Die Pinguine und der Wein
Wir: ganz klein, ganz bleich, ganz unten. Der Wind umtost heulend unseren stillgelegten Bunker am Ende der Welt - am Kap der Guten Hoffnung. So sollte es sein! Wir stehen am Anfang der Verwirklichung unseres überdimensionalen Vorhabens, Afrika der Länge nach zu Fuß zu durchqueren.
Hier liegen wir also, vor den Rangern des Nationalparks versteckt, eng aneinandergeschmiegt und dennoch vom eisigen Wind aus der Antarktis steifgefroren, und warten auf den Sonnenaufgang des 1. Januar 2001. Um das dritte Jahrtausend mit einer Wanderung zu begrüßen, um unsere lange Geschichte zu feiern.
Ein kleines Glas mit foie gras und eine Flasche Champagner wärmen unsere Herzen. Wir sind allein, unser einziger Zeuge ist das Kreuz des Südens am Himmel.
Gestern sind wir nach Robben Island gepilgert, wo Nelson Mandela 18 von 27 Jahren Haft absaß und seinen »Langen Weg zur Südafrika Freiheit« schrieb. Auf uns warten 14 000 Kilometer - ein Augenzwinkern für den großen alten Herrn.
In unserem dunklen Rattenloch erinnern wir uns - vor Kälte schlotternd - an die hektischen letzten Tage vor unserer Abreise.
Davor hatte es lange Monate anstrengender Vorbereitungen gegeben, und nun warten wir darauf, endlich loszugehen. Dabei bin ich schon jetzt fix und fertig.
Wir haben uns vorgenommen, »auf den Spuren des Menschen« am Großen Afrikanischen Grabenbruch entlangzuwandern. Vom Kap der Guten Hoffnung im äußersten Süden Afrikas bis zum See Genezareth in Israel ... Sozusagen auf der Fährte des ersten Menschen auf seinem Weg in die Welt. Weder wird es diesen ersten Menschen noch eine erste Reise konkret gegeben haben, und »Wiegen der Menschheit« existieren in fast gleicher Zahl wie Fossilienfundstätten. Die ältesten Funde aber stammen tatsächlich vom Ostafrikanischen Grabenbruch, und wir wollen sie mit unseren Schritten vereinigen; wollen auf dem Weg von Ort zu Ort die Zeit und den Raum zurückverfolgen vom modernen Menschen bis zum Australopithecus.
Neben diesen theoretischen Überlegungen wollen wir aber vor allem einfach im Herzen des heutigen Afrikas wandern. Wir möchten unser Leben mit den Afrikanern teilen, die uns für einen Abend beherbergen, uns austauschen, bevor es weitergeht, das wirkliche Afrika (v)ermessen, das jenseits der gängigen Klischees liegt, und dem düsteren Dreigestirn von Krieg, Krankheiten und Hunger entfliehen. Afrika muss doch anders sein - da liegt es vor uns. Wir wollen es kennenlernen. Fangen wir ganz einfach an!
Der Horizont beginnt sich zu verfärben. Der aufgewühlte Indische Ozean prallt weiß tosend auf den Atlantik, wir starren durch die Schießscharte, um den ersten Sonnenaufgang des Jahrtausends an diesem Ende der Welt nicht zu verpassen. Die katabatischen Winde und die brüllenden Brecher gleichen dem fulminanten »Ritt der Walküren«. Der Leuchtturm hoch oben auf dem guanoweißen Felsen des Kaps reflektiert den ersten Sonnenstrahl: Wir brechen auf gen Norden!
Die Kaphalbinsel ist mit Heidekraut bewachsen, und im grellen Licht bei kaltem, mistralähnlichem Wind fühlen wir uns ans Mittelmeer erinnert, nicht an eine Terra incognita. Inmitten der nach Ericea duftenden Fynbos-Vegetation mit verschiedensten Silberbaumgewächsen steht ein weißes Kreuz als Zeuge Vasco da Gamas, der schon 1498 hierherkam. In den Wellen tummeln sich Seelöwen.
Am späten Nachmittag erreichen wir kurz vor Simonstown den Strand von Boulders, der von unseren ersten afrikanischen Gastgebern, den Pinguinen, bevölkert ist. Diese Komiker watscheln mit Ausnahme einiger kleinerer, mit dem Schnabel ausgefochtener Territorialkämpfe friedlich zwischen den schnarchenden Seeelefanten umher, sonnen sich oder stürzen sich in die Wellen, und wir fragen uns, ob sie die Menschen oder die Menschen sie nachahmen. Wir aalen uns mit ihnen im Sand. Mit ihren schwarzweißen Uniformen scheinen sie das Farbproblem ihres Landes bereits überwunden zu haben!
Die Nacht verbringen wir in unseren Schlafsäcken bei den Pinguinen auf der Düne. Um uns herum andauerndes Geplapper ...
Das Mondlicht auf dem Ozean bewacht unseren Schlaf. Nach und nach verschwindet das Gestirn. Ein Zauber? Nein, eine Mondfinsternis. Ein leichter urmenschlicher Schauer kriecht mir den Rücken hoch: Ein gutes Omen? Ein Fluch? Die Phönizier, Odysseus, da Gama, sie alle brachten vor Antritt ihrer Reisen Opfer. Wir indessen begeben uns jeden Abend in die gastfreundliche Obhut der Afrikaner. Der Rest ist nichts als Schweiß, das Unbekannte, Kilometer und Dichtung.
Unsere ersten Afrikaner sind Pinguine. Der Mond sieht aus wie eine angebissene Hostie, und in seinem Schein versinken wir in den fiebrigen Träumen unserer ersten Nacht in Afrika.
Am nächsten Morgen machen wir uns früh auf den Weg und treffen auf einen Mann, der sich über einen Motor beugt. Wo wir wohl ein Frühstück bekämen? Ein zerzauster Kopf taucht auf, und schon sind wir zu Ei und Toast eingeladen.
Mike Hamblet ist Rentner. Aus Simbabwe und hier im Urlaub. Er bewohnt mit Pat jeweils für sechs Monate einen kleinen Bungalow und beobachtet die Wale. Eine schöne Art, der Schwarzmalerei in seinem Lande zu entkommen. Er erzählt uns vom mörderischen Wahn Mugabes, von der Wirtschaftskrise, dem kommenden Hunger, der Zeitenwende ... Er leidet mit seinen Landsleuten. Dabei waren sie mal die Reichsten in ganz Afrika. Doch der Tyrann hat alles zersört.
Wir verabreden uns in Harare. Wir haben noch so viel vor. Und wir spüren unseren ersten Muskelkater. Im Windschatten ist es glutheiß. Unser Schweiß rinnt in Strömen. Abends gelangen wir in ein Wohngebiet bei Noordhoek. Das Gebell riesiger Hunde verjagt uns. Hier mögen wir nicht fragen. Dann ein Schild: Waldarbeiter. Sie sitzen vor einer Baracke auf einer morschen Veranda. Fast hätte ich um eine Bleibe gebeten, doch angesichts ihrer von dakha, dem lokalen Rauschmittel, gelb gefärbten Augen und der galgenähnlichen Baumstämme zögere ich. Wir hauen ab. Unterwegs bedauere ich die Entscheidung. Dann stößt plötzlich einer der Arbeiter zu uns. Auf seinem T-Shirt steht Jesus is my rock. Er bietet uns einen Platz in ihrem Schlafsaal an. Sein Ton klingt vertrauenerweckend. Ein Mann mit großem Herzen. John stellt uns seine Kumpel vor: die superwilds - der große rastalockige Zebulon mit seinem Raubtierlächeln, der kleine schwarze Paulo, der heruntergekommene Mark. Sie alle sind vom Leben gezeichnet, schlicht und frustriert, doch nicht auf den Mund gefallen, den Umgang mit Weißen allerdings nicht gewohnt. Nachdem ihre erste Schüchternheit überwunden ist, kümmern sie sich rührend, machen zwei Betten für uns frei, bewachen uns in der Gemeinschaftsdusche. Sonia ist zuerst dran. Zebulon steht vor der Tür. Als ich meine Socken wasche, taucht ein Typ auf. Zebulon stoppt ihn: »Drinnen duscht eine Weiße!« Der andere fühlt sich verschaukelt: »Du hast zu viel geraucht!« Und öffnet die Tür.
Sonia stößt einen Schrei aus, der Mann schlägt die Tür zu und wendet sich erschrocken ab, als hätte er einen rosa Elefanten gesehen. Alles lacht. Der Typ bekommt ein Bier, und während Zebulon uns eine vegetarische Pizza zubereitet, erzählt er von der Religion der Rastafaris, die auf den äthiopischen Kaiser Haile Selassie zurückgeht. Als ich ihm sage, dass wir dort vorbeikommen werden, umarmt er mich herzlich.
Diese Nacht wird ordentlich geschnarcht.
Am nächsten Morgen steht die Sonne schon hoch am Himmel, als wir einen steilen Hügel erklimmen, von dem schwerer Verkehrslärm herunterschallt. Plötzlich stehen wir inmitten von Abgasen. Wir sind entsetzt. Zwei Typen wollen uns im Auto mitnehmen. Wir lehnen ab.
Es ist unsere erste Verweigerung. Hart, aber gut. Sie stärkt unsere Überzeugung, vertreibt den Zweifel. Denn den gibt es, natürlich! Warum nicht früher ankommen, die Zeit zum Ausruhen nutzen? Warum die Zeit mit Wandern verschwenden, bei dieser Bullenhitze?
Im Gehen liegen das Interesse, der Unterschied, die Kraft und der Luxus unseres Projektes. Kein Glaube ohne Zweifel. Wir müssen daran glauben. Auch wenn ich in der rechten Ferse die Anfänge einer Tendinitis spüre und Sonia ihre fünfte Blase aufsticht.
Am Abend versuchen wir unser Glück in Constantia, dem Milliardärsviertel am Kap. Sonia ist beunruhigt. Man wird uns wegjagen!
Das Tor wird elektrisch geöffnet. Unentschlossen gehen wir eine von Blumen gesäumte Allee hinauf. Und werden von einem vergnügten Riesen empfangen. Wir äußern unser Anliegen. Er bricht in ein bewunderndes Lachen aus und mutmaßt, wir seien Franzosen. »Seid ihr alle so verrückt?«
Minuten später ergehen wir uns in einem Pool à la Hollywood und schlürfen Gingerale. Morgan, der Lebensgefährte, kommt auf einem wunderschönen Vollblut angeritten. Sean und Morgan sind Innenarchitekten. Ihre Geschäfte laufen glänzend. Morgen fliegen sie nach Österreich, zum Skilaufen.
Sie empfehlen uns anstelle der Autobahn den »Contour Path«, einen Wanderweg durch den Wald um den Tafelberg herum bis nach Kapstadt.
Dann stellen sie uns ihre Familie vor: drei Dalmatiner und eine Siamkatze, sehr verspielt ...
Als wir aus dem Wasser steigen, stößt Sean einen Schrei aus. Unsere Körper sind vom Vorabend mit Flohstichen übersät! Die Haustiere kommen wie ein Wirbelwind angefegt und stoßen unsere Cocktailgläser um. In diesem Gedränge gibt es gleich ein nächstes Glas, etwas Puder auf die Stiche, eine Arnikasalbe für Pferde auf meine Waden und ein Senfkörnerfußbad für Sonia. Wer sagt hier, die Franzosen seien verrückt? Afrika zu Fuß - unsere Unternehmung lässt sich gut an.
Nach einem verschwenderischen...