Schweitzer Fachinformationen
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Der Mittwoch Anfang November begann mit dem für die Jahreszeit typischen Herbstwetter, als wolle zäher Nebel alles Tragische verdecken, was am Ende des Tages über die Familie mit den beiden Töchtern hereinbrechen sollte. Aber nichts warnte die Familie vor, die annahm, es sei ein ganz normaler Schul- und Arbeitstag, der zu durchleben wäre wie jeder andere Tag auch. Die Mutter weckte ihre Töchter. Während der Verrichtungen in der Küche konzentrierte sie sich mit einem Ohr auf den Flur, um nebenbei zu kontrollieren, ob die Mädchen aufgestanden und ins Bad gegangen waren. Sie deckte den Tisch, servierte Kakao oder Saft, je nach Wunsch, und rief immer mal wieder die Uhrzeit durch die Küchentür in den Flur. Dieses Ritual des morgendlichen Antreibens hasste sie. Sie kam sich dann immer wie die Fahrerin eines Autos vor, in dem sie die Familie durchs Leben kutschieren und besonders am Morgen so viel Gas geben musste, dass der Schwung für den Rest des Tages reichte.
Die Mutter hatte die Pausenbrote geschmiert, alles für die Schultaschen verpackt und dabei stets den Kontrollblick auf die Uhr behalten.
«Frederike, schnell, der Bus kommt gleich. Hier, deine Pausenbrote. Denk an die Chorprobe heute Abend. Du rufst mich an, wenn ihr fertig seid?»
Frederike und ihre ältere Schwester waren Fahrschülerinnen und auf den Bus angewiesen, der morgens, mittags und am späten Nachmittag fuhr. Wenn eine Veranstaltung jedoch länger dauerte, Proben für das Schulfest oder Chorproben in der Kantorei anstanden, dann war auf die Buslinie auf dem Land kein Verlass. Fuhr kein Bus mehr, war das Familientaxi gefragt.
Wie immer war es knapp, die beiden Mädchen mussten laufen, doch wie jeden Tag schafften sie es auch an diesem Morgen, rechtzeitig zum Bus zu kommen.
Meistens war es die Menschentraube an der Bushaltestelle, die für ein ausreichendes Zeitpolster sorgte, denn bis alle eingestiegen waren, vergingen ein paar Minuten. Für die Letzten gab es allerdings keinen Sitzplatz mehr. Das hieß, stehen, festhalten und keine Chance, ein Buch zum Vokabellernen aufzuschlagen oder aus dem Heft des Sitznachbarn Hausaufgaben abzuschreiben. Manchmal hielt Isabelle, die zwei Haltestellen früher einstieg, Frederike einen Platz frei, aber das klappte nicht immer. Ältere Schüler aus der Oberstufe nutzten das Recht des Stärkeren und ignorierten das Freihalten. Nur die kleineren Schüler gingen maulend weiter und akzeptierten den Schulranzen von Isabelle auf dem freien Sitz neben ihr. Doch in dieser Woche fehlte die Freundin, sie lag mit einem grippalen Infekt im Bett.
Nach dem Unterricht fuhr Frederike mit dem Bus zurück und aß zu Hause zu Mittag. Sie setzte sich anschließend in ihr Zimmer, um ihre Hausaufgaben zu erledigen und für die Mathearbeit am nächsten Tag zu lernen. Durch die Chorprobe am Abend würde ihr später dafür die Zeit und die Lust fehlen. Sich nach einem vollen Tag noch spät abends an den Schreibtisch zu setzen? Nein, da mochte sie schon eher die Lieblingsserie im Fernsehen oder einen Spielfilm auf dem Videorekorder, den ihre Mutter besorgt hatte, schauen.
«Du musst mir noch zwanzig Pfennig geben», forderte Frederike nachmittags, als es Zeit war, den Bus in die Stadt zu nehmen.
«Ja, ich schau, ob ich es passend habe.» Ihre Mutter angelte in der Schublade nach dem Portemonnaie. Das Klimpern klang schon mal gut. Sie fischte zwei Groschen heraus, die Frederike in die Hosentasche ihrer weißen Latzhose steckte. Sie hatte sich nach der Schule umgezogen, die Jeans gegen eine Latzhose getauscht, die Unterwäsche gewechselt und einen mittelblauen Pullover angezogen. Vor dem Flurspiegel kämmte sie sich noch durch die kurz geschnittenen blonden, leicht ins rötlich gehenden Haare. Jetzt, Anfang November, war vollends die letzte Bräune aus der Urlaubszeit verschwunden und mit ihr verblassten auch die wenigen Sommersprossen. Gegen 16.30 Uhr fuhr sie mit dem Bus wieder zurück in die Stadt. Mittwochs, so auch an diesem 4. November 1981, hatte sie in der Stadtkantorei Chorprobe, die gegen 19.30 Uhr endete. Anschließend ging sie mit einer Freundin und Mitsängerin in die Bahnhofsstraße, wo sie sich verabschiedeten. Der letzte Bus ins Heimatdorf war längst gefahren. Die Freundin sah noch, wie Frederike die Tür der Telefonzelle in der Bahnhofstraße öffnete und zum Hörer griff. Mit der freien Hand warf sie die zwei Groschen ein und wählte. Vermutlich war niemand zu Hause oder die Leitung besetzt, denn Frederike beschloss anschließend nach Hause zu trampen. Über die Gefährlichkeit des Trampens war schon öfter diskutiert worden, nicht nur mit ihrer Mutter, auch mit einem Lehrer sprach Frederike gelegentlich über das Fahren per Anhalter. Durch die Lage auf dem Land war es die einzige Gelegenheit nach Hause zu kommen, wenn die Eltern sie nicht abholen konnten. Frederike hatte sich selbst Regeln aufgestellt, die sie ihrer Mutter und auch dem Lehrer mitteilte, vielleicht, um in erster Linie sich selbst zu beruhigen, aber auch den anderen ihre Sorge zu nehmen. Zunächst, und das war ihre erste Bedingung, wollte sie nur in Autos einsteigen, die Nummernschilder aus dem Heimatkreis hatten. Die zweite Regel war, es sollten darin nicht mehr als zwei Personen sitzen. Um im Notfall schnell aussteigen zu können, wollte sie sich als dritte Schutzvorkehrung nicht anschnallen. Sollte der Autofahrer zudringlich werden, wollte sie auf ihn einreden, deeskalierend wirken und ihm ins Gewissen reden. Bisher hatte sie mit ihren selbst aufgestellten Voraussetzungen für gefahrminimiertes Trampen Erfolg gehabt. Passiert war ihr nie etwas, keine Aufdringlichkeiten, wenn auch das Telefonat nach Hause und das Abholen durch die Eltern weit häufiger waren als das Trampen. Allerdings hätten die selbst aufgestellten Regeln nur dann ihre Wirkung entfalten können, wenn es an diesem Novemberabend eine vernünftige Auswahl gegeben hätte. Je länger sie in der klammen Kälte auf einen anhaltenden Wagen warten musste, desto nachgiebiger hielt sie sich ihre Bedingungen vor Augen. Irgendwann an diesem Abend fuhr ein sportlicher BMW 1602 an ihr vorbei und verlangsamte das Tempo. Der Fahrer drehte den Kopf zu ihr, musterte sie, ließ die Bremsleuchten aufflammen, setzte den Blinker rechts und hielt am Fahrbahnrand an. Frederike schaute auf das Nummernschild. Es war eines aus ihrem Landkreis. Das passte. Sie lief zu dem Wagen hin, öffnete die Beifahrertür, fragte nach dem Ziel, verstand den Fahrer nicht sofort und nannte stattdessen ihre Adresse. Hinter dem Steuer saß ein junger Mann. Sein Nicken konnte sie nur schemenhaft erkennen, da sein Kopf und Oberkörper wie ein schwarzer Scherenschnitt vor dunklem Hintergrund nur schwer zu erkennen waren. Der leere Beifahrersitz war durch den Schein einer Straßenlaterne ausgeleuchtet, doch die Fahrerseite lag im Dunkeln. Dennoch, das warme goldgelbe Licht der Laterne, das auf den Beifahrersitz fiel, wirkte wie eine Einladung, und Frederike setzte sich und zog an der Armlehne die Tür des Wagens zu.
Der junge Mann besaß den Wagen erst seit einem Vierteljahr. Vom ersten Gehalt hatte er ihn sich gekauft, natürlich gebraucht und nicht neu. Es war ein schicker Wagen für einen jungen Fahrer, der erst etwas über zwanzig Jahre alt war. Vielleicht fühlte er sich einen Moment lang mit Frederike auf dem Beifahrersitz, als säße seine Freundin neben ihm, wie jemand, der es geschafft hatte, einen Beruf zu haben, einen schicken, schnittigen Wagen zu besitzen und zu allem eine junge hübsche Frau neben sich an der Seite zu sehen. Vielleicht spürte er kurze Zeit später, dass es mit der harmonischen Vorstellung einer jungen hübschen Frau als Begleiterin nicht passte, weil sie bald wieder aussteigen und er sie nicht würde besitzen können, so, wie er den BMW besaß. In diesem Moment musste er wohl den verhängnisvollen Plan entwickelt haben, sich mit Gewalt das zu holen, was für ihn nicht erreichbar war. Er fuhr wieder an und steuerte den Wagen zunächst in die Richtung von Frederikes Heimatort. Sie versuchte, ein Gespräch zu beginnen und fragte, wohin er selbst fahren müsse. Er murmelte undeutlich. Frederike hakte nach. Wieder nuschelte er, aber sie glaubte, einen Ort hinter ihrem Zuhause herausgehört zu haben. Auf jeden Fall war es ihre Richtung. «Ich hatte Chorprobe», sagte sie. «Mein Musiklehrer meinte, meine Stimme wäre ganz okay, na ja, vielleicht klappt's mal für eine Girls-Band. Für Suzi Quattro wär's ausreichend, meinte meine Freundin. Mal sehen, was kommt. Meistens haben wir für eine Band interessierte Nachfragen von fünf Sängerinnen und zehn Gitarristen. Aber keinen Bass, Schlagzeuger, Keyboarder. Du spielst kein Instrument, stimmt's?»
Wieder kam keine Reaktion. Komischer Kauz, dachte sie.
Solange ihr der Erzählstoff nicht ausging, fühlte sie sich sicher. «Finde ich toll, dass du gehalten hast», sagte sie, «die Busse sind ein Gräuel, ich meine, nicht die fahren, sondern die im Depot bleiben. Morgens, mittags, dann nochmal am Nachmittag, aber dann ist Schluss. Und wir auf dem Dorf werden abgehängt. Da ist Trampen die einzige Lösung, wenn die Eltern nicht können, so wie heute Abend. Na ja, die Hälfte haben wir schon, oder?»
Sie schaute nach links, aber der junge Kerl zuckte nicht, sah geradeaus, schien voller Stolz auf seinen teuren Wagen zu sein. Frederike musterte ihn, aber im Dunkeln blieb er die Silhouette, der schwarze Scherenschnitt, den sie bereits beim Einsteigen wahrgenommen und dessen Kontur noch nichts Plastisches angenommen hatte. Wortkarg war er, dachte sie, wenn sie das Murmeln und Nuscheln zwischendurch überhaupt als Wortbeitrag zählen konnte. Ihn zu beschreiben hieß, alles das aufzuzählen, was er nicht war. Gesprächig, nett, zuvorkommend - wenn sie sein...
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