ich und watete unter Tränen zum Ausgang, ohne eine Antwort von ihr abzuwarten. Sollte man mich doch auslachen, ich war so wütend, dass ich es bewusst überhörte. Danach erzählte ich der Lehrerin, Schmerzen am Bein zu haben, da durfte ich mich bis zum Ende des Unterrichts auf die Bank setzen.
Das war so ein furchtbares Erlebnis, das mich prägte. Doch dem nicht genug. Ich erfand jede Woche neue Schmerzen, um nicht nochmal so sinnlos ins Wasser zu müssen.
Dabei vergaß ich, dass mein viele Jahre älterer Bruder an der Grundschule als Musiklehrer tätig war. Die Sportlehrerin wusste es und verpetzte mich.
So erfuhren es dann meine Eltern.
Die hatten tatsächlich kein Verständnis für mich. Über meinen kurzen Arm wurde nie gesprochen; der tat ja nicht weh. Ich sollte funktionieren, eine gute Schülerin sein und gute Noten nach Hause bringen, egal in welchem Fach, am besten in jedem. Wie oft hatte ich mir anhören müssen, dass sie beide die Möglichkeit nicht hatten und zur damaligen Zeit nur Lesen, Schreiben und Rechnen lernen konnten.
Das nützte mir wenig, denn ich verstand nicht, wofür ich überhaupt Schwimmen lernen sollte, wo es mir sowieso nicht möglich war.
Nach einer Woche des Überlegens stellte meine Mutter mir doch eine Befreiung für den Schwimmunterricht aus. Es war eine große Erleichterung für mich, denn wie schlimm ich mich gefühlt hatte, als man mich zum Gespött gemacht hatte, hatte ich für mich behalten; es war mir zu peinlich, es zu erwähnen. Auch hätten meine Eltern es nicht verstanden, das wusste ich, wenn Mutter schon so lange brauchte, um mir den befreienden Zettel auszustellen.
Man kann...