Schweitzer Fachinformationen
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Ein Flaneur erzählt in Reportagen und Essays Geschichten aus Berlin. Aus Montagen der Zeit- und Ortsungleichheiten schimmert in diesen Geschichten die Geschichte, the spirit of the city, der Bewohner wie Touristen erfasst, wenn sie durch ihre Stadt gehen. Die Perspektiven des Autors sind bisweilen ungewöhnlich wie auch manche Orte und Menschen in der Stadt, über die er schreibt.
Er zieht nicht los, um nur zu besichtigen. Er zieht los, um sich von den Dingen ansprechen zu lassen. Das erzählende Ich tritt hinter dem zurück, was ihm erzählt wird. In Berlin ist vieles übereinander, nebeneinander, untereinander gebaut worden. Vieles erscheint potthässlich, vieles wunderschön. Den Steinen ist es gleichgültig, wer und was neben ihnen oder hinter ihnen steht, wie sie benutzt werden, welchen Eindruck sie machen. Sie fügen sich zu Schichten der gebrochenen Ästhetik, die typisch für diese Stadt ist. Doch sie sind keine Zufälle des Augenblicks. Orte der Stadt werden in Beziehung zu ihren Menschen und Geschichten gestellt. Dadurch werden Brüche deutlich, werden Wahrnehmungen mit Bedeutungen verbunden, die hinter ihnen stehen. Sichtbare Oberflächen geben die hinter ihnen ruhende oder brodelnde Geschichte preis.
Die Brüche haben eine eigene Faszination. Sie ziehen die Menschen an, lenken die Wahrnehmung auf sich. Anders ist es nicht zu verstehen, dass es so viele Touristen und neugierige Menschen nach Berlin zieht, die sich hier ein neues Lebensfeld versprechen. Es gibt natürlich reichlich zu besichtigen. Aber es gibt so viele Städte, deren Erscheinungsbild grandioser ist, die geprägt sind vom Jahrhunderte langen Wachsen ihrer Kulissen, in denen die Gebäude fließender zueinander finden, ihre Bewohner über viele Jahrhunderte das Erbe ihrer Ahnen übernommen haben. Das sind die Städte, in die man gerne zum Besichtigen fährt, weil einem Harmonien der Kontinuität und der Reichtum ungestörter Entwicklungen begegnen. Die Geschichte ist mit Berlin anders umgegangen als mit Paris, London oder Rom. Das spürt man bereits auf den ersten Blick. Es gibt auch Spuren aus der alten Zeit Europas. Aber geprägt ist Berlin durch die Beschleunigungen des städtischen Lebens im 19. und 20. Jahrhundert. Die zeigen sich in ihren Widersprüchen und in ihren verbindenden Linien.
Die vergleichsweise erst spät entstandene Stadt ist wie eine riesige Lagerstätte für die Archäologie der Geschichte. Sie ist nicht abgetaucht in museale Räume. Sie spricht quirlig und ungestüm aus den gegenwärtigen Versuchen der Bewohner, die meistens keine Ahnenreihen in ihren Wohnungen kennen, sich ihre Stadt neu machen. Aus diesem Laboratorium Berlin sind die Geschichten entstanden, die ein paar Fenster öffnen, hinter denen Geschichte aufleuchtet. Die Brüche in der Stadtlandschaft sind das Werk ihrer Geschichte. Schönheit und Hässlichkeit ihrer Straßen und Häuser liegen oft schamlos dicht nebeneinander. Putten tragen einen Balkon und müssen neben sich kalte Wände mit Fensterlöchern erdulden. Dem Betrachter erzeugen sie ein Wechselbad der ästhetischen Gefühle.
Hinter diesem Nebeneinander treiben Wurzelwerke der Vielfalt ihrer meistens neu zugezogenen Bewohner, mit denen sich die Stadt ihre Zukunft schafft. Es gibt nicht nur die Communitys unzähliger ethnischer Gruppen. Es gibt sie auch unter den Schwulen, als Mehrgenerationen-Gemeinschaften, in religiösen Gemeinden. Oft wohnen sie unter einem Dach, teilen sich die Straßen, kaufen in den gleichen Supermärkten und Läden.
Hinter den Brüchen flackern Lichter immer neuer Aufbrüche des Berlingefühls. Erst langsam zieht es die vielen Einzelnen in einen Sog.
Eine eigene Art der Wirtschaft schafft Dynamik. Analytiker vermessen die Entwicklung in komplexen Zahlenwerken. Die Richtung geht nach oben. Viele reiben sich die Augen, was in alten Fabriken oder Gewerbehöfen geschieht, experimentiert und geschaffen wird, in denen einst das Proletariat malochte. Die Stadt durchmischt ihre Bewohner gerade wieder neu. Die Bewohner bedienen sich der Stadt. Berlin als Zentrum für – eine Ergänzung dieses Satzes hat unzählige Varianten.
Nur als Zentrum, als Hauptstadt von Deutschland hat es Berlin schwer. Sein Rechtsstatus ist Bundesland und Hauptstadt. Als Bundesland ist es in der misslichen Situation, für alle seine Hinterlassenschaften, für die kulturellen und wissenschaftlichen Einrichtungen in der Stadt selber aufkommen zu müssen wie die Stadtstaaten Hamburg und Bremen. Aber als Hauptstadt hat sie davon ungleich mehr, teilweise glänzend und teuer, eine Hinterlassenschaft aus den Zeiten, als die Deutschen in ihr ihre Hauptstadt akzeptierten und stolz darauf waren. Da gab es als größtes Land in Deutschland noch Preußen, das fast alle diese Einrichtungen finanziell unterhielt, wie das Sachsen für Dresden oder Bayern für München noch heute tun. Preußen ist 1945 abgeschafft worden. Nun muss das Land Berlin die Stadt Berlin überwiegend allein finanzieren.
Die Schulden sind aus der Vergangenheit hoch gewachsen, und die Bundesländer ärgern sich über den hohen Finanzausgleich für das Land Berlin. Das sind die denkbar schlechten Rahmenbedingungen für eine Hauptstadt eines reichen Landes, die über die deutschen Grenzen hinaus eine größere Ausstrahlungskraft entwickelt als innerhalb Deutschlands.
Das preußische Berlin, das kaiserliche Berlin, die Metropole der Weimarer Republik, die Zentrale der Nazizeit, die Viermächtestadt, die Mauerstadt mit ihren Ost–West-Berührungen – diese Zuweisungen epochaler Identifikationen gelten in ihren kurzzeitig einbindenden Eindeutigkeiten nicht mehr.
Eine dem föderalen Deutschland angemessene Hauptstadtrolle in einem großen Europa und in den globalen Netzen von Wirtschaft und Kulturen haben die Berliner noch nicht gefunden. Berlin ist zwar wieder die Hauptstadt von Deutschland, aber das bewegt nicht die Türken in Kreuzberg, die in blitzsauberen Büros große Handelsgeschäfte dirigieren, nicht die Theatergruppe, die im Wedding ihre materielle Existenz ohne Förderung sichern muss, nicht die Projektgruppe mit 34 Mitgliedern aus acht Ländern, die sich für die geschäftliche Nutzung ihrer 23 technischer Patente gebildet hat.
Weit ausladend mitten in der Mark Brandenburg ist Berlin auf dem Weg zu einer neuen Stadt, regiert sich selbst wie ein Bundesland und bleibt immer weniger – im Vergleich zu anderen Städten – eine typisch deutsche Stadt. Ethnisch, kulturell und sozial entstehen neue Binnenräume. Nur Romantiker empfinden das bunte Treiben als Ausdruck einer neuen Multikultifolklore.
Was für die Steine gilt, gilt auch für die Menschen: Sie leben mehr nebeneinander als miteinander. Aber auch sie schlagen ihre Wurzeln in geschichtlichen Boden. Die Geschichte nährt sie sehr unterschiedlich, erzeugt die vielen Berlingefühle. Die statistischen Daten sind nur ein blasser Hinweis, wie verschieden die Stadt Gefühle und Blickfelder mit Lebensgeschichten auffüllt. Die Kräfte sind schwächer geworden, die Gleichschritt erzwingen, gleiche Ausrichtung der Augen bewirken und verbindliches Fühlen erwarten können.
Sobald die Stadt ihre neuen Menschen einsaugt, zieht sie die Zugezogenen in ihre Geschichte, macht aus ihnen Bewohner der Stadt. Die Buntheit erzeugt neue Brüche, verändert das ästhetische Erscheinungsbild, treibt in Widersprüche und in neue Utopien. Es verbindet aber auch und schreibt – noch chaotische Gegenwart – ein neues Stadtkapitel für die vor ihr liegende Zukunft. Berlin wird wieder Hauptstadt werden mit neuen Identitätsmustern nach Innen und nach Außen.
Es gibt so viele Fassaden, aus denen Geschichte und Geschichten schauen, die erahnen lassen, was als Vielfalt der baulichen und sozialen Räume empfunden wird, die eine Stadt prägen. Von ihnen muss man sich erzählen lassen. Was man erfährt, sieht und beobachtet, weitet sich in Perspektiven der Ferne und der Nähe, der Vergangenheit und der Zukunft. Dann werden Geschichten zu Übersetzungen der Sprache von Steinen, Häusern, Plätzen und Menschen. Dann werden Lebensräume als Geschichten mit Geschichte lebendig. Eine Wohnung gehört zu einem Haus, das Haus zur Straße, die Straße ist Teil des Kiezes, der in einem Bezirk gelegen seine eigene Geschichte und Bedeutung für die Stadt als Ganzes einbringt.
Die Lebensräume haben ihre eigenen Biografien, die sie so unterschiedlich gemacht haben. In ihren Biografien finden sich aber auch ihre Brüche, die sie alle gemeinsam haben. Es sind die Ruinen, Zustände der Zerstörung und der Erneuerung, die am gleichen Platz Aufstieg und Fall, Kommen und Gehen, Schreien und Schweigen bezeugt haben.
Städte verbergen ihre tiefere Geschichte in ihren Ruinen und hinter den Kulissen, die sie aus ihnen geschaffen haben. Wirkliche Ruinen gibt es in Berlin kaum noch. Aber da steht Vieles in Stein gebaut, das Zerbrochenes, nicht mehr Anschaubares und Erlebbares birgt. Taucht man durch die augenblicklichen Fassaden in die Ruinen ein,...
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