Schweitzer Fachinformationen
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Meine Nonna trägt immer Schwarz. Seit ich denken kann. Wenn ich sie im Sommer in Süditalien besuche, habe ich kurzärmelige Hemden und Shorts, Badehose und Flip-Flops in meinem Koffer. In Mattinata, dem Geburtsort meines Vaters, erwarten mich Sonne, Meer und weiße Adriastrände. Und meine Nonna in schwarzer Kluft.
Als kleiner Junge konnte ich diese dunkle Gestalt, von der es hieß, sie sei meine Oma, nur schwer einordnen. Mit Beginn der alljährlichen Sommerferien lebte ich plötzlich zusammen mit meinen Eltern und meinen beiden Schwestern unter ihrem Dach. Ihr Andersseins spürte ich bereits, bevor mir bewusst wurde, dass sie eine andere Sprache sprach als meine Verwandten in Deutschland.
Die längste Zeit des Tages saß sie in ihren vielschichtigen Kleidern auf einem Stuhl: vom Kopftuch, das ihr kurzes, silbergraues Haar bedeckte und ihre hängenden Augenlider einfasste, bis hinunter zum Rocksaum, unter dem dicke schwarze Wollstrümpfe und ausgetretene Hausschlappen hervorschauten. Sie betete, verrichtete Hausarbeiten, verteilte Aufträge. Ihr fokussierter Blick folgte meinen Bewegungen und dem Geschehen in der Wohnung wie ein Schatten.
Mein Nonno starb, als ich sieben Jahre alt war. Fortan dachte ich, meine Nonna trüge Schwarz aus Trauer über den Verlust ihres Mannes. Längst hatte ich den Trauerflor auch bei anderen Frauen in Mattinata bemerkt. Übers ganze Dorf verteilt saßen sie auf Holzstühlen vor den weißen Häusern. Allein, in Zweier- oder Dreiergruppen hockten sie da wie Krähen auf der Stange, schwatzten und hüteten das Gedenken an die Verstorbenen.
Später wurde mir klar, dass meine Nonna dieselbe Rolle in der Dorfgemeinschaft einnahm wie sie: die der ehrbaren Witwe, die die Trauer als christliche Lebensform praktiziert. Doch warum hatte sie den Kleiderwechsel schon vor dem Eintritt in die Witwenschaft vollzogen? Warum hatte sie bereits Schwarz getragen, als ihr Mann noch lebte?
Im Ort sah man sie selten. Meine Nonna blieb im Haus. Statt draußen vor der Tür saß sie fast immer drinnen in ihrer Wohnstube. Und wie sie so dasaß in dem hohen Raum vor einer kalkweißen Wand, die Hände in den Schoß gelegt, hatte sie etwas von einer Statue an sich. Noch in meiner Jugend, in der ich selbst eine schwarze Phase existentieller Trostlosigkeit durchlief, starrte ich sie manchmal wie gebannt an. Sie kam mir wie ein Relikt aus der Vergangenheit vor, eine Frauenfigur, die mir unbekannte Zeiträume durchlebt hatte, eine Hüterin dunkler Erinnerungen.
Abgesehen von meiner Nonna ist das Italien meiner Kindheit in blaues Licht getaucht. Ich schaue auf Sommerwochen am Meer zurück, in denen ich mit meiner Luftmatratze auf den Wellen ritt und unter ihnen hindurchtauchte. Unermüdlich ließ ich mich von der Brandung ans Ufer spülen, um mich herum wirbelnde Luftblasen, das Rasseln der Kieselsteine, badende Kinder. An Mattinatas Stränden fühlte ich mich geborgen.
Frage ich meine Nonna nach einem Ort, nach dem sie sich sehnt, hat sie nicht das Meer vor Augen. Sie trägt keinen Sommer in sich, sondern das verblichene Bild einer frommen Mutter, mit der sie als kleines Mädchen gemeinsam betete. Ihre Mutter, die ihrerseits ohne Mutter aufgewachsen war und schon als junge Frau Schwarz getragen hatte, starb kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs, als meine Nonna gerade sieben Jahre alt geworden war. Über fast ein Jahrhundert hinweg hat sie sich mit ihr verbunden gefühlt. »Wenn ich noch einmal zu leben hätte, würde ich ins Kloster gehen.«
2
Wieder nähert sich der Bus dem Gargano, dem Sporn des italienischen Stiefels. Hinter mir liegt die fruchtbare Ebene von Foggia, ein schier endloses Tafelland, in dem knapp die Hälfte der Tomaten reifen, die die Italiener Jahr für Jahr konsumieren. Vor mir ein Kalksteinmassiv, das steil aus der Ebene emporragt. Irgendwo dahinter muss das Meer sein.
Das weiße Gebirge, ausgewaschen vom gleißenden Licht, bildet einen Riegel zur Adria, als wäre es nachträglich ans Festland gesetzt worden. Tatsächlich gehört der Gargano, geologisch gesehen, nicht zum Apennin, sondern zum westlichen Balkan. Schon vor zwanzig Millionen Jahren, als weite Teile Italiens noch unter Wasser lagen, schaute er aus dem Meer heraus.
In völliger Abgeschiedenheit entwickelte sich hier eine ganz eigenartige Flora und Fauna. Wissenschaftler haben im Gargano die Überreste eines Fünfhorns gefunden sowie die eines gigantischen Igels, so groß wie ein Wildschwein. Es war eine Insel wundersamer Kreaturen, die nach und nach verschwanden, als das Mittelmeer vor fünf Millionen Jahren austrocknete.
Seinen Inselcharakter hat der Gargano bis heute bewahrt. Seine entlegenen Bergdörfer sind Orte heidnischer Kulte und des Mönchtums, der Erscheinung von Erzengeln und Heiligen mit Stigmata. Über Straßen, die sich an steilen, kargen Hängen entlangwinden, ziehen Jahr für Jahr Abertausende Pilger zum Grottenheiligtum auf dem Monte Sant' Angelo und zur ehemaligen Wirkungsstätte Padre Pios, jenes wundmaltragenden Kapuzinermönchs aus San Giovanni Rotondo, der zu Italiens populärstem Heiligen avanciert ist.
Der Bus schlägt eine andere Richtung ein als die Wallfahrer. Seine Route führt nicht in Serpentinen hinauf ins Gebirge. Anders als noch in meiner Kindheit, als wir uns über ehemalige Eselspfade in langsamer Kurvenfahrt bergan in den Karst bewegten und der Küste später von oben entgegenrollten, das Blau der Adria mal rechter Hand, dann wieder linker Hand vor Augen, läuft die Straße heute geradewegs auf einen kilometerlangen Tunnel zu.
Plötzlich wird es dunkel wie vor Beginn eines Kinofilms, wenn der Vorhang zugezogen wird. Hinter mir erlischt Italien. Und noch ehe mein Herz am anderen Ende des Tunnels angelangt ist, wo das Dorf Mattinata aufscheinen wird, fliegen mir die alten Geschichten entgegen, als wären Vergangenheit und Gegenwart nur durch diesen schmalen Stollen voneinander getrennt: erinnerte Geschichten aus Kindheit und Jugend, in denen ich jeweils für etwa drei, vier Wochen im Jahr einer anderen Welt angehörte, die dann die restlichen elf Monate in mir fortlebte. Weitererzählte Geschichten, die von Aufbruch und Ausharren handeln, von Männern, die von Mattinata fortgingen, und Frauen, die blieben. Geschichten von Entfremdung und Einsamkeit.
»Wann kommst du wieder?«
»Wir sehen uns im September.« Zu einer Jahreszeit, in der Feigen und Kaktusfrüchte reifen und der Ort sich fürs Patronatsfest schmückt, in der die ersten Strandbars abgebaut werden und die Sommerresidenzen sich allmählich leeren.
Es ist die alljährliche Reise zu meiner Nonna, die sich nie von ihren Traditionen entfernt hat. Sie ist fest eingebunden in die Geschichte des Gargano, verstrickt in tausend Angelegenheiten, von denen sich mein Vater, mein Großvater und meine Urgroßväter durch einen neuen Anfang in der Fremde losmachen wollten. Drei Männergenerationen, die sich mit einem Koffer voller Hoffnungen ins Offene hinausbegaben.
Meine Nonna hat sie alle überlebt. Sie ist die Einzige, die mir noch von meinen Urgroßvätern erzählen kann, die das Dorf und die Landarbeit hinter sich ließen, um ihr Glück in Amerika zu suchen; vom Aufbruch meines Nonno, den es noch spät in seinem Leben, in den 1960er Jahren, nach Deutschland zog, wo Handwerker wie er gesucht waren; und vom Weggang meines Vaters, der Mattinata bereits mit achtzehn verließ und dessen frühen Tod meine Nonna genauso wenig verwunden hat wie ich.
Mein Vater hatte immer nur Deutsch mit mir gesprochen. Meine ganze Kindheit und Jugend über war ich weder imstande, meine italienischen Verwandten zu verstehen, noch, mich ihnen verständlich zu machen. Mit Beginn meines Physikstudiums belegte ich dann Italienischkurse an der Universität Bonn, las Bücher italienischer Autoren und schrieb mich für ein Studienjahr in Bologna ein, um das Land meiner Vorfahren kennenzulernen, von dem ich bis dahin kaum mehr als eine 6000-Seelen-Gemeinde an der Adriaküste gesehen hatte.
Das fette, gelehrte Leben alla bolognese glich in keiner Weise dem kargen, ländlichen Leben in Mattinata. Außerhalb der Vorlesungszeiten jobbte ich für eine Zeitarbeitsagentur, lief als uomo sandwich, als wandelndes Werbeplakat, durch die Arkaden der Bologneser Innenstadt, half Menschen bei Umzügen und Renovierungen. Mit meinen Ersparnissen ging ich auf Reisen, fuhr nach Padua und Venedig, Florenz und Rom, Siena und Neapel und dann per Anhalter bis hinunter nach Palermo, mit dem Schiff nach Stromboli und Lampedusa, um irgendwann wieder im Gargano, dieser einzigartigen Bergregion, dem schönsten Abschnitt der italienischen Adriaküste, anzukommen, vor meiner schwarz gekleideten Nonna zu sitzen und enttäuscht festzustellen, dass wir uns nach wie vor kaum verständigen konnten.
Kurz vor Abschluss meines Studiums starb mein Vater. Unmittelbar nach seiner Beerdigung im Rheinland fuhr ich nach Mattinata, mitten im Winter, diesmal auch ich in Schwarz, bereit, mit seiner Mutter zu trauern, und gewillt, das Familiengedächtnis wachzurufen, das meine Nonna mit sich herumträgt. Wie schon bei vorherigen Besuchen schnappte ich nur Satzbruchstücke auf, stieß aber auf ein Wörterbuch, das auf Mattinata und den Gargano eingegrenzt ist.
Mit diesem schmalen Bändchen machte ich mich daran, mir die Sprache meiner Nonna anzueignen, einen aussterbenden Dialekt. Ich erfuhr, dass das Verb azzuppé, das sie häufig verwendet, im Italienischen guadagnare (verdienen) bedeutet. Das mattinatesische fatijé steht für lavorare (arbeiten), meine Nonna sagt vagnune anstelle von...
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