1. Kapitel
Kuhdorf. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Putz rieselte von der Decke in Sarahs Haare, als sie genervt die mächtige Haustür hinter sich zuwarf. Verdammte alte Bude. In der Halle war es wie immer eiskalt. Kein Mensch konnte bei den heutigen Energiepreisen ein Schloss heizen, auch wenn es nur ein kleines war. Ihre Schritte hallten auf den farbigen Mosaiksteinen und schienen sich in der Höhe des Raums zu vervielfältigen. Sie warf ihre Tasche neben die weit geschwungene Treppe und ging hinunter in die Küche.
Der Anblick des im winterlichen Dämmerlicht dösenden großen Raums verstärkte ihre Melancholie. Schwarzweiße Fliesenmuster auf dem Boden und riesige Kupfertöpfe in den gemauerten Regalen zeugten von längst vergangenen Zeiten, als hier noch ein Heer von Küchenmädchen Mahlzeiten für 200 Gäste zubereitet hatte. Die langen Risse in den Wänden wurden vom grauen Winterlicht gnädig weich gezeichnet.
Was wollte sie hier?
Sie blickte durch das Fenster in den vom Frost entkleideten Küchengarten. Eine einsame Krähe hockte frierend auf dem alten Mirabellenbaum, der seine dürren Zweige zur Faust geballt in den weißen Himmel reckte.
Hatte sie wirklich geglaubt, in dieser ländlichen Wüste wieder zu sich selbst finden zu können? Was für ein Schwachsinn.
In der summenden Geschäftigkeit Berlins hatte sie wenigstens nicht gespürt, wie einsam sie war, einsam, ungeliebt, unattraktiv und bedeutungslos. Eine langweilige, ältliche Dorfschullehrerin, die sich mit ihrem panischen Rückzug in ihr Heimatdorf auch noch um jede Chance gebracht hatte, jemals einen passenden Besamer für die 1,3 Kinder zu finden, die ihr laut Statistik zustanden.
Im nächsten Februar wurde sie 31, sie fühlte die Kollagenfasern in ihrem Gesicht förmlich zusammenschnurren. Versuchsweise zog sie die Wangen ein und schaute in die verzerrte Spiegelfläche der Edelstahltür ihres Kühlschranks. Sie sah aus wie Der Schrei von Munch. Bekloppt. Sie kicherte und ihre Wangen sprangen in die gewohnt pralle Form zurück.
Warum war sie heute nur so deprimiert? Vielleicht kam sie vorzeitig in die Wechseljahre. Das wäre gar nicht so schlecht. Dann könnte sie die Suche nach dem ominösen Seelenverwandten hoffentlich aufgeben, der sich unweigerlich nach zwei bis drei Jahren als Fehllieferung des Universums erwies und zusammen mit seinen stinkenden Socken und faulen Ausreden im Restmüll entsorgt werden musste.
Sie würde sich eine graue Strickjacke kaufen, vielleicht noch eine Heizdecke und beim sonntäglichen Wunschkonzert zusammen mit Asta und Luise ihre Krampfadergymnastik machen.
Gemeinsam würden sie zerbröseln und verfallen, so wie das alte Herrenhaus, in dem sie lebten.
In Berlin hatte sie die Sorge um das Schlösschen, das dahinsiechte wie eine abgelegte Kurtisane, die ihre besten Jahre längst hinter sich hatte, gut verdrängen können.
Hier war sie wieder täglich mit den Launen dieser abgehalfterten Diva beschäftigt. Putz fiel von der Decke, die Wände schimmelten, Wasserhähne brachten nur rostbraune Fäden hervor und die Heizung funktionierte auch nur an guten Tagen.
Sie brauchte dringend einen Kaffee. Sarah füllte die Kaffeemaschine mit Wasser auf und sah in den Kühlschrank. Natürlich - keine Milch. Kaffee ohne Milch vertrug sie aber nicht mehr, seit ihr Bens Auswärtsspiele auf den Magen geschlagen waren. Das Schwein. Sie waren noch nicht mal verheiratet gewesen, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, sie mit seiner Assistentin zu betrügen - selbstverständlich fünf Jahre jünger als sie selbst und ebenso selbstverständlich blond, busig und bescheuert.
In der Schule lief auch alles schief. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie an die bevorstehende Weihnachtsfeier dachte. Die heutige Probe für das Theaterstück war eine Katastrophe gewesen: Die beiden Erzengel hatten sich geprügelt und die Hauptdarstellerin war gleich gar nicht in der Schule erschienen.
Karla war ein kluges kleines Mädchen. Leider litten ihre schulischen Leistungen unter dem rastlosen Leben ihrer Mutter. Hatte Claudia wieder einmal nach durchfeierter Nacht nicht rechtzeitig aus dem Bett gefunden? Das war zu Beginn des Schuljahres, als Karla mit ihrer Mutter zurück in das Dorf gezogen war, häufiger passiert, aber jetzt eigentlich schon lange nicht mehr.
Claudia - sie waren früher so eng befreundet gewesen. Gemeinsam hatten sie sich ver- und entliebt, hatten die Sportstunden geschwänzt und die Unterschriften für ihre Entschuldigungen gefälscht. Lachend hatte Claudia die heimlich auf Tante Astas alter Schreibmaschine getippten Briefe unterschrieben und voller Verachtung für die spießigen Lehrer die blonde Mähne geschüttelt, während Sarah unter der Last ihrer Schuldgefühle fast zusammengebrochen war.
Und nun war sie selbst Lehrerin und Claudia - ausgerechnet die wilde Rebellin unter ihren Freundinnen - war Mutter. Sarah hatte es kaum glauben können, als die Schulfreundin ihr Büro betreten hatte, an der Hand ein kleines Mädchen, das ihr wie aus dem bildschönen Gesicht geschnitten war.
Mit großen Erwartungen waren sie damals nach dem Ende ihrer Schulzeit ausgezogen, wild entschlossen, die Abenteuer der Großstadt in vollen Zügen zu genießen und niemals zurückzukehren. Nun, >niemals< hatte sich als ein überschaubarer Zeitraum erwiesen. Hier waren sie beide wieder, gestrandet an den provinziellen Gestaden ihres Heimatdorfes. Was - oder wer - hatte Claudia zurückgebracht? Niemals hätte Sarah geglaubt, dass ihre Freundin, so wie sie selbst, mit gesenktem Kopf zurückkehren und ihre Träume über den Haufen werfen könnte.
Aber war es überhaupt so gewesen? Claudia hatte nichts gesagt, nicht die kleinste Andeutung über ihre Zeit in München war über ihre schönen Lippen gekommen. Bedeutungslosen Smalltalk hatten sie geführt, der mit dem ungehemmten Austausch ihrer Teenagergeheimnisse nicht mehr das Geringste zu tun hatte. Traurig.
Warum nur hatten sie sich so aus den Augen verloren? Eigentlich unverständlich. Sicher, sie war zusammen mit Filo zum Studium nach Berlin gegangen und Claudia zwei Jahre später nach München, um dort ihre Modelkarriere zu starten. Drei, vier Briefe noch hatte sie an die Freundin geschrieben, aber Claudia hatte nie geantwortet. Von Sarah vorgeschlagene Treffen waren abgelehnt, verschoben, vergessen worden. Ihre über viele Jahre so enge Freundschaft war in Enttäuschung und dann in Bedeutungslosigkeit versickert.
Seltsam eigentlich, dass sie überhaupt Freundinnen geworden waren, unterschiedlich wie sie waren. Claudia, der fleischgewordene Männertraum, ruhelos und aufsässig, und sie selbst, grüblerisch und stets voller Sorge, nicht gut genug zu sein.
100 Jahre schienen verstrichen seit ihrer letzten Begegnung kurz nach Sarahs Abiball, aber Claudia war immer noch genauso atemberaubend schön wie damals. Wie oft hatte Sarah sich früher gewünscht, so auszusehen!
Beneidenswert, morgens aufstehen und ein makelloses Gesicht im Spiegel vorfinden zu können. Wenn sie so ausgesehen hätte wie ihre Freundin, dann hätte Ben vielleicht nicht . »Hör auf«, sagte sie laut. »Vergiss den Mistkerl und kauf dir die Strickjacke!«
Vielleicht ging sie nachher mal zu Claudia und erkundigte sich nach Karla. Oder war das zu penetrant? Bestimmt hatte die Kleine ja nur Bauchschmerzen oder einen Schnupfen. Wahrscheinlich würde Claudia sie wieder mit diesem gewissen Blick mustern, der mit ironischem Befremden zu fragen schien: Wo ist dein Problem?
Das hatte sie schon damals gehasst, diese amüsierte Gereiztheit, mit der Claudia ihre zahlreichen Ängste und Sorgen weggewischt hatte.
Heute verbarg Sarah ihre Unsicherheit hinter einer Maske aus professioneller Tüchtigkeit. Aber sie konnte ja kaum einer Frau gegenüber, mit der sie heimlich auf der Schultoilette geraucht hatte, die kompetente Schulleiterin herauskehren. Claudia würde sich totlachen.
Hier nahm sie doch sowieso niemand ernst als neue Chefin der kleinen Dorfschule. Wie denn auch? Sie nahm sich ja nicht mal selbst ernst. Alle kannten sie schließlich noch als kraushaarige Jugendliche, nichts als Pickel, X-Beine und Komplexe. Lediglich die Pickel waren inzwischen verschwunden, immerhin. Man sollte auch für Kleinigkeiten dankbar sein.
Aber was, wenn Karla nun ernsthaft krank war? Dann ade, du schönes Weihnachtsmärchen! Aber warum hatte Claudia dann nicht in der Schule angerufen?
*
Seufzend verabschiedete sich Hauptkommissar Giovanni Beck von der angenehmen Vorstellung eines leichten Mittagsimbisses beim Italiener. »Wo genau ist sie gefunden worden?«
»In der Nähe vom Nights«, schnarrte die Stimme seines Kollegen aus dem Lautsprecher des Handys, »bei der Bushaltestelle. Wahrscheinlich hat sie auf den Nachtbus gewartet.«
»Ich komme.« Beck legte auf und gab Gas. Das Nights war die größte Diskothek in Braunschweig, weit draußen im Industriegebiet im Norden der Stadt. Es gab dort ständig irgendwelchen Ärger, meistens mit Drogengeschäften. Einen Mord hatte es seines Wissens dort noch nicht gegeben, aber er war ja auch noch nicht lange in der Stadt.
Er blinkte und bog auf die Stadtautobahn, die wie immer um die Mittagszeit relativ leer und befahrbar war. Die Braunschweiger klagten zwar ständig über die vielen Staus, aber im Vergleich zu Berlin war das hier geradezu ein Paradies für Autofahrer.
Sein Magen knurrte und er wühlte im Handschuhfach nach etwas Essbarem, fand jedoch nur ein paar uralte Pfefferminzpastillen, von denen er sich resigniert eine in den Mund...