Schweitzer Fachinformationen
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Euston Station, 20.30 Uhr. Es ist Hochsommer, und ganz London schwitzt und dampft in den Fängen einer Hitzewelle. Die feierabendlichen Menschenmengen haben sich ausgedünnt, aber in der Bahnhofshalle geht es noch immer geschäftig zu, Gestalten in zerknitterter Kleidung starren auf die Anzeigetafeln, auf denen Abfahrtszeiten und Zielorte prangen. Familien scharen sich in Gruppen zusammen, Mütter fächeln ihren kleinen Kindern Luft zu und teilen Wasserflaschen aus, während sie wartend auf ihrem Gepäck ausharren. Ein überraschender Schwall Kokosnussduft wabert aus der hell erleuchteten Eingangstür von The Body Shop und mischt sich mit den säuerlicheren menschlichen Gerüchen Hunderter schwitzender Fahrgäste, die ankommen und abreisen, beladen mit Taschen und ihrem privaten, geheimen Ballast. Ein paar weggeworfene Abendzeitungen liegen auf dem Boden, vorübereilende Pendler und Urlauber trampeln darüber hinweg. Ein Polizist patrouilliert auf dem Bahnhofsgelände und hält dabei einen aufgeregten Schäferhund an der Leine. Gelegentlich bleibt der Beamte auf seinem Rundgang stehen, um sich Schweißperlen von der Stirn zu wischen.
Wir sind früh dran. Der Zug nach Fort William um 21.20 Uhr steht schon an der Anzeigetafel, aber ihm ist noch kein Bahngleis zugeteilt. Meine Tochter Ella zieht neben mir ihren rosa Koffer hinter sich her, als wäre er leer, ihre Schritte sind leicht. Mein eigener Koffer fühlt sich viel schwerer an. Wohl auch, weil diese Reise Ellas Idee war, nicht meine.
Ich blicke zu ihr hinüber, meinem Teenagermädchen, das in wenigen Wochen vierzehn wird, beobachte, wie sie stehen bleibt und erwartungsvoll zu der Uhr aufblickt. Ihre blassen Wangen sind vor Aufregung und von der Hitze an diesem Sommerabend gerötet, und ihr kastanienbraunes Haar fällt ihr ausnahmsweise in offenen Naturlocken auf die Schultern, anstatt wie sonst in geglätteten Strähnen, für die sie jeden Morgen eine Stunde früher aufsteht. Als Ella sich zu Weihnachten ein Glätteisen gewünscht hat, habe ich mich zuerst geweigert. Ich habe ihre Locken immer geliebt, schon seit sie ein Baby war und die ersten weichen Ringellöckchen sprossen. Ich werde mich immer an den süßen Talkumpudergeruch ihres Babykopfes erinnern und an das Gefühl, wie ihre Haare mich im Gesicht kitzelten, wenn sie früher nicht einschlafen konnte und zu mir ins Bett kam. Damals bin ich oft mit Ellas Gesicht an meiner Wange aufgewacht. Ihre rotbraunen Locken waren das Erste, was ich sah, wenn ich die Augen öffnete. Der Gedanke, dass Ella sie versengen könnte, ließ mich schaudern. Und dennoch blieb sie hartnäckig, was dieses Glätteisen anging, und bettelte zum ersten Mal in ihrem Leben um etwas. Also habe ich eines gekauft. Als sie das Geschenk aufmachte, warf sie beim Aufspringen beinahe den kleinen Weihnachtsbaum in unserer Wohnung um, bevor sie zu mir kam und sich mit einer innigen Umarmung bei mir bedankte. Das ist einer der Gründe, warum ich mich auf diese Reise eingelassen habe: Es ist erst das zweite Mal, dass sie mich wirklich um etwas gebeten hat.
Mein Haar hat denselben Farbton wie Ellas, aber es ist noch wilder - ich habe schon vor Langem den Versuch aufgegeben, meine Locken zu zähmen, und heute habe ich sie mir in einem unordentlichen Dutt aus dem Gesicht gebunden. Mein Nacken ist feucht von der Hitze und dem Rucksack auf meinem Rücken. Wie kann es sein, dass es so heiß ist? Um diese Uhrzeit sollte es eigentlich kühler sein, aber die Hitze klebt an mir.
»Sollen wir was zu essen kaufen, solange wir warten?«
Auf meine Frage hin blickt Ella mich an. Da ist Vorsicht in ihren Augen. Wir sind uns immer so nah gewesen: Wir beide gegen den Rest der Welt. Aber die vergangenen Tage haben uns auf die Probe gestellt wie nichts zuvor. Ich spüre, wie meine Gefühle unter der Oberfläche vor sich hin köcheln - Wut, Furcht, Trauer -, aber ich drücke sie nach unten wie Kleider in einem überfüllten Koffer. Auch wenn ich Zweifel an unserem Vorhaben habe, hier stehen wir nun. Letztlich habe ich dieser Reise meiner Tochter zuliebe zugestimmt. Aber vielleicht ist es für mich nach all den Jahren an der Zeit, an den Ort zurückzukehren, von dem ich einst geflohen bin, und mich all dem zu stellen, was ich zurückgelassen habe.
»Leon?«, frage ich und weiß natürlich, dass es ihr Lieblingsrestaurant ist. Ihre Lippen teilen sich zu einem breiten Lächeln, und da ist sie, eine dieser Liebesaufwallungen, die mich so oft unvorbereitet treffen, eine Liebe, die jede Zelle meines Körpers erfüllt und mir das Gefühl gibt, frei schweben zu können. Für eine Sekunde vergesse ich, warum wir hier sind und was uns am Ende unserer langen Reise erwartet, und hake mich bei meiner Tochter unter.
Ella wartet bei den Koffern, während ich mich in der Schlange anstelle. Vor mir steht eine Familie - zwei Großeltern, eine erwachsene Tochter und drei Kinder, eins im Buggy, eins auf der Hüfte der Mutter und eins an der Hand des Großvaters. Als ich sie beobachte, werde ich traurig.
»Bestellt euch, was ihr haben wollt«, sagt der Großvater und greift nach seinem Portemonnaie.
»Danke, Dad«, antwortet die Tochter mit einem müden, aber dankbaren Lächeln.
Ich sehe weg und blinzele schnell.
»Nächster bitte!«, ruft die Frau hinter dem Tresen, und ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Speisekarte. Ich entscheide mich für zwei Wraps mit Halloumi und die Waffle Fries, die Ella so liebt. Kurz darauf kehre ich mit einem gefüllten Tablett nach draußen zurück. Ella wischt gerade mit einem Papiertaschentuch Essensreste und Müll vom Tisch. Von hier oben können wir die Bahnhofshalle sowie die Gleisanzeigen unter uns sehen. Ich höre das Rauschen der Straße draußen, wo die Busse vor dem Bahnhof halten und der Freitagabendverkehr die Euston Road entlangkriecht. Selbst hier drin hat man das Gefühl, die Luft sei von Abgasen und Staub erfüllt: von dem heißen, schweren Mief der Stadt, an den ich mich in den letzten zweiundzwanzig Jahren gewöhnt habe.
Ich bin als Teenager hierhergezogen, mit einem gestohlenen Koffer und einem Kopf voller Träume. Doch dann habe ich schnell erfahren, wie brutal die Stadt sein kann, besonders wenn man allein ist und bloß ein paar Hundert Pfund in Münzen und aufgerollten Scheinen im Rucksack hat. Ich nahm jeden Job an, den ich finden konnte, Aushilfsjobs, jahrelang habe ich in Bars gearbeitet. Erst als ich mit sechsundzwanzig mit Ella schwanger wurde, habe ich entschieden, dass ich einen ernsthaften Beruf brauche, und ein Lehramtsstudium begonnen. Dabei halfen mir ein saftiger Studienkredit und die Sozialwohnung, die ich in einem Wohnblock aus den Sechzigern für uns ergattern konnte, auf der Isle of Dogs, der von der schlammigen Themse umspülten Halbinsel, von der aus man die glänzenden Hochhäuser des Canary Wharf protzig am Horizont schimmern sieht. Über die Jahre konnte ich gerade genug Geld sparen, um der Stadt die Wohnung abzukaufen, obwohl mich immer noch jeden Monat die Panik überkommt, dass ich meine Hypothekenrate nicht bezahlen kann. Ich schaffe es jedes Mal, aber die Furcht ist da, inzwischen so vertraut wie das Geräusch meines eigenen Atems. Ich habe mir immer Sorgen um Geld gemacht. Wenn nämlich etwas passiert - wenn ich krank werde oder der Boiler kaputtgeht oder ich plötzlich etwas Wichtiges für Ella kaufen muss -, gibt es niemanden, der uns über die Runden hilft. All das und vieles andere ist im Laufe der Jahre vorgekommen, und jedes Mal musste ich allein eine Lösung finden.
Ellas Telefon summt, und sie blickt nach unten, wobei ihr das Haar ins Gesicht fällt. Sie lächelt und tippt eine Antwort, ihre Daumen fliegen mit unglaublicher Geschwindigkeit über das Display.
»Ruby und Farah?«, frage ich. Die beiden Mädchen sind seit der Grundschule Ellas beste Freundinnen. Für mich gehört es zur Normalität, sie in unserer Wohnung dabei anzutreffen, wie sie sich Snacks zubereiten, ihr Gelächter aus Ellas Zimmer zu hören. Ich weiß, es wirft ein schlechtes Licht auf mich als Mutter, aber in all den Jahren haben mir diese Geräusche immer wieder eifersüchtige Stiche versetzt. Ich beneide Ella tatsächlich um ihre engen Freundschaften. Ich habe den Kontakt zu meinen Freunden verloren und mich seitdem schwer damit getan, neue Freundschaften zu schließen. Das hätte nämlich bedeutet, zu viele Fragen zu beantworten und zu viel über mich und meine Vergangenheit preiszugeben. Es ist einfacher, für mich zu bleiben und mein Leben Ella und der Arbeit zu widmen. Im Großen und Ganzen habe ich mich über die Jahre daran gewöhnt, aber manchmal spüre ich die Einsamkeit wie einen Splitter im Fleisch.
»Nein«, antwortet Ella und blickt auf. »Molly.«
Bei dem Namen krampft sich mein Magen zusammen, meine Brust wird eng. Der Grund dieser Reise kommt mir wieder in den Sinn und wirft mich aus der Bahn. Ist es zu spät, umzukehren und nach Hause zu fahren? Wir könnten die Tube nehmen und in weniger als einer Stunde wieder in unserer Wohnung sein. Und dann könnten wir den Sommer so verbringen, wie wir es ursprünglich geplant hatten - in Galerien und Eiscafés gehen und in Parks Zeitschriften lesen....
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